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5.2 Regionale Mobilität in der VR China - Beschränkungen und

5.2.2 Die Wanderungsrichtung

Die interregionalen Wanderungsströme gingen nach 1949 zum einen aus den östli-chen4 Provinzen in die zentralen Provinzen und umgekehrt, und zum anderen aus den östlichen und zentralen Provinzen in die nord- und südwestlichen Provinzen (ZHENG, 1994, 91). Dabei war die Hauptrichtung bis 1978 westwärts gerichtet,

4. Nach der Definition von ZHENG (1994, 89-91) gehören die Provinzen Liaoning, Hebei, Shandong, Jiangsu, Zhejiang, Fujian, Guangdong und Hainan, sowie die drei Städte Beijing, Tianjin und Shanghai zu den östlichen Provinzen. Zu den zentralen Provinzen zählen Heilongjiang, Jilin, Innere Mongolei, Shanxi, Henan, Anhui, Hebei, Hunan und Jiangxi. Der Nordwesten wird aus Shannxi, Gansu, Ningxia, Qinghai und Xinjiang gebildet, während der Südwesten aus Sichuan, Guangxi, Guizhou, Yunnan und Tibet besteht.

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während sie seit 1978 ostwärts gerichtet ist (ZHENG, 1994, 93). Im Zeitraum von 1985 bis 1990 waren zwei Drittel der Wanderungen intraregional, fanden also inner-halb der Provinzgrenzen statt. Ein Drittel der Wanderungen war interregional und ging damit über die Provinzgrenzen hinaus (BANNISTER, 1997a, 77).

MA (1994b, 193) unterscheidet seit Gründung der VR China drei Phasen, die durch eine unterschiedliche Mobilitätspolitik gekennzeichnet sind. Die erste Phase reicht von 1949-1957 und ist durch freie Wanderungen zwischen Stadt und Land gekenn-zeichnet. Zwar musste auch in dieser Zeit jede Wanderung registriert werden, doch gab es keine Restriktionen hinsichtlich der Zielregionen oder der wandernden Perso-nen. Die zweite Phase ist durch die Einschränkung von Wanderungen und die strenge Kontrolle derselben gekennzeichnet und dauerte von 1958-1984. Seit 1984 spricht er von einer halb eingeschränkten und halb freien Migrationspolitik, die bestimmte Wanderungen erlaubt, andere dagegen einschränkt (z.B. besonders die Migrationen in Städte mit mehr als einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern). LI & JIANG (1991, 129) bezeichnen die gegenwärtige Migrationspolitik auch als „one-way mi-gration policy“, bei der Wanderungen vom ländlichen Raum in die Städte, von klei-nen in große Städte und von Inlands- in Küstenprovinzen streng kontrolliert und ein-geschränkt sind. Dagegen sind Migrationen in die jeweils andere Richtung durchaus erlaubt und oft sogar erwünscht (vgl. auch BANNISTER, 1987, 229).

Alle drei Phasen der Mobilitätspolitik lassen sich nach MA (1994b, 195) auch nach der vorherrschenden Wanderungsrichtung unterscheiden. In der ersten Phase gingen die zwei Hauptrichtungen der Wanderungen zum einen vom ländlichen Raum in die Städte und zum anderen sehr traditionell vom ländlichen Raum in die Grenzregionen.

Für die zweite Phase war es dagegen typisch, dass der große Strom der Menschen von Städten in den ländlichen Raum ging und weiterhin Bewohner von ländlichen Räu-men in Grenzregionen wanderten. In dieser Phase spielte die Verschickung von städ-tischen Jugendlichen aufs Land die entscheidende Rolle (BANNISTER, 1987, 307ff). Nur sehr wenige Menschen wanderten zur Aufnahme von Arbeit in Richtung der Städte. In der dritten Phase drehte sich ohne staatliches Zutun die Richtung um und die Wanderungen erfolgten von den ländlichen Räumen in die Städte, wobei es immer in die nächstgrößere Stadt ging. Zu diesen Migrationen gehören auch diejeni-gen, die in der vorherigen Phase aufs Land geschickt wurden und wieder zurückkehr-ten. Diese „return migration“ (BANNISTER, 1987, 310) war in fast allen Fällen po-litisch weder erlaubt noch erwünscht, fand aber doch in sehr großem Ausmaß statt (vgl. auch MA, 1994b, 195; YAN, 1991, 221ff).

Die Verschickung von städtischen Jugendlichen und auch Erwachsenen in die länd-lichen Räume ist ein einzigartiges Phänomen der Kulturrevolution, das keine be-kannte Parallelität in anderen Ländern kennt. Diese von der Regierung bestimmte Mobilitätsform kehrt die bekannten Wanderungen vom Land in die Stadt komplett um und sorgt damit für eine Entwicklung, die entgegen internationalen Trends ver-läuft. Die in den Städten geborenen Jugendlichen wurden in ländliche Räume ihrer Heimatprovinzen, manchmal aber auch in entfernte Grenzregionen geschickt. Dort

sollte durch harte Arbeit und durch Entbehrungen aller Art ihr revolutionärer Enthu-siasmus gestärkt werden. Auf dem Land, so wurde immer wieder propagiert, könnten sie ihrem Land und sich selbst am besten dienen (BANNISTER, 1987, 307). Die Ju-gendlichen hatten keine Wahl, weder ob sie migrieren wollten noch wohin sie gehen wollten. In den meisten Fällen wurden Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren ver-schickt, die noch nicht verheiratet waren. Häufig wurden auch ganze Klassen in die gleiche Region geschickt, damit sie sich gegenseitig behilflich sein konnten. Her-kunftsstädte waren hauptsächlich Beijing, Shanghai, Tianjin, Nanjing, Hangzhou, Wuhan, Chengdu und Chongqing. Zielprovinzen waren Shanxi, Innere Mongolei, Heilongjiang, Yunnan, Shaanxi und Xinjiang (BANNISTER, 1987, 308). Die mei-sten der aufs Land verschickten Jugendlichen wollten wieder zurück in die Städte kehren, doch dies war ihnen nicht gestattet. 1981 wollten beispielsweise mehr als 3000 Menschen aus Xinjiang nach Shanghai zurückkehren, doch die Stadt schickte sie wieder zurück5 (BANNISTER, 1987, 310).

Die massiven intraregionalen Wanderungen, die sich seit den 80er Jahren in der VR China beobachten lassen, sind die Antwort auf weitreichende soziale Veränderungen des Landes (DAY, 1994, 4). Dabei nimmt die Zahl der Wanderungen, anders als in anderen Ländern, nicht mit der Größe des Orts zu, sondern nimmt aufgrund der Po-litik "control the growth of large cities, rationally develop medium-sized cities and actively develop small cities and towns" (zitiert nach WANG, 1994, 28) mit der Grö-ße der Orte ab. Dies gilt sowohl für Frauen wie auch für Männer. Nur bei den Wan-derungen in die ländlichen Räume stimmt das Muster mit denen anderer Länder über-ein, dass die Zahl der Wanderungen mit der Größe des Orts zunimmt.

Auf der Suche nach den Ursachen für die beobachteten Mobilitätsmuster werden von verschiedenen Autorinnen und Autoren unterschiedliche Faktoren angeführt. So nennt ZHENG (1994, 97ff) drei Faktoren als ausschlaggebend, nämlich das unter-schiedliche Entwicklungsniveau der Regionen, was sich in deutlichen Gehaltsunter-schieden manifestiert, als zweites die regionale Verteilung von Städten und Bevölke-rung innerhalb des Landes und als dritten Faktor die staatliche Politik. Zur chinesischen Besonderheit zählen vor allem zwei Dinge, die als Erklärung für die un-terschiedlichen Mobilitätsmuster in der VR China im Vergleich zu anderen Industrie-und Entwicklungsländern geführt haben: Zum einen ist die staatliche Kontrolle der Wanderungen im Hinblick auf Zahl, Richtung und Zusammensetzung der Wandern-den wesentlich größer und zum anderen wurde die Land-Stadt Wanderung so weit eingeschränkt, dass 1976 18% der chinesischen Bevölkerung in Städten lebten, ge-nauso viele wie zehn Jahre zuvor (MA, 1994b, 204). Dies wurde zuvor weltweit noch nicht beobachtet und läuft allen Trends der sozialen Entwicklung und der Urbanisie-rung anderer Länder entgegen. Eine weitere Besonderheit ist die Tatsache, dass Fa-milienangehörige nicht mitwandern dürfen und zum Teil auch nicht können, da sie sonst das Anrecht zur Landpacht verlieren. Dies liefert die Erklärung für den großen

5. Zu den Auswirkungen, die die Landverschickung sowohl auf die Herkunfts- wie auch auf die Zielregio-nen hatte, vergleiche BANNISTER (1987, 311-312).

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Anteil an temporären Wanderungen, bei denen die Migrantinnen und Migranten ih-ren Wohnsitz nicht endgültig verlegen, sondern nach wenigen bis mehreih-ren Jahih-ren wieder in ihren Ausgangsort zurückkehren (BANNISTER, 1997a, 74).

Der chinesischen Regierung ist es mit ihrer Migrations- und Urbanisierungspolitik durchaus gelungen, das Wachstum der großen Städte zu hemmen und das der kleine-ren Städte zu fördern. Die große Herausforderung bzw. die große Unbekannte für die Zukunft ist die Frage, wie sich die Migrantinnen und Migranten verhalten werden, nachdem sie einige Zeit in Kleinstädten und mittleren Städten gelebt haben. Werden sie sich zu einer dauerhaften Niederlassung entscheiden, oder werden sie schrittweise weiter in Richtung der Großstädte wandern und sich am Ende in den größten Städten des Landes wiederfinden? LAQUIAN bemerkt dazu, dass die Migrationsforschung hier eine Antwort hat, die die Wanderung in die Großstädte nahelegt. Doch gleich-zeitig unterscheiden sich fast alle Migrationsmuster in China von denen anderer Ent-wicklungs- und Industrienationen, so dass internationale Forschungsergebnisse hier keine große Relevanz haben dürften. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich das Ver-halten der Wandernden durch staatliche Eingriffe (z.B. Haushaltsregistrierung) ver-ändern lässt. Es wird deshalb interessant sein zu beobachten, inwiefern die wirt-schaftliche Entwicklung in der VR China solche staatlichen Maßnahmen außer Kraft setzen und das Verhalten der Wandernden beeinflussen wird (LAQUIAN, 1991, 263).