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IV. Ungeschriebene Rechtsquellen 1. Ungeschriebenes Verfassungsrecht?

2. Allgemeine Rechtsgrundsätze

a) Begriff

Allgemeine Rechtsgrundsätze sind ebenfalls generell-abstrakte Normen, die wegen ihrer allgemeinen Tragweite als geschriebenes oder unge­

schriebenes Recht in allen Rechtsgebieten, also auch im Verwaltungs­

recht gelten194. Diese Grundsätze sind vorwiegend im Privatrecht, aber teilweise auch im öffentlichen Recht kodifiziert. Sie gelten als unge­

schriebene Grundsätze. Konsequenterweise darf man nicht von analoger Geltung privatrechtlicher Normen im öffentlichen Recht sprechen, auch wenn das Privatrecht zur Beurteilung offener Fragen des öffentlichen Rechts herangezogen wird195. Allgemeine Rechtsgrundsätze dienen der Ausfüllung von Lücken des geschriebenen Rechts. Im Stufenbau der Rechtsordnung stehen sie regelmässig auf der Rangstufe eines formellen Gesetzes. Im folgenden werden einige allgemeine Rechtsgrundsätze bei­

spielhaft vorgestellt.

b) Rückforderung einer grundlos erbrachten Leistung

Erbringt der Staat oder der einzelne eine öffentlichrechtliche Geldlei­

stung grundlos, sei es weil der Zahlungsgrund nachträglich weggefallen ist, oder sei es, weil der Zahlungsgrund gar nie bestanden hat, so kann diese Leistung zurückgefordert werden. Vereinzelt bestehen besondere öffentlichrechtliche Bestimmungen196. Soweit solche Bestimmungen fehlen, gilt die Rückforderung als allgemeiner Rechtsgrundsatz des öf­

fentlichen Rechts. Dieser Grundsatz, der für das Privatrecht in § 1431 und 1437 ABGB ausgesprochen ist, gilt auch im Bereich des öffentlichen Rechts, selbst wenn er in der einschlägigen Gesetzgebung nicht aus­

drücklich normiert wird197.

194 Vgl. Adamovich/Funk, S. 298 f.; Häfelin/Müller Nr. 142. Das Urteil vom 15.2.1985, StGH 1984/2/V, LES 1985, S. 72 (75) anerkennt allgemeine Rechtsgrundsätze als Rechtsquellen.

1,5 Vgl. VB1 1994/35, Entscheidung vom 28.9.1994, nicht veröffentlicht, S. 6; Häfelin/

Müller Nr. 143.

196 Vgl. z.B. StGH 1972/4, Urteil vom 11.12.1972, ELG 1973-78, S. 346 (349).

1,7 Vgl. StGH 1972/4, Urteil vom 11.12.1972, ELG 1973-78, S. 346 (349); für Österreich vgl. Antoniolli/Koja, S. 97 m.H.; für die Schweiz vgl. BGE 88 I 216 f.; BGE 105 la 217, ETH-Rat, Entscheid vom 30.5.1994, ZB1. 1995, S. 83 ff.

c) Verjährung

Die Verwaltungsbeschwerdeinstanz hat für das liechtensteinische Ver­

waltungsrecht die Rechtsauffassung der österreichischen Höchstge­

richte übernommen, wonach öffentlichrechtliche Ansprüche des Ge­

meinwesens oder des einzelnen nur dann verjähren, wenn dies im öf­

fentlichen Recht vorgesehen ist198. Die §§ 1455 ff. ABGB sind daher nicht einmal analog anwendbar199. Nur falls das öffentliche Recht Ver­

jährungsbestimmungen aufstellt, darf ergänzend auf das ABGB zurück­

gegriffen werden200. Im Liechtensteinischen Verwaltungsrecht hat das Steuergesetz derartige Verjährungsbestimmungen aufgestellt. Nach Art.

20 Abs. 3 SteG ist die Verjährung während der Dauer eines Rechts­

mittelverfahrens gehemmt. Die Bestimmung des Art. 20 Abs. 2 SteG über die Unterbrechung der Verjährung bezieht sich nur auf Fälle, in denen kein durch den Steuerschuldner eingeleitetes Rechtsmittelver­

fahren läuft, sondern die Feststellung der Steuerpflicht oder die Gel­

tendmachung der Steuerforderung durch die Steuerbehörden in über­

mässige Länge gezogen wird201. Im übrigen ist bei Art. 20 Abs. 3 SteG unklar, welche absolute Verjährungsfrist gilt, wenn die Verjährung für die Dauer eines Rechtsmittelverfahrens gehemmt wird. Der Staats­

gerichtshof hat die Frage offengelassen202.

Die grundsätzliche Unverjährbarkeit öffentlichrechtlicher Geld- und anderer Forderungen ist problematisch und sollte aufgegeben werden.

In der Schweiz anerkennt die Rechtsprechung die Verjährung als allge­

meinen Rechtsgrundsatz, der selbst dann gilt, wenn entsprechende öffentliche Vorschriften fehlen203. Dieser Grundsatz dient der Rechts­

sicherheit, indem der Zeitablauf öffentlichrechtliche Forderungen zum Erlöschen bringt bzw. deren Durchsetzbarkeit hemmt. Nicht verjährbar

198 Vgl. VBI 1995/41, Entscheidung vom 6.12.1995, S. 10-12, nicht veröffentlicht.

"'Vgl. VwGH vom 4.5.1956, ÖJZ 1957, 20; VfGH vom 15.10.1970, JBI. 1971, S. 619;

VfGH vom 10.6.1977, ÖJZ 1978, S. 360.

200 Vgl. VwGH vom 4.5.1956, ÖJZ 1957, S. 20

201 Vgl. StGH 1985/10, Urteil vom 29.10.1986, LES 1987, S. 97 (99).

202 Vgl. StGH 1992/13-15, Urteil vom 23.6.1995, LES 1996, S. 10 (20).

203 Vgl. Entscheid des ETH-Rats vom 30.5.1994, ZB1. 1995, S. 83 ff.; BGE 116 la 464; 112 Ia 262 m.H.

sind einzig Pflichten, die sich aus polizeilichen Rechtsnormen ergeben.

Der Schutz der Polizeigüter ist ein derart überwiegendes öffentliches In­

teresse, dass das Gemeinwesen keine Verjährung zulassen kann204.

d) Aufrechnung (Kompensation)

Fehlen spezielle Vorschriften über die Kompensation im öffentlichen Recht, so können die Vorschriften der §§ 1438 ff. ABGB über die Auf­

rechnung analog herangezogen werden205. Wichtigste Voraussetzung der Aufrechnung ist die Erklärung gegenüber dem Aufrechnungsgegner so7

wie die Fälligkeit und Gleichartigkeit der Forderung206. Die österreichi­

sche Rechtsprechung lässt die Kompensation bei unterschiedlichen Rechtswegen zur Verfolgung der Forderungen - ungeachtet der übrigen Voraussetzungen der §§ 1438 ff. ABGB - nicht zu207. Das gilt auch für das liechtensteinische Verwaltungsrecht. Die in diesem Punkt gegensätz­

liche schweizerische Rechtsprechung208 kann nicht auf die liechtensteini­

schen Verhältnisse übertragen werden.

e) Verzugszinsen

Im öffentlichen Recht gilt ferner der in §§ 1333 und 1334 ABGB ausge­

drückte allgemeine Rechtsgrundsatz, wonach der Schuldner, der sich mit seiner Leistung in Verzug befindet, Verzugszinsen zu entrichten hat209.

m Vgl. BGE 105 Ib 268, 114 Ib 54.

205 Vgl. VwGH 24.3.1988, Zeitschrift für Verwaltung, Beilage 1988, Nr. 2299; VvvGH 18.6.1993, Österreichische Steuer-Zeitung, Beilage 1994, S. 120; VwGH vom 7.11.1986, ÖJZ 1987, S. 604 f.

206 Vgl. VwGH vom 7.11.1986, ÖJZ 1987, S. 604 f.

207 Vgl. VwGH vom 7.11.1986, ÖJZ 1987, S. 604 f.

208 Vgl. BGE 91 I 2 93.

209 Vgl. StGH 1972/4, Urteil vom 11.12.1972, ELG 1973-78, S. 346 (349); wobei der Staats­

gerichtshof zu Unrecht von einer Verzinsung abgesehen hatte, weil der Gläubiger ein Verschulden für die Zahlung trage. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat ebenso festgehalten, dass ein Anspruch auf Verzugszinsen gemäss § 1334 ABGB bei öffentlichrechtlichen Schuldverhältnissen besteht, soweit nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt sei, VfGH 26.6.1985, A 2/83, vgl. Adamovich/Funk, S. 299. Auch in Öster­

reich ist die Verzugszinspflicht wohl vom Verfassungsgerichtshof, nicht aber vom Ver­

waltungsgerichtshof anerkannt, vgl. Antoniolli/Koja, S. 98; in der Schweiz ist die Ver­

zugszinspflicht allgemein anerkannt, vgl. Häfelin/Müller Nr. 149; BGE 93 I 389, ETH-Rat vom 30.5.1994, ZB1. 1995, S. 83.

Ungeschriebene Rechtsquellen

Voraussetzung ist allerdings eine Mahnung durch den Gläubiger210. Die Verzugszinspflicht ist mitunter spezialgesetzlich geregelt. So anerkennt Art. 22 Abs. 1 SteG für zuviel bezahlte Steuern einen Verzugszinssatz von fünf Prozent innerhalb der letzten fünf Jahre2". Ferner anerkennt Art. 28 Abs. 3 LVG eine allgemeine Verzugszinspflicht von fünf Prozent bereits ab dem Fälligkeitstag. Damit scheint die Verzugszinspflicht ein geschriebener Rechtsgrundsatz des liechtensteinischen Verwaltungs­

rechts zu sein. Der Grundsatz ist indes in Art. 28 Abs. 3 LVG an einer ungewöhnlichen Gesetzesstelle lokalisiert. Fragwürdig ist auch der Be­

ginn des Zinsenlaufs mit dem Tag der Fälligkeit. Die Praxis müsste hier korrigierend wirken und den Zinsenlauf erst mit der Mahnung beginnen lassen, so wie es der allgemeine Rechtsgrundsatz vorsieht.

f) Verzicht auf Rechtsansprüche

Es ist möglich, auf Ansprüche des öffentlichen Rechts zu verzichten.

Vorausgesetzt ist dabei, dass sich aus Sondervorschriften keine ab­

weichenden Regelungen ergeben. In diesem Sinne gestattet das Landes-verwaltungspflegegesetz ausdrücklich den Verzicht auf eine mündliche Verhandlung sowie auf die Einlegung des Rechtsmittels der Be­

schwerde212. Dieser Verzicht ist unwiderruflich, es sei denn, eine Behörde hätte beim Verzichtenden einen Rechtsirrtum verursacht213. Die österrei­

chische Rechtsprechung gestattet sogar den Verzicht auf Ansprüche, die noch gar nicht entstanden sind214. Dieser Verzicht ist allerdings nur bei Ansprüchen möglich, die ihrer Natur nach vorab verzichtbar sind. Dies ist bei Grundrechten etwa nicht möglich; auf Grundrechte als Ganzes kann nicht verzichtet werden. Dagegen ist es sehr wohl möglich, auf ein­

zelne konkrete Ansprüche aus Grundrechten in einer konkreten Situa­

tion zu verzichten. Damit wird dem Gemeinwesen ermöglicht, eine

210 Vgl. für die Schweiz BGE 93 I 3 89, ETH-Rat vom 30.5.1994, ZB1. 1995, S. 83.

2,1 Vgl. StGH 1972/4, Urteil vom 11.12.1972, ELG 1973-78, S. 346 (349). Der Grundsatz gelte auch für die Rückzahlung einer nicht geschuldeten Steuer, d.h. als allgemeiner Rechtsgrundsatz.

212 Vgl. Art. 41 Abs. 2 und Art. 96 Abs. 4 LVG.

213 Vgl. StGH 1981/15, Beschluss vom 9.12.1981, LES 1982, S. 169 ff.

214 Vgl. Antoniolli/Koja, S. 9, Anm. 17 m.H.

Grundrechtsposition, die ohne Verzicht bestehen würde, nicht beachten zu müssen215. So kann beispielsweise ein Enteigneter in einem konkreten Fall auf die Enteignungsentschädigung verzichten.

g) Grundsatz der Vertragstreue

Beim Grundsatz der Vertragstreue (pacta sunt servanda) handelt es sich um einen fundamentalen allgemeinen Rechtsgrundsatz216, der sowohl im Landesrecht wie im Völkerrecht allgemeine Gültigkeit beansprucht. Er gilt insbesondere auch für die öffentlichrechtlichen Verträge217.

h) Weitere allgemeine Rechtsgrundsätze

Der Abschluss öffentlichrechtlicher Verträge kann je nach Sachlage zahlreiche Rechtsfragen aufwerfen, die im öffentlichen Recht nicht aus­

drücklich geregelt sind. In diesem Fall sind die einschlägigen Regelun­

gen des Privatrechts heranzuziehen. So verweist beispielsweise Art. 31 Abs. 3 LVG im Hinblick auf die Partei- und Handlungsfähigkeit auf das bürgerliche Recht. Auch in den vielen Fragen, wo ein derartiger aus­

drücklicher Verweis auf das Privatrecht fehlt, kann die privatrechtliche Regelung entweder als allgemeiner Rechtsgrundsatz oder aber analog herangezogen werden, so über die Willenserklärung § 869 ABGB, über die Willensmängel §§ 870 ff. ABGB oder über die Abänderung von Ver­

trägen § 1375 ABGB218.

3. Gewohnheitsrecht

Das geschriebene Recht enthält manchmal Lücken, die zunächst durch Gewohnheitsrecht ausgefüllt werden. Dieses beruht auf regelmässiger, langer und ununterbrochener Übung. Entscheidend ist die

Rechtsüber-215 Ähnl. Hangartner I, S. 25.

216 Vgl. StGH 1984/2/V, Urteil vom 20.11.1990, LES 1992, S. 4 (9).

217 Vgl. dazu S. 134 ff.

218 Vgl. Beck, Enteignungsrecht, S. 141 ff. m.w.H.

sachliche Gründe abgewichen werden225. Die Praxis der richterlichen Behörden, namentlich des Staatsgerichtshofes und der Verwaltungs­

beschwerdeinstanz, hat eine besondere Autorität und steht als Quelle des "Richterrechts" im Vordergrund. Vielfach erfüllt die höchst­

richterliche Rechtsprechung de facto eine dem Gesetz ähnliche Funk­

tion226.

Die Verwaltungsbeschwerdeinstanz ist sich dieses Bindungseffekts ihrer früheren Entscheide bewusst. In einem "delikaten", ausländer­

rechtlichen Fall hatte sie sich ausdrücklich davon distanziert: "In die­

sem Sinne muss betont werden, dass die vorliegende Entscheidung an­

gesichts sämtlicher in Erwägung gezogener Tatsachen gefällt wurde und deshalb nicht als Grundsatzentscheidung heranzuziehen ist"227. Den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts und den Verwaltungs­

behörden ist es möglich, sich unter Hinweis auf die besonderen Um­

stände des Einzelfalls der Bindungswirkung der Präjudizien zu entzie­

hen.

Die Praxis der Gerichte wird amtlich publiziert, soweit sie von allgemeinem Interesse ist228. In Liechtenstein werden die wichtigen Entscheide sämtlicher Gerichtshöfe in der Liechtensteinischen Ent­

scheidungssammlung (LES) veröffentlicht. Die LES erscheint seit 1980 viermal jährlich. Vorher bestanden seit 1946 die in Mehr­

jahresbänden zusammengefassten Entscheidungen der Liechten­

steinischen Gerichtshöfe (ELG). Ausserdem veröffentlicht auch die liechtensteinische Zeitschrift Jus & News ausgewählte Gerichtsent­

scheide.

225 Vgl. VBI 1996/9, Entscheidung vom 3.4.1996, LES 1996, S. 90 (91).

226 Vgl. Adamovich/Funk, S. 252.

227 Vgl. VBI 1986/6, Entscheidung vom 12.11.1986, LES 1987, S. 56 (58).

228 Art. 43 Abs. 3 StGHG verlangt, dass die Regierung die Entscheidungen des Staatsge­

richtshofes alljährlich ganz oder teilweise zum Abdruck bringt.

V. Z eitlicher und sachlicher Geltungsbereich

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