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A. Das Pilotverfahren der Staatsanwaltschaft im Strafrecht

III. Der Prozess

4. Die Totalität von Nichts

Diese Hoffnung setzte allerdings ein immenses Vertrauen in die erkennenden Richter voraus. Schließlich hatte ihre Kollegium, das Kammergericht, eigenhändig als Prozessvoraussetzung festgelegt, dass die Anklagen für jeden einzelnen Angeklagten getrennt angeführt und begründet werden mussten.168 So appellierte Wentzel in seinem letzten Requisitorium nochmals an das Gericht, dass es „dem Gesammteindrucke“ folgen solle, und stellte bestärkend auf drei abstrahierte

„Stadien“ ab, in denen die „Bewegung“ des Aufstandes sich entpuppt habe:

„Propaganda […], Verschwörung […], [im Versuch gescheiterte, sic] Revolution“.169 Und während der Verhandlungen verfolgte Wentzel auch noch andere Hilfsstrategien. Etwa interpretierte er den Begriff des 'Unternehmens' in dogmatischer Abgrenzung zum 'Taterfolg' dahingehend, dass der Unternehmens-Tatbestand auch dann erfüllt sei, wenn lediglich „Wissenschaft“ über den hochverräterischen Plan vorliege170. Kenntnis sollte also ausreichen. Ähnlich war auch das Angebot von Wentzel an das Gericht, bei der Beurteilung der Strafbarkeit hilfsweise eine Art Wahlfeststellung zu praktizieren.171

Die Verteidigung hingegen verwies abschließend auf den Zweifel, der das einzige Resultat der Definitionskämpfe sei – und dem Gericht seine eigene, abschließende Entscheidung erst ermöglichte: „Die Interpretation der [...] Gesetze hat hier zu sehr

167 Bei Julius (1848), Sp. 334.

168 So jedenfalls Wentzel bei Julius (1848), Sp. 688: Der Gerichtshof habe diese Einrichtung getroffen.

169 Bei Julius (1848), Sp. 688: „So wenig ich behaupten werde, daß diese einzelnen Facta […] den Thatbestand ausmachen, wenn nicht viele andere Facta ermittelt wären, die sich in dem übrigen Theile der Anklage finden: So gewiß trage ich die Ueberzeugung, daß der Hohe Gerichtshof nicht blos aus diesen einzelnen Facten die Schuld der einzelnen Angeklagten feststellen wird.

Die Ueberzeugung muß sich aufgedrungen haben, daß die Ereignisse im Allgemeinen […]

s t a t t g e f u n d e n haben, und von diesem Gesichtspunkte aus ist es von Bedeutung, was gegen die beiden vorliegenden Angeklagten hier festgestellt worden ist.“

170 Bei Julius (1848), Sp. 271. Für den Fall, dass das Gericht dieser Auslegung nicht in allen Anklagen folgen sollte, wies Wentzel hilfsweise auf § 97 ALR hin, der freilich eine geringere Strafe vorsah.

171 Wentzel bei Julius (1848), Sp. 421: „[...] ich glaube, den Antrag für gerechtfertigt zu halten, sie [die Angeklagten] für schuldig zu erklären, wobei es dem Ermessen des Hohen Gerichtshofes überlassen bleibt, in wie fern sie als Solche [schuldige Hochverräter] zu betrachten sind, die nur noch entfernte Handlungen vorgenommen haben, oder solche Handlungen, die den Thatbestand des § 93 ausmachen.“

weitläufigten Discussionen geführt. Aus ihnen ist soviel klar geworden, daß die Strafe auf Hoch- oder Landesverrath im höchsten Grade z w e i f e l h a f t ist.“172

Ein Verteidiger allerdings baute seine abschließende Gegenargumentation auf dem abstrakteren Kern des Problems auf, auf dem Problem der Strafbarkeit und des Beweises von Gefahr und Risiko: „Sie, meine Herren [die Richter], können […] die Strafbarkeit nur nach den erkennbar gewordenen Handlungen abmessen. Die Größe der Gefahr ist für Ihre Beurtheilung nicht maßgebend. Mag der Zweck der Bestrebungen des Jahres 1846 den Einrichtungen des preußischen Staates gefährlich erscheinen, für Sie sind sie nur in ihren Folgen erkennbar! Der Herr Staatsanwalt hat gestern selbst zugegeben, daß die einzelnen Tathandlungen kaum erkennbar, daß sie vor dem Strafgesetze nichts seien. Er hat aber ausgeführt, daß Sie die Totalität ins Auge zu fassen hätten. Nun, meine Herren, […] die Totalität von Nichts ist Nichts“.173

Wie sollte eine zufällige Momentaufnahme, eine einzelne Handlung auch etwas abbilden können, was sich nur als gefährliche Summe vieler einzelner Vorkommnisse konstruieren ließ? Den Angriff auf eine Staats-Verfassung auf Personen und Handlungen herunterzubrechen – diese Zeiten waren schon vorbei. Personen verschwanden in Organisationen. Handlungen verschwanden im Verdacht. Statt des Königs-Körpers gab es Ländergrenzen, Verfassungstexte, Nationalideen. Der Angriff wuchs erst durch sein undurchsichtig kommunizierendes, Territorial- und Verwaltungsgrenzen sprengendes Netzwerk zur Gefahr heran. Polnische Adlige in Pariser Salons, polnische Studenten in der Eisenbahn auf der Fahrt nach Österreich, polnische Bauern auf dem Land bei Posen, polnische Handwerker im Leseverein bei Stargard, veröffentlichte Manifeste, private Briefe, Pakete unbekannten Inhalts, Kneipengespräche, Dorftratsch, Gerüchte – die massenhafte Anklage war vielleicht ein Versuch der Staatsanwaltschaft, dieses Problem zu spiegeln und seiner Herr zu werden. Insofern war nicht nur das Verfahren, sondern der Fall das eigentliche Problem. Der Aufstand selbst hatte die „Situation“174 geschaffen, in der man sich vor Gericht befand. Insofern hatte man in Posen im herkömmlichen Untersuchungsverfahren zwar übereifrig inquiriert und gesammelt, sich dabei aber gleichsam überschlagen und sich selbst außer Gefecht setzen müssen.

172 Verteidiger Furbach bei Julius (1848), Sp. 690.

173 Verteidiger Deycks bei Julius (1848), Sp. 276.

174 Noch einmal: Blankenburg/Treiber (1978), 169 f.

Das Problem des Strafrechts und des Strafprozesses war es, umso mehr und gerade jetzt weiterhin als Lösung eingesetzt zu werden.

Wo der Staatsanwalt schon zuvor eine Auswahl getroffen und organisiert hatte, wussten die Herren Richter nun natürlich Rat. Natürlich entschieden sie nicht auf Nichts. 'Non liquet' war keine Option mehr. Gerade das positive Strafgesetz, dessen Leistungsfähigkeit von der Verteidigung in Zweifel gezogen worden war, ermöglichte dem Gericht eine Entscheidung und mit den Entscheidungsgründen ihres Urteils wiederum beteiligten sich die Richter fleißig an der positiven Rechtsarbeit. Was mag zur Veröffentlichung der Urteilsbegründung geführt haben? Eine formelle Voraussetzung für das Urteil war dieser Vorgang damals noch nicht.175 Vielleicht hatte Staatsanwalt Wentzel mit dem Druck der Anklageschrift für einen ersten Anstoß in diese Richtung gesorgt, der sich die Richter nun schlecht entziehen konnten, wenn sie gewissermaßen keine Antwort schuldig bleiben wollten. Jedenfalls war das Urteil in Teilen der Öffentlichkeit zugänglich und einsehbar gemacht worden.

In den Entscheidungsgründen „hinsichts der Art des Verbrechens im Allgemeinen“

setzten die Richter sich sehr ausführlich mit dem „objectiven Thatbestand“ des Hochverrates auseinander. Sie stellten eine detaillierte Definitions- und Abwägungsarbeit dar, in der sie auf die von Wentzel eingebrachten Argumente relativ intensiver als auf diejenigen der Verteidigung eingingen. Das Gericht erteilte dann aber mit seiner Entscheidung beiden Seiten eine Absage und traf in diesem Sinne tatsächlich eine eigene Entscheidung. Sie folgte weder den Definitionen der Staatsanwaltschaft, noch dem Anliegen der Verteidigung. Unter entlastender Berufung auf eine Auslegung des Verfassungsbegriffes aus den positiven, geltenden Gesetzen176 entschieden die Richter in keiner einzigen Anklage auf Hochverrat, denn:

„Erwägt man alle diese Gründe, so erscheint die Ansicht der Staatsanwaltschaft, daß die gewaltsame Losreißung einer Provinz von dem Staatsgebiete unter den Begriff des Hochverraths gestellt werden müsse, weil eben dadurch zugleich eine

175 Lahusen (2011), 157 ff.; zur Mitteilung schriftlicher Entscheidungsgründe an die Parteien im 17.

und 18. Jahrhundert Hocks (2002), 61 ff.; 83 ff.; zum „Einzug der Öffentlichkeit in das Verfahren“

und zur Publikationspflicht Hocks (2002), 109 ff.

176 Bei Julius (1848), Sp. 708: „Das Allgemeine Landrecht selbst hat einer solchen Ansicht, wenn auch nicht mit ausdrücklichen Worten, so doch durch anderweitige strafrechtliche Bestimmungen vorgebeugt.“; Sp. 709: „Das Wort 'Staatsverfassung' ist seinem Begriffe nach im Allgemeinen Landrecht nicht definiert, daß es aber, wie oben erwähnt, als gleichbedeutend mit 'Regierungsform' anzusehen ist, erweist sich aus nachstehenden Stellen einzelner späteren Gesetze [zitiert werden die Censur-Instruction v. 31. Januar 1843 und Artikel 1 des Publications-Patents v. 28. Oktober 1836].“

Aenderung der Staatsverfassung herbeigeführt werde, nach den jetzt bestehenden Gesetzen, wenn nicht für gänzlich widerlegt, so doch mindestens dergestalt zweifelhaft, daß in favorem defensionis die mildere Ansicht Platz greifen muß und der Thatbestand des Hochverraths nicht angenommen werden kann.“177

Unter Berufung auf rechtliche Definitionsarbeit konnten die Richter also ihre Entscheidung als die „mildere Ansicht“ ausgeben und sie damit von der Anklage des Staatsanwalt abgrenzen. In „favorem defensionis“ bedeutete aber bei weitem keinen Freispruch in der Sache. Vielmehr hatten die Richter eine rechtliche Abstufung und Verfeinerung des gesamten Falles vorgenommen. Das Urteil war insgesamt hinsichtlich der erkannten Straftatbestände und der verhängten Strafmaße wesentlich differenzierter, als die Anklage es gewesen war.178 Für 64 Angeklagte bedeutete dies, dass sie anstelle des Hochverrats des Landesverrats für schuldig befunden wurden – wobei gegen acht dieser Schuldigen als Urheber die Todesstrafe verhängt wurde.179 Die Richter entschieden auf insgesamt 117 Schuldsprüche;

zugleich entbanden sie 116 der Angeklagten von der Anklage,180 sodass sich ihr

„Gesammteindruck“ als ein wahrliches Maßhalten darstellte. Nur 18 der 254 Angeklagten wurden freigesprochen.

Das Urteil wurde nicht vollständig publiziert. Das, was veröffentlicht wurde, war dann aber das Notwendige, das die Entscheidung als durch rationes decidendi angeleitete Entscheidung darstellen konnte.181 So lassen sich zwar alle Schuldsprüche mitsamt Strafmaß nachlesen. Es wurde aber nur ein einziges ausführliches Erkenntnis publiziert, das zudem nur einen einzigen Angeklagten betraf – Ludwik Mierosławski, der als „Urheber“ und Anführer des Aufstandsversuches geständig war und der nicht einmal eine Verteidigung im Sinne des Verfahrens für sich beansprucht, sondern stattdessen seine politische Rede gehalten hatte.

177 Bei Julius (1848), Sp. 710.

178 Zum Landesverrat Erster Klasse (1.) traten hinzu: (2.) Die Wissenschaft desselben und unterlassene Anzeige (26 Schuldige, mit Strafen zwischen achtjährigem Festungsarrest und achtjähriger Zuchthausstrafe); (3.) die versuchte gewaltsame Befreiung von Gefangenen (zehn Schuldige mit bis zu einjährigem Festungsarrest); (4.) ein Schuldspruch wegen Teilnahme an einer verbotenen Verbindung und (5.) ein Schuldspruch wegen Landesverrats Zweiter Klasse;

(6.) versuchter Aufruhr (15 Schuldige, deren Freiheitsstrafen durch den Untersuchungsarrest verbüßt waren); zwei Anklagen wurden wegen Erkrankung ausgesetzt.

179 „Landesverrätherei“ Erster Klasse: Als Urheber wurden elf Angeklagte für schuldig befunden, davon wurden acht mit dem Tod durch Beil und drei mit 25 Jahren bzw. 20 Jahren Festungsarrest bestraft; als Teilnehmer wurden 53 Angeklagte für schuldig befunden, sie erhielten Strafen zwischen „lebenswierigem“ Festungsarrest und 15 Jahren Festungsarrest.

180 Das Entbinden von der Anklage entsprach der vormals üblichen, vorläufigen Lossprechung des Angeklagten und ist heute etwa mit dem vorläufigen Aussetzen der Anklage zu vergleichen.

In den allgemeinen Entscheidungsgründen gingen die Richter zwar sehr ausführlich auf den Begriff der Verfassung ein. Den zweiten Argumentationskern, den Begriff des Unternehmens, übergingen sie allerdings vollständig. Damit umschifften sie die prekärste Auseinandersetzung: Über das „Unternehmen“ hatte die Verteidigung schließlich nicht nur beständig von der Rechts- zur Tatsachen- und zur Beweisfrage übergehen können; sondern durch das „Unternehmen“ konnte die Verteidigung auch die Frage nach der Leistungsfähigkeit des positiven Strafgesetzes stellen. Das positive geltende Strafgesetz war aber nun gerade der Entlastungsweg für die Legitimation der richterlichen Entscheidung. Auf eine Infragestellung der eigenen Existenzgrundlage ließen sich die Richter, wenig verwunderlich, nicht ein. Das konnte ihnen durch einen juristischen Kunstgriff gelingen: Der von ihnen anstelle des Hochverrats herangezogene Tatbestand des Landesverrates führte – im Gegensatz zum Hochverrat – eine Versuchsstrafbarkeit explizit auf. Die Problematik des

„Unternehmens“ war damit nicht nur umgangen – sie war durch die Richter im geltenden Recht aufgelöst worden. Dadurch, dass sie ihre strategische Wahl auf den Landesverrat hatten fallen lassen, umgingen die Richter auch die Frage danach, ob es überhaupt etwas Greif- und Beweisbares zu entscheiden gab, oder ob nicht doch die „Totalität von Nichts“ durch das Landrecht bestraft werden sollte. Den Richtern ging es um die Rechtsfrage. Die konnten sie nur annehmen, beantworten, mit produzieren und wieder zurückwerfen, wenn sie das positive Strafrecht in seiner totalen gesellschaftlichen Aufladung nicht als Widerspruch begriffen und es dadurch selbst nicht in Frage stellten – wie es aber die Verteidigung getan hatte.

So, wie also das prekäre „Unternehmen“ sowohl hinter der fein ziselierten Arbeit am Verfassungsbegriff als auch im geltenden Recht verschwand, ließen die Richter

181 Abgedruckt bei Julius (1848) sind die Erkenntnisse über Schuldspruch und Strafmaß eines jeden einzelnen Angeklagten; sowie die Entscheidungsgründe „hinsichts der Art des Verbrechens im Allgemeinen“ und speziell nur für den als Urheber des Aufstandes ausgemachten Ludwik Mierosławski. Die weiteren Entscheidungsgründe – so die Auskunft durch Julius (Sp. 703) – seien zum Zeitpunkt der Drucklegung als Abschriften „noch nicht“ zu erhalten gewesen und würden deswegen dem Anhang anheim gestellt werden. Im Anhang der Prozessbeobachtung finden sich aber keine weiteren Entscheidungsgründe, sondern nur weiter vorne noch nicht abgedruckte Anklagesätze und eine ergänzende Dokumentation, die schriftliche Aussagen zum Prozess enthält, etwa Pressedarstellungen und Statements des Berliner Polizeipräsidenten Julius von Minutoli. Es ist stark zu bezweifeln, dass sich die elf Richter tatsächlich noch aufgemacht hatten, 253 spezielle Entscheidungsgründe zu dokumentieren und druckreif zu formulieren.

hinter Ludwik Mierosławski die 253 weiteren Angeklagten verschwinden. Zweifel am Strafrecht verschwanden hinter Auslegungsarbeit und Gesetz. Zweifel an der Beweisbarkeit von Gefahr und Risiko verschwanden hinter dem einen Schuldigen, der lebendes Symbol einer politischen Bewegung war. Die Richter betrieben ihre Rechtsarbeit. Der Staatsanwalt hatte ihnen den Weg bereitet, alle nicht-rechtlichen Geschäfte ferngehalten und das Material geliefert.