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C. Inquisitorisches Erbe?

II. Die Sechs Gebote

5. Gerichtsanalogie

Im Vierten Gebot widmete sich Jagemann ausführlich der Möglichkeit, dass der Staatsanwalt „die Verfolgung einzustellen“599 habe. Solange kein Urteil in der Sache ergangen sei, könne der Staatsanwalt jederzeit seine „Ansicht“ ändern, so Jagemann – während der Voruntersuchung, nach Versetzung in den Anklagestand oder noch in der mündlichen Hauptverhandlung.

Am wichtigsten sei allerdings der „Schritt“ zur Eröffnung der Hauptverhandlung, die Entscheidung über den Untersuchungsabschluss. Es ist bezeichnend für den Stellenwert dieser Entscheidung, dass Jagemann hier die einzige Analogie zum Gericht zog: Der Staatsanwalt habe in diesem Verfahrensabschnitt „mit gleicher Schärfe und Unbefangenheit“ zu prüfen, „als geschähe es durch ein Gericht“.600 Und deswegen forderte Jagemann hier, anders als in seinem an Verwaltungsmaßstäben orientierten Zweiten Gebot, richterliche Entscheidungsparameter ein: Der Staatsanwalt unternahm die Subsumtion unter das Strafgesetz, die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Schuld und die Berücksichtigung von – annäherungsweise – Strafmilderungs- und Strafausschlussgründen.601 Die Analogie zur richterlichen Arbeit wurde explizit, wenn Jagemann hier für den Staatsanwalt nun doch die Gerechtigkeit als Entscheidungsmaßstab602 anbrachte. Im Schritt zur Eröffnung der Hauptverhandlung konnte der Staatsanwalt demnach eine Entscheidung nach rechtlichen Maßstäben fällen. Aus dieser Entscheidung zog er den Gewinn einer

597 Jagemann (1849), 226.

598 Jagemann (1849), 228.

599 Jagemann (1849), 228; 228 ff.

600 Jagemann (1849), 228.

601 Jagemann (1849), 228 f.

602 Jagemann (1849), 229: Der Staatsanwalt frage sich, ob „die Gerechtigkeit fordert, ihn [den Beschuldigten] mit Strafe zu verschonen?“

doppelten professionellen Selbstbestärkung: Durch die Eigenständigkeit gegenüber den Gerichten, wie sie sich in der Einstellungsbefugnis manifestierte, und durch juristische Arbeit, wie sie in der Gerichtsanalogie aufschien.

Kein Wunder, dass Jagemann, der den Beruf des Staatsanwaltes den Juristen schmackhaft machen wollte, der Einstellung besonderes Augenmerk schenkte. Hier bot sich eine Analogie zur Rechtsautorität des Richters an. Sein Viertes Gebot kann als erster Leitfaden für eine 'gute' Einstellung gelten, denn Jagemann ging hier detailliert vor und führte verschiedene Möglichkeiten an, die Strafverfolgung einzustellen.

Zunächst habe der Staatsanwalt den Tatbestand anhand eines streng juristischen Maßstabs zu prüfen. Hier ergab sich eine erste Möglichkeit: Das Fehlen eines wesentlichen Tatbestandsmerkmals könne nicht durch „moralische Überzeugung“ – wie sie trotz fehlender „doctrineller Evidenz“ etwa bei Geschworenen entstehen könne – ausgeglichen werden.603 Moralisch motivierte Indizienketten ergäben eine juristisch nur unzureichende Anklage; damit bleibe nur die Einstellung übrig.

Eine zweite Einstellungsmöglichkeit ergab sich aus dem Grad der Wahrscheinlichkeit, den es erforderte, „um einen Angeklagten unbedenklich vor Gericht zu stellen“604. Damit sprach Jagemann das Erfahrungswissen an, über das der Staatsanwalt alle relevanten Faktoren – Delikttyp, Konfliktlage, Interessen und Charisma der beteiligten Personen, Öffentlichkeitswirksamkeit und gesellschaftliche Relevanz605 – in seine Fallentscheidung einzubeziehen hatte. Er müsse all diese

„Momente […] abwägen“, wofür „die Erfahrung die beste Lehrmeisterin“ sei.606 Der Staatsanwalt benötigte hier also, ebenso wie später der Richter, das Judiz.

Außerdem sprach Jagemann für eine dritte Einstellungsmöglichkeit noch die Tatumstände an, die in der heutigen Strafrechtsdogmatik als Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe und bei der Strafzumessung bekannt sind. Damit wollte er

603 Jagemann (1849), 229; etwa müsse bei mutmaßlicher Tötung eine Leiche vorhanden, bei Notzucht der Widerstand bewiesen sein.

604 Jagemann (1849), 229.

605 Jagemann (1849), 229 f.: Einzubeziehen sei, dass „in politischen Processen eine Beurtheilung immer s c h w e r e r herbeizuführen“ sei und Eigentumsdelikte „in der Regel s c h ä r f e r als […]

Verbrechen gegen die Person“ verurteilt werden; dass es „auf das Ansehen und die Gunst“ der Strafverteidiger „bei dem Publikum“ ankomme und auch auf „die Ansichten und Vorurtheile“, die sich hinsichtlich des Beschuldigten „bereits im Publikum gebildet“ haben; auf den

„Gerechtigkeitssinn Aller“ und auf den Effekt, den das Urteil erzielen solle. Der könne auch darin liegen, dass „Zweifel geschlichtet“ werden müssten, was insbesondere für „Causes Célèbres“

zutreffe. Der „gewandte Staatsanwalt“ müsse auch „zu erkunden verstehen, ob die Stimmung des Volkes für oder gegen die anzuklagende Person ist“.

606 Jagemann (1849), 229 f.

„dickleibige Acten, herausgekünstelte Urteile“ und Missverhältnisse zwischen verhängtem Strafmaß und normativem Unwertgehalt des Verbrechens vermeiden.607 Bei der Bewertung der Tatumstände solle der Staatsanwalt dem „gemeinen Menschenverstand“ Rechnung tragen und „die Stimme der Natur hören“, nicht hingegen den „abstracten Maßstab der legislativ-modernen Casuistik“ und die

„Begriffsbestimmungen der Wissenschaft“ anlegen. Dadurch könne der Staatsanwalt

„unmenschliche“ Entscheidungen vermeiden und er dürfe hier deswegen auch

„Gnade für Recht“608 ergehen lassen. Die Fallbeispiele, die Jagemann dazu anführte, bezogen sich auf armutsbedingten Diebstahl.609 Hier gestand er dem Staatsanwalt eine nicht-rechtliche Begründung seiner Entscheidung zu – Menschlichkeit statt Sachlichkeit, Gnade anstelle von Rechtsbegriffen. Die Stimme der Natur war zwar nicht (mehr) die Stimme des Rechts. Gleichwohl durfte der Staatsanwalt, wenn die sozialen Bedingungen des Rechtsfalles zu offensichtlich waren, die Strafverfolgung einstellen. In diesem Sinne betrieb der Staatsanwalt bei Jagemann über das Strafverfahren Sozialpolitik.

Nicht nur an der Richter-Analogie zeigt sich also, dass die Einstellung für Jagemann einen originären Entscheidungswert besaß. Er stellte sie aber nicht als opportunes Verwaltungshandeln in Kontrast zum richterlichen Urteil. Stattdessen verknüpfte er die Einstellung mit juristischen und richterlichen Maßstäben, etwa beim fehlenden Tatbestandsmerkmal oder implizierten Judiz. Jagemann versuchte, den Beruf des Staatsanwaltes als eigenständig und dem Richteramt ebenbürtig darzustellen. Einen Zuschlag der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung zur Sache der Justiz unternahm er explizit hinsichtlich der methodischen Arbeitsschritte. Dadurch trug er auch der generalisierten Juristenausbildung Rechnung.

An anderer Stelle verband Jagemann die Einstellung gerade mit Maßstäben, an denen die sozialen Bedingtheit des Rechtsfalls evident wurde. Auch hier bewegte er sich aber schon in Rechtsmaßstäben. Bei ihm ging zwar noch verhältnismäßig ungeordnet durcheinander, was die Strafrechtsdogmatik mit den Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen einerseits, mit der Strafzumessung und der Schwere der Schuld andererseits nunmehr kategorial einfängt. Mit „Nothstand“,

607 Jagemann (1849), 231: Das Missverhältnis zwischen einer 14-tägigen Haftstrafe und dem Schuldspruch wegen Tötung stelle sich „wie die Maus zum Elephanten“ dar.

608 Jagemann (1849), 232.

609 Jagemann (1849), 232: „Hungersnoth“; Entwenden „offen liegender Lebensmittel“, um den

„armen Eltern einen guten Tag zu bereiten“; Diebstahl eines Vierundzwanzigkreuzerstücks aus

„großer Noth“.

„Unzurechnungsfähigkeit“ und „Notwehr“ zog aber auch schon Jagemann begriffliche Grenzen gegenüber dem Mitleid, mit dem das Herz des Staatsanwaltes zu kämpfen hatte. Das Mitleid führte Jagemann als emotionales Merkmal einer persönlichen Betroffenheit auf. Deswegen konnte er es an anderer Stelle als Entscheidungsmaßstab für den Staatsanwalt kategorisch ausschließen – die Grundhaltung des Staatsanwaltes gegenüber dem Beschuldigten bestimmte die juristisch-sachliche Pflichtstrenge. Die „Menschlichkeit“ der gesamten Straftat hingegen, die sozial bedingten Fallumstände machte Jagemann durch ein Arsenal an dogmatischen Kategorien operabel. Dass trotzdem etwa bei der Strafzumessung eher Gefühl und Erfahrungswerte anstelle von Rechtsbegriffen herrschten, ist bis heute nur schlecht zu verdecken.610 Das Entscheidungsmoment tritt hier offener zutage, und im Grunde stand der Strafrichter vor demselben Problem wie der Staatsanwalt – dass er die Einbrüche des Sozialen in seine Rechtsentscheidung kaum durch Begriffe, sondern 'nur' durch Bauchgefühl, Erfahrungswissen und Judiz einzufangen vermochte. Darin lag dann, wie in jeder Entscheidung, ein wenn auch schlecht verschleiertes Machtmoment. So war es für Jagemanns Agenda nur folgerichtig, hier einen besonderen Hinweis zu platzieren.

Im Vierten Gebot erläuterte Jagemann dann noch die letzte der Einstellungsmöglichkeiten. Während der Hauptverhandlung konnte die Anklage zurückgenommen und dadurch das Verfahren beendet werden. Neben der Beobachtung, dass diese Option überhaupt bestand, ist zu bemerken, dass Jagemann auf das Image des Staatsanwaltes und nicht auf dessen Arbeit abstellte.

Die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung brachte dem Staatsanwalt die Sorge darum, wie er „angesehen“611 wurde. Wenn sich hier die Beweislage, etwa durch unbrauchbare oder neue Zeugen, gravierend änderte, so musste der Staatsanwalt alles dafür tun, dass er nicht wie ein im „Wahne“ stehender Verfolger erschien, der den Angeklagten nur noch „um jeden Preis als Opfer für die Autorität“ seiner eigenen

610 § 46 StGB. Zum Streit der Juristen über die Qualifizierung der Strafzumessung als „richterliches Ermessen“, „irrationaler Akt“, „echte Rechtsanwendung“ oder [!] „schöpferische Tätigkeit“ s.

Haas (2008), 385 ff. In diesem Sinne klassisch noch Küper (1967), 7 f.: „Noch ungleich größeren Raum nimmt die Wertentscheidung des Richters auf dem Felde der Rechtsfolgebestimmung ein“; hier sei „der Anteil der 'Subsumtion' an der Rechtsanwendung verschwindend gering“ und es trete der „Wertungscharakter des richterlichen Strafzumessungsakts“ zutage.

611 Jagemann (1849), 235.

Behörde als Vertreterin der Regierung, dem ganzen Verfahren zweckentfremdet, verurteilt sehen wollte.612 Die Zurücknahme der Anklage bot Abhilfe.