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B. Die ersten Staatsanwälte?

II. Der Staatsanwalt als Ankläger?

2. Preußen

Während sich über das Strafverfahren und die Anklage von den ersten Staatsanwälten in Baden 1832 immerhin eine Linie zu ihren preußischen Kollegen 1846/1849 ziehen lässt, ist eine solche Verbindung zu dem tatsächlich ersten Berliner Staatsanwalt nicht möglich: Dieser war nicht im Strafverfahren tätig, sondern er saß beim Oberzensurgericht in Berlin.

Schon seit 1838 war die Ansiedlung der preußischen Zensur bei den Gerichten ein Tagespunkt auf der politischen Agenda der preußischen Regierung gewesen.301 1843 hatte König Friedrich Wilhelm IV. dann das Oberzensurgericht als „Sondergerichtshof [...] in dem Bemühen, Liberalität im Umgang mit der Presse zu beweisen“, einrichten lassen.302 Das Präsidentenamt wurde zunächst mit Friedrich Wilhelm Bornemann besetzt.303 Durch das Oberzensurgericht wurden Entscheidungen von Verwaltungsbeamten, den Zensoren, dem „Richterspruch“304 unterworfen und dadurch in einem zweiten Verfahren überprüfbar und revisibel gemacht. Zusätzlich besaß das Gericht die Kompetenz, über die Zulassung eines Buches zum Debit, das heißt zum Vertrieb zwischen Verlag und Buchhändlern zu entscheiden. Bis heute ist problematisch, was die Prüfungskompetenz von Verwaltungsgerichten zum Gegenstand haben kann. Diese Problematik zeigte sich bereits in der Praxis des Oberzensurgerichts: Zeitungsredakteure, Schriftsteller und Buchhändler hätten

„gegen die Maßnahmen der Zensoren klagen“ können; „zudem“ habe das Gericht über den Entzug von Zeitungs- und Verlagskonzessionen entschieden.305 Bei der Zulassung oder Versagung des Debits trafen die Richter eigentlich eine 'echte' erste Verwaltungsentscheidung im Rahmen eines rechtlichen Urteils. Dementsprechend war diese Entscheidungskompetenz politisch höchst umstritten.306 Weiterer

„Urteilsgegenstand“ des Gerichtes sei „die Zulässigkeit oder [!] Anfechtbarkeit von Verwaltungsakten“ gewesen.307 Das Oberzensurgericht überprüfte in diesen Fällen

301 Acta Borussica (2004), 21.

302 Zur Einrichtung des Gerichtes und vor allem zum Verhältnis zur Regierung: Hodenberg (1996), 255-264 ; Näheres dazu auch bei Schleyer (2006), 79 ff.

303 Schleyer (2006), 83 ff.; 201 f.: Bornemann war „ein bedeutender Repräsentant der preußischen Juristenelite“; geprägt „von liberaler Gesinnung und der Treue zum preußischen Staat, trat er zeitlebens für die Einführung der richterlichen Unabhängigkeit ein.“ Später wurde Bornemann Justizminister.

304 Hodenberg (1996), 257, Zitat aus zeitgenössischem Zeitungskommentar.

305 Hodenberg (1996), 256.; s.a. Schleyer (2006), 81.

306 Seitens der Regierung wurde versucht, sie dem Gericht wieder streitig zu machen; zu letztem s.

Hodenberg (1996), 256 f. Zum politischen Streit um Verwaltungs- oder Gerichtsgegenstände s.a. Ogorek (1986/2008), 280 ff.

307 Hodenberg (1996), 255.

die Rechtmäßigkeit der Zensorentscheidung. Die Urteile hätten darüber inhaltlich die

„Richtlinien der Pressezensur nachträglich korrigiert“308. Zeitgenössische Kommentare meinten, dass durch die Urteile die Entscheidungen der Zensoren

„verworfen“ worden seien.309 Das Oberzensurgericht selbst meinte, dass es die

„Druckerlaubniß […] versagen“ (oder erteilen) dürfe. Überprüft wurde tatsächlich wohl jeder einzelne, durch den Zensor in den Texten vorgenommene 'Zensurstrich'.310 Die Presse machte von ihrem Recht zur gerichtlichen Beschwerde regen Gebrauch:

Entgegen allen Erwartungen der königlichen Regierung, die sich von dem

„neueröffneten Rechtsweg“ wohl einen Beruhigungs- und keinen Partizipationseffekt erhofft hatte,311 wurde das Oberzensurgericht mit Anträgen nahezu überrannt.312 Das war wenig verwunderlich, galt Preußen doch im Verhältnis zu anderen deutschen Territorialstaaten wie Sachsen oder Baden als terra incognita für eine freie Presse.313 Im Oberzensurgericht sah man folglich den „Anfang des Rechtszustandes“, den man weiter ausgebaut haben wollte;314 einen „Anfang […] zur Erhebung der Presse auf den Boden des Rechts“.315

Der erste Staatsanwalt an diesem Oberzensurgericht, der ehemalige Kammergerichtsrat Theodor Sulzer316, war dienstrechtlich dem Innenministerium unterstellt, wo zunächst auch noch Heinrich Friedberg 1843 als Assessor arbeitete, bevor er zum Gehilfen von Sulzer berufen wurde.317 Mit Friedberg hatte also einer der entscheidenden Akteure in den Gesetzgebungsarbeiten zur preußischen Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde zuvor schon am Oberzensurgericht

308 Hodenberg (1996), 256.

309 Zitat bei Hodenberg (1996), 256.

310 So jedenfalls in statistischer Auswertung durch Hodenberg (1996), 260.

311 s. Hodenberg (1996), 256.

312 Hodenberg (1996), 256. Die durch Zeitungsredaktionen eingereichten Beschwerden beliefen sich 1844 auf 423, 1845 auf 643, 1846 auf 580, 1847 auf 406 Anträge; Hodenberg (1996), 260.

Bornemann habe Anfang 1844 über die personelle Unterbesetzung des Gerichts geklagt, das

„hoffnungslos überfordert mit einer Flut von Klagen“ sei, weswegen er selbst sich „geistig und körperlich nur aufreibe“; Schleyer (2006), 89.

313 Es war Konsens, dass „alles, was auf das Leben der Gegenwart Bezug hatte, in den Augen des Volkes allen Werth verlor, sobald es in Preußen gedruckt war“, Mügge (1845), 13 f.

314 Mügge (1845), 3.

315 Mügge (1845), 24.

316 Vorher Mitglied des Kriminalsenats des Kammergerichts – ein „sehr tüchtiger Jurist“, Frankfurter Ober-Postamts-Zeitung, Ausgabe vom 20. Juni 1843, 1415; im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin Dahlem liegen im Repetorium des preußischen Innenministeriums die sogenannten „Sulzerschen Papiere“, vgl. GStA, PK I. HA Rep. 77, Titel 529.

317 Collin (2000), 74, mit Hinweis auf Stölzel (1888), 571: Friedberg, „kaum zwei Jahre Assessor, bereits 1843 im Ministerium des Innern, erhielt den Auftrag, dem Staatsanwalt beim neugegründeten Obercensurgericht Beihülfe zu leisten“.

praktiziert und hatte dadurch nicht unerheblich Berufserfahrung sammeln können.

Zumindest bis Februar 1845 blieb Friedberg beim Staatsanwalt am Oberzensurgericht. Von dort aus erstattete er dem Innenministerium statistischen Bericht über die Entscheidungen des Gerichts.318

Das Amtsdogma des Staatsanwalts am Oberzensurgericht war es, das „öffentliche Interesse zu vertheidigen“.319 Ihn deswegen mit dem heute in der Verwaltungsgerichtsordnung vorgesehenen „Vertreter des öffentlichen Interesses“

gleichzusetzen, wäre allerdings zu kurz geschlossen. Weder gab er nur als Beigeladener dem Gericht rechtliche Hinweise320, noch übernahm er die rein prozessuale Vertretung einer Verwaltungsbehörde.321 Ihm kam eine eigene Sachentscheidungskompetenz zu, sodass er eher die Aufgaben eines prozessführungsbefugten Justiziars der Gewerbeaufsicht erfüllte: Er konnte Anträge auf Debitsverbot, auf „Wiederentziehung“ einer Debitserlaubnis und auf Entscheidung über den Verlust eines Privilegiums oder einer Konzession stellen.322 Er war auch befugt, „gesetzeswidrige Handlungen der Censoren“ beim Oberzensurgericht anzuzeigen.323 Den Klageanträgen der Autoren, Redakteure und Herausgeber gegen die Zensurstriche war obligatorisch ein schriftliches Verfahren vorgeschaltet, in dem der Staatsanwalt gehört werden musste und er mindestens einmal schriftlich erwidern durfte.324 An dieser Stelle konnte er dann auch Rechtsansichten äußern,325 und er hatte damit Anteil an einem Rechtsgespräch, das die Grundlage für die Entscheidung des Oberzensurgerichts lieferte. Dieses Vorverfahren entschleunigte das gerichtliche Beschwerdeverfahren – das ja ohnehin

318 s. Dowe (1977), 67.

319 § 12 der Verordnung über die Organisation der Censurbehörden vom 23. Januar 1843, abgedruckt bei Schleyer (2006), 82.

320 § 35 VwGO, „Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht“, s.

Sodan/Ziekow (2014), § 35 VwGO, Rn. 15.

321 § 36 VwGO „Vertreter des öffentlichen Interesses“, s. Sodan/Ziekow (2014), § 36 VwGO, Rn. 8, Rn. 20.

322 §§ 1, 10, 14, 15 des Reglements vom 1. Juli 1843 für das Verfahren bei dem Königlichen Ober-Censur-Gericht, in: Justiz-Ministerial-Blatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege.

Bd. 5/1843, 182-184.

323 § 12 der Verordnung über die Organisation der Censurbehörden vom 23. Januar 1843, abgedruckt bei Schleyer (2006), 82, der diese Kompetenz für „bemerkenswert“ hält, weil dadurch „verwaltungsbehördliches Verhalten der Kontrolle des Oberzensurgerichts“ unterworfen worden sei.

324 § 2 des Reglements vom 1. Juli 1843 für das Verfahren bei dem Königlichen Ober-Censur-Gericht, in: Justiz-Ministerial-Blatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege. Bd.

5/1843, 182.

325 Etwa, dass der einzelne Zensor jeden Artikel streichen könne, „selbst wenn dieser schon von anderen Zensoren für andere Zeitungen freigegeben worden war“; Dowe (1977), 66, Fn. 83.

'nur' eine Überprüfung in zweiter Reihe darstellte – erheblich, sodass es insbesondere für die Tagespresse, die 'eilschutzbedürftig' war, keinen Wert besaß:

„Zeitungsartikel haben meist nur für den Augenblick Bedeutung und nur des Princip halber kann es einem Redakteur in Köln, Trier oder Königsberg einfallen, Schutz bei dem Oberzensurgerichtshof in Berlin zu suchen, der […] durch den auch bei ihm üblichen, weitläuftigen, schriftlichen Geschäftsweg: Klagebeantwortung durch den Staatsanwalt, Antrag desselben usw. aufgehalten, im glücklichsten Falle nach Verlauf mehrerer Wochen eine Entscheidung giebt.“326

Auch in der preußischen Pressezensur wurde also zumindest kurzweilig327 mit dem Oberzensurgericht eine „Abkehr vom administrativen Instanzenzug hin zu einer richterlichen Institution […]“ vollzogen. Dass darin zugleich wirksam „ein Zugeständnis an die konstitutionelle Oppositionsbewegung“ gemacht worden sei, wird allerdings nicht nur wegen der einen effektiven Schutz unterlaufenden Verfahrensdauer in Frage gestellt.328

Der erste Berliner Staatsanwalt nahm jedenfalls keine Aufgaben im Strafprozess wahr, sondern gestaltete die Praxis an einem Gericht mit, das am ehesten noch als Prototyp eines Verwaltungsgerichts gelten kann. Damit wies er mit den 'Kollegen' in Baden zunächst keine Gemeinsamkeit auf: Während man in Mannheim oder Merseburg Strafverfolgung über die Preßdelikte betrieb, partizipierte man am Berliner Oberzensurgericht an der Kontrolle der preußischen Zensurverwaltung.

Mit den Staatsanwälten in Baden und Preußen zeigt sich aber, dass sie unabhängig von politischen Programmen und deren Implikationen eingesetzt worden waren.

Preußen und Baden sind schließlich hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Ausrichtung ihrer Staatsregierungen und des Erfolges der liberalen politischen Bewegung gerade im Vormärz als Antagonisten in die Geschichte eingegangen.329

326 Mügge (1845), 25.

327 Das Oberzensurgericht wurde mit der – nur kurz währenden – Abschaffung der Zensur 1848/49 aufgelöst. Bornemann war im Dezember 1844 wegen zu hohen Arbeitsanfalls, Streitigkeiten im Kollegium und Angriffen auf seine richterliche Unabhängigkeit vom Präsidentenamt zurückgetreten; Schleyer (2006), 89.

328 So, mit Zweifeln Grimm (2010), 209: Das Oberzensurgericht „[...] schien ein Zugeständnis [zu sein], wenngleich die Grundlage der Urteile inhaltlich die alten Zensurvorschriften blieben; nur, dass sie jetzt Gesetzeskraft hatten“; ähnlich Schleyer (2006), 85: Die Bindung des Gerichts „an die Zensurinstruktionen verhinderte eine grundlegende Veränderung des Zensurwesens.“

Optimistischer zu einer liberalen Intention und Wirkung der Rechtsprechung des Gerichts stellt sich Hodenberg (1996), passim.

329 Wehler (1987/2008), Bd. 2, 544: Baden sei liberal, Preußen repressiv gewesen. Auch Rotteck/Welcker (1864), 735: „Man holte damit in Preußen nur nach, und auch nur unvollständig, was in den constitutionellen deutschen Staaten längst bestand.“

Der badische und der preußische Zugriff auf Staatsanwälte ist damit nicht als Konsequenz eines bestimmten politischen Klimas oder als Vollzug eines bestimmten politischen Programms zu verstehen. Es scheint ein strukturelles Bedürfnis durch, das mit der Übertragung von administrativen Aufgaben auf Gerichtsverfahren einher ging. In beiden Staaten wurde die Staatsanwaltschaft dabei primär als prozessuale Einrichtung begriffen, die zunächst noch unabhängig von einer spezifischen Rechtsmaterie und Prozessstruktur denkbar und experimentierbar war. Die Verschiebung von administrativer Ordnungspolitik in den Bereich des Rechts und damit auch in die Gerichtsverfahren fand sowohl in Baden als auch in Preußen statt.

Auf das Strafrecht und das Strafverfahren als spezifischen Kanal dieser Politik hatte man sich dabei aber noch nicht eingespielt. Nebenbei bemerkt: Was war liberal, was war repressiv – die Strafsanktion der badischen Preßdelikte, die mit dem Preßgesetz parallel eingeführt worden war? Das preußische Oberzensurgericht, das die richterliche Überprüfung der Entscheidungen der Zensoren, also von Verwaltungsbeamten, ermöglichte?

Beide Staatsanwälte wurden im Feld der Pressezensur etabliert. Ausschlaggebend für ihren Einsatz war die gesellschaftspolitische Virulenz dieses Problembereiches, den man regulieren wollte. Baden war insoweit tatsächlich ein 'Vorreiter' von Modernismen, als hier die erste reine Staatsanwaltschaft für Strafsachen etabliert wurde und sich explizit das Strafrecht als verfahrensartig praktiziertes Steuerungsinstrument für die Sozialpolitik andeutete. Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie in Preußen mit dem Oberzensurgericht anklang,

setzte sich erst wesentlich später im 20. Jahrhundert unter anderen Bedingungen durch. Zu dieser Zeit war die Staatsanwaltschaft schon auf das Strafverfahren festgelegt und etwa für die Gewerbeaufsicht eine ganz eigene Verwaltungsorganisation etabliert worden, sodass ein 'Vertreter des öffentlichen Interesses' nach dem preußischen Modell aus den Jahren 1843 bis 1848/49 keine praktische Durchschlagskraft mehr besitzen konnte.

Die ersten Staatsanwälte, die außerhalb der linksrheinischen Gebiete in deutschen Staaten eingesetzt wurden, waren aus heutiger Perspektive also noch Grenzgänger.

Mit den badischen Preßdelikten und dem preußischen Oberzensurgericht hatte man sich an zwei verschiedenen Lösungen des Problems „Zensur“ und „Meinungsfreiheit“

versucht – institutionell griff man dafür in beiden Fällen auf einen Staatsanwalt zurück.