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E. Vom Gesetzeswächter zum Urteilswächter

I. Der Wächter der Gesetze

In den preußischen Gesetzgebungsarbeiten hatte man den „Wächter der Gesetze“

zunächst als legitimierenden Titel für den Staatsanwalt entwickelt. Ob man damit auf eine Äußerung eines rheinpfälzischen Juristen766 zurückgriff? Der Begriff hatte eine

„erstaunliche Karriere“767 in den preußischen Gesetzgebungsarbeiten hinter sich und war zuletzt von Heinrich Friedberg in dem 1845 vorgelegten Entwurf zum Gesetz

760 Lahusen (2011), 103.

761 Krause (2008), 100.

762 Dazu Lahusen (2011), 100 f.; auch Fn. 24.

763 Codex Fridericianus, 1784, Teil I Titel 1 § 4: „Wer ohne Prüfung für eine Ratsstelle an einem Landesjustizkollegium ernannt wird, soll ohne weiteres entlassen und auf das Doppelte seiner Bezüge in Anspruch genommen werden“.

764 Krause (2008), 100, dort insb. Fn. 17.

765 Krause (2008), 101.

vom 17. Juli 1846 eingebracht worden.768 Er sollte die legale, bei jeder Gesetzesübertretung indizierte Strafverfolgung anklingen lassen. Zum anderen bedeutete er für den Staatsanwalt, dass dieser „sowohl für als auch gegen den Angeklagten auftreten solle“.769 Damit habe sich eine Interpretation durchgesetzt, die über den Staatsanwalt den „Eindruck von Objektivität und Rechtstreue vermittelte.“770 Die politische Einflussnahme der preußischen Regierung auf die Strafverfolgung sollte durch den „Wächter der Gesetze“, der dem Objektivitätspostulat verschrieben war,771 verschwinden. Damit trug man dem Staatsanwalt aber auch die richterlichen Tugenden der Spätaufklärung auf – „das Ideal des gesetzesgebundenen, des neutralen, des willkürfreien Richters“772 – und man fixierte ihn auf das Strafverfahren.

Unmittelbar war der preußische „Wächter der Gesetze“ als Versuch der Staatsregierung, potentieller Kritik entgegenzutreten, freilich recht eindimensional und leicht zu durchschauen773.

Mit diesem schlichten Propagandabild versehen, waren es die Vertreter der Staatsanwaltschaft selbst, die sich der Öffentlichkeit erklären mussten. Ebenso wie Staatsanwalt Wentzel im Polenprozess nutzte etwas später auch ein Vertreter der bayerischen Behörde seinen ersten Verhandlungstermin als Plattform für instruktive obiter dicta: Heinrich Lotz hielt in der ersten Schwurgerichtssitzung in Würzburg am 12. April 1849 eine „Rede“774, in der er sich und seine Aufgaben dem Publikum vorstellte. Lotz war zu dieser Zeit noch als Appellationsgerichtsrat tituliert, hatte den Posten des Staatsanwalts übertragen bekommen und wünschte sich nun an seinem ersten öffentlichen Arbeitstag selbst Glück bei seinem Vorhaben: „Möchte es mir als

766 Dölemeyer (2005), 97: Philipp Jakob Siebenpfeiffer habe (in: Über die Frage unsrer Zeit in Beziehung auf Gerechtigkeitspflege, Heidelberg 1823; 128) „soweit […] ersichtlich erstmals den später vielzitierten Ausdruck 'Wächter der Gesetze'“ gebraucht, um damit den Staatsanwalt als einen „Vertreter des reinen Staatsinteresses“ zu beschreiben und gegenüber dem „Fiscal der Krone“ und dem Beamten „der Regierung“ abzugrenzen.

767 Collin (2000), 81. Für eine Begriffsgenese sei auch auf die 'Conservatori di leggi' hingewiesen, die im Stadtstaat Florenz während der Renaissance in der Magistratur arbeiteten; auf den 'Nomophylax', der im spätbyzantinischen Reich einer obrigkeitlichen Rechtsschule vorstand;

und auf die 'Nomophylakes', die im klassischen Griechenland etwa die Strafvollstreckung beaufsichtigten.

768 Collin (2000), 404.

769 Collin (2000), 75; auch 77; 81.

770 Collin (2000), 404. Später wurde der Begriff „Gesetzeswächter“ immer wieder anders interpretiert und flexibel etwa zur Begründung staatsanwaltschaftlicher „Kontrollaufgaben gegenüber den Gerichten“ eingesetzt; s. Collin (2000), 114 f.

771 Collin (2000), 109.

772 Nochmals Ogorek (1986/2008), 292 f.

773 s. Collin (2000), 92.

774 Diese „Rede“ wurde auch abgedruckt in der Neuen Würzburger Zeitung (Nr. 105 v. 16. April 1849, Glosse „Gerichtszeitung“, 1-2).

Neuling in diesem Fache gelingen, mein glühendes Gefühl für die Herrschaft des Gesetzes auch in die Außenwelt übertragen zu können“.775 Die staatsanwaltschaftliche Kompetenz für das Strafrecht stand damals noch unter Vorbehalt776 und „das heilige Palladium der verfassungsmäßigen Unabhängigkeit der Gerichte“777 war gerade erst gewonnen und drohte doch schon wieder zu zerrinnen.

Angesichts dieser labilen Ausgangslage pries Lotz besonders ausdrucksstark den Staatsanwalt als „Wächter des Gesetzes“ an. Damit griff er zunächst auf das preußische Legitimationsbild zurück. Allerdings war der „wichtige Beruf des Staatsanwaltes“778 bei Lotz facettenreicher, als es der preußische Gesetzeswächter zu suggerieren vermochte. Denn nach Lotz hatte der Staatsanwalt als Wächter der Gesetze zu bewirken, „daß das Gesetz immer und überall Geltung habe“.779 In diesem Sinne erschien der Staatsanwalt zunächst als nicht weiter spezifiziertes Überwachungsorgan; nur konsequent, dass ihm Lotz wegen dieser Aufgabe auch die

„Aufsicht auf die gesammte Straf-Rechtspflege“ zugestand.780 Freilich fing damit der Gesetzeswächter an zu schillern. Seine Aufgabe, die absolute Geltung der Gesetze durch eine Aufsicht über die Strafrechtspflege zu garantieren, fügte dem preußischen Propagandabild kontrollierende Nuancen hinzu und verschob es damit vom neutralen Richterbild in Richtung offensichtlicher Politik.

„Das Gesetz muß herrschen! Ohne Gesetz keine Ordnung, sondern […] Verwirrung“, rief Lotz in Würzburg zu seinem Dogma aus. Er schloss dadurch zum absoluten politischen Herrschaftsanspruch auf, der sich inzwischen allerdings auf einen gesetzlichen Geltungsanspruch hatte festlegen lassen. Vollstreckt versprach dieser Anspruch die beste aller Ordnungen für die Bürgerliche Gesellschaft. Tatsächlich war er aber flexibel abdingbar. So verkündete auch Lotz: Der Staatsanwalt solle nur dort zur Tat schreiten, „wo dem Gesetz Geltung verschafft werden soll [!]“. Er habe zwar zu wachen, „daß die Strafgesetze allenthalben […] angewendet und vollzogen werden“ – aber sie sollten auch nur da angewendet und vollzogen werden, „wo es Not thut“. Dadurch, dass der Staatsanwalt mit der flexiblen Geltendmachung des politischen Herrschaftsanspruches in Form des Gesetzes betraut war, agierte er also

775 Lotz (1849), 2.

776 Lotz (1849), 1: „Für jetzt und bevor das neue Gesetzgebungswerk vollständig ins Leben geführt seyn wird, ist es das Strafrecht, in welchem sich die Thätigkeit des Staatsanwaltes bewegt.“

777 Lotz (1849), 2.

778 Lotz (1849), 2.

779 Lotz (1849), 1.

780 Lotz (1849), 1. Er bewegte sich damit in Interpretationen des Begriffes „Gesetzeswächter“, wie dieser später auch vom preußischen Gesetzgeber verwendet wurde, s. Collin (2000), 114 f.

als „das lebendige Organ, in dem die gesetzgebende Gewalt ihren Willen ausführt“781. Man hatte sich der Herrschaft durch Gesetz verschrieben und betrieb zugleich Kriminalpolitik: Das Gesetz galt – aber auch nur da, „wo es Not“ tat.

Zugleich aber war die Strafrechtspflege unabhängig geworden. Die Richter durften nun die Gesetze in Eigenregie anwenden, vollziehen und pflegen. Das führte auf vielfache Weise zur Kollision mit dem gesetzlich formulierten Herrschaftsanspruch.

Folglich forderte man für die Gerichte eine „Aufsicht“, auf dass kein „Gesetz irrig angewendet“, sondern stattdessen „Gleichförmigkeit in Anwendung des Gesetzes bei allen Gerichten herbeigeführt werde“.782

Der Staatsanwalt als Gesetzeswächter, wie ihn Lotz präsentierte, führte diese beiden Probleme zusammen und reichte über die preußische Propaganda hinaus. Er war nicht nur das lebendige Organ des gesetzlich formulierten Herrschaftsanspruchs und der Kriminalpolitik. Er sollte auch „das Gesetz repräsentieren, von allem Kenntniß nehmen, was in den Sitzungen vorgehe und geurtheilt werde, stets das Gesetz im Auge und immer schlagfertig jede Abweichung sofort wieder ausgleichen“ – der Staatsanwalt als Gesetzeswächter solle „Sorge tragen“ für die „Handhabung der Gesetze“.783 Die Handhabung der Gesetze allerdings erfolgte nunmehr allein – durch die Gerichte.