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A. Das Pilotverfahren der Staatsanwaltschaft im Strafrecht

VI. Das Ende vom Anfang

In seinem „Vortrags-Journal“ notierte der Staatsanwalt dann noch, ob und wenn ja, welcher Schuldspruch gegen den jeweiligen Angeklagten ergangen war.182 Der König und die Staatsregierung nutzten die Rechtsmittelkompetenz,183 die der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stand. Wentzel legte Berufung gegen das Urteil des Kammergerichts ein. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft kam den Verurteilten allerdings wegen der damit einhergehenden Vollstreckungsverzögerung nur zu gute: Die Märzrevolution schaffte eigene Fakten. Am 19. März 1848 reichte man zunächst eine Petition auf Amnestie beim König ein, dann am 20. März 1848 versammelte man sich vor seinem Schloss und drohte die Erstürmung des Moabiter Gefängnisses an.184 Der König gab nach; Staatsanwalt Wentzel musste noch am gleichen Tag die Gefangenen in Moabit in einen Saal zusammenrufen lassen und verkündete ihnen ihre Entlassung.185 Um 13.00 Uhr waren alle in Freiheit und wurden vor den Gefängnistoren von einer jubelnden Menschenmenge empfangen, die sie auf einem Triumphzug durch die Berliner Straßen begleitete.186 Kein Beil gab es für Mierosławski. Er zog weiter gen Süden und nahm etwa im Juni 1849 in der badisch-pfälzischen Armee an den revolutionären Befreiungskämpfen teil.187 Staatsanwalt Wentzel zog es wieder an ein Gericht, nach Ratibor.

Julius Hermann von Kirchmann hielt noch als Staatsanwalt 1847 seinen legendären Vortrag über „Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“. Er verwies

182 GStA PK, I. HA Rep. 97, Nr. 4693. Die Angaben wurden in einen Druck der „Inhalts-Nachweisung“ der Anklageschrift eingetragen, in dem die Angeklagten numerisch unter Nachweis der Seitenzahl des Anklageschrift-Druckes aufgelistet worden waren. Hinter jeden Namen ist der Schuldspruch, das Strafmaß oder die Klageentbindung gekritzelt. Die Namen der acht zum Tode Verurteilten sind handschriftlich unterstrichen und mit der Notiz „Beil“ versehen worden.

183 Zu diesem Streitpunkt in den regierungsinternen Arbeiten zum Gesetz vom 17. Juli 1846: Collin (2000), 66 ff., 70, 74.

184 Fuchs (1998), 55.

185 Fuchs (1998), 55.

186 Fuchs (1998), 56.

187 Fuchs (1998), 57.

dabei auf den Polenprozess: Als erster Beleg für seine zum geflügelten Wort gewordene These – „[...] drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur. Solch hartes Urteil verlangt ausführlichen Beweis [...]“188 – diente ihm das Verfahren aus der Moabiter Gefängniskirche. Kirchmann fragte, worauf das spezifisch juristische Interesse an dem Polenprozess beruhe, und antwortete: „Auf nichts, als auf der mangelhaften Definition des Landrechts vom Hochverrat.“ Der Gesetzgeber sei es schuldig geblieben, die „Losreißung ganzer Provinzen vom Staat“ im preußischen Allgemeinen Landrecht tatbestandlich zu definieren und zu integrieren; mit dem polnischen Aufstand hatte sich gleichermaßen ein „Fall“ ergeben, den „das positive Gesetz […] übersehen“ habe. Nur deswegen machten sich die Juristen an die Arbeit, „mit Hilfe von Wörterbüchern, Geschichte und Konstitutionen fremder Länder ein kunstvolles Gebäude aufzuführen“.

Kirchmann stellte explizit auf die Staatsanwaltschaft – „die Behörde“ – ab, die mangels positiver Legalvorgabe „genötigt“ gewesen sei, ihre eigenen Begriffsgebäude im Gerichtssaal zu errichten, um ihre Konstruktionen in den Verhandlungsterminen sogleich von den Strafverteidigern „mit denselben Waffen alle Tage wieder zerstört“ zu sehen. Nun sei eine Gesetzesänderung in Aussicht gestellt worden, sodass „all jene Arbeiten, trotz ihres hohen wissenschaftlichen Wertes“

hinfällig werden würden. Kollege Wentzel und seine Gehilfen hatten also in den Augen Kirchmanns vergebens ihre Referate und Gutachten geschrieben.

Symptomatisch war, dass Wentzel als neuer Funktionär für just jenes Strafverfahren eingesetzt worden war, das Kirchmann als praktisch-theoretischer Beweis für die Hoheit des Gesetzgebers über das Gesetz – und folglich für die Vergeblichkeit allen wissenschaftlichen Bemühens um das positive Recht – diente. Es war mehr als ein Treppenwitz in der Geschichte der Rechtswissenschaft, dass ausgerechnet der Begründer der historischen Schule, Friedrich Carl von Savigny,189 bereits durch zeitgenössische Stimmen für das Gesetz vom 17. Juli 1846 verantwortlich gemacht wurde.190

Übrig blieb im Strafverfahren eine Staatsanwaltschaft, die sich einem Gesetz verdankte, das „versuchsweise nur für Berlin ein derartiges Verfahren ins Leben rief“

188 Kirchmann (1848/1988), 29; alle folgenden Zitate ebenda, bis wieder anders benannt.

189 Zu ihm zuletzt, aber wohl immer noch nicht abschließend: Lahusen (2013) – denn angekündigt ist Joachim Rückerts „Friedrich Carl von Savigny: Leben und Wirken (1779-1861)“, Köln 2016.

und „auf ein […] Experiment berechnet“ gewesen war,191 eine Staatsanwaltschaft, deren Personal schon in den ersten zwei Arbeitsjahren komplett ausgetauscht wurde.

Aus den ersten beiden Staatsanwälten entstand innerhalb kürzester Zeit eine eigenständige Verfahrensinstitution, wie sie sich als technische Hilfe in der kontingenten Berliner Gerichtspraxis gerade in labilen Umbruchszeiten und unter politischem Hochdruck bewährte.

Sie überlebte nicht nur, dass ihr Pilotverfahren, der Polenprozess, mit der erkämpften Freilassung der Verurteilten vor der Vollstreckung scheiterte; sie überlebte gesetzliche Anpassungen an liberale Forderungen, an oktroyierte Verfassungen und an die rheinische Strafprozessordnung ebenso192 wie Justizminister- und Kabinettswechsel und die Märzrevolution 1848. Das experimentelle ad-hoc-Gesetz vom 17. Juli 1846 wurde durch parlamentarische Debatten im Preußischen Landtag und in der Frankfurter Nationalversammlung begleitet, aber nicht modifiziert. Mit Verordnung vom 3. Januar 1849 übertrug man es praktisch wortgleich – und damit auch die Staatsanwaltschaft als Einrichtung im Strafverfahren – als „Muster“193 auf alle altpreußischen Provinzen.194

„Die Staatsanwaltschaft wurde als Verwaltungsbehörde akzeptiert.“195 Als solche bildete sie einen Teil der Normalität im Recht, der unbeeindruckt von Straßenkämpfen, Verfassungskrisen und politischen Wechseln das Strafrecht pflegt.

Bezeichnenderweise war ausgerechnet die Zeit, die von Instabilität und Umbrüchen geprägt war, zugleich die erste Stunde der preußischen Staatsanwaltschaft im Strafverfahren. Die neue Institution war damit nur mittelbar ein „Kind der Revolution“196 – angesetzt als ein Mittel zur Bewältigung von Chaos und Zufall.

190 Ausgerechnet in einem Reformaufsatz vom ehemaligen Staatsanwalt Temme – und wohl fälschlicherweise, da der „Inhalt der regierungsinternen Verhandlungen“ und die einzelnen Beiträge zu den Entwürfen, etwa von Friedberg, nicht öffentlich gemacht worden waren, s.

Collin (2000), 91. Dem von Savigny mitverfassten und damals veröffentlichten „Promemoria“

zum Gesetz vom 17. Juli 1846 möchte Collin (2000), 79, dann auch keine besondere Bedeutung zumessen; Savigny sei bei den Beratungen zur Staatsanwaltschaft regierungsintern eher außen vor gelassen worden, s. Collin (2000), 84.

191 Zitate bei Groß (1854), 23.

192 s. Collin (2000), 96 f.

193 s. Keller (1866), 156.

194 Collin (2000), 92 ff.

195 Collin (2000), 98.

196 So affirmativ mit rechtspolitischer Implikation: Hans Günter, Staatsanwaltschaft: Kind der Revolution; Versuch eines juristischen Essays, Frankfurt am Main 1973.