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C. Inquisitorisches Erbe?

V. Träger der harten Rolle?

Der Staatsanwalt im Strafverfahren ist nicht notwendigerweise mit der 'Verwirklichung' des einen oder anderen Strafprozessprinzips verknüpft. Die Strafreformer selbst hatten darauf im 19. Jahrhundert bereits hingewiesen. Wohl aber scheint die Konzentrierung des Strafverfahrens auf eine öffentliche und mündliche Hauptverhandlung den Ausschlag dafür zu geben, dass der Staatsanwalt „den öffentlichen Ankläger zu machen“736 hat. Wenn das Urteil im Rechtspositivismus als neutraler, werte-loser Akt737 ausgegeben wurde, so war der Gegenpart dieses Urteils die Anklage im Strafverfahren als explizite Beschuldigung, die vom Staatsanwalt vorgebracht und vertreten werden musste.

Gibt es für diese Verfahrenssituation des Staatsanwaltes in der Hauptverhandlung eine differenzierte Beschreibung?

Was sagen Gesetze und Juristen? Die Ausgestaltung in der StPO läuft zunächst auf eine funktionale Vertreterrolle der Anklage in der Hauptverhandlung hinaus. Der Staatsanwalt als gesetzlich festgelegter Ankläger in der Hauptverhandlung – das kann von den Reichsjustizgesetzen der 1870er Jahre an als inzwischen „traditierte Rollenbeschreibung“ gesehen werden.738 Damit wäre auch das in der Studienliteratur geführte Schlagwort der Anklagebehörde eingebracht und bestätigt. Mit Blick auf die Rechtserheblichkeit („de jure“) schränken Juristen diese traditierte Beschreibung allerdings sogleich wieder ein: Der Staatsanwalt als Ankläger in der Hauptverhandlung sei „nicht mehr als eine façon de parler“. Denn wenn er die Anklage verlesen habe, sei die Strafverfolgungs- und Anklagefunktion der Staatsanwaltschaft als Prozesshandlung abschließend vollzogen.739 Nehme man den Strafprozess als rechtlich fixiertes Verfahren ernst – so lässt sich dieser Tenor verstehen –, ist der Auftritt des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung auf einen (im rechtsuntechnischen Sinne) einleitenden, wiederholenden Part beschränkt. Weder liege der Schwerpunkt des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung, noch liege der Schwerpunkt der Hauptverhandlung im Staatsanwalt.

Was sagt die Beobachtung der Praxis? Die „Rolle“ des Staatsanwalts während der Hauptverhandlung wurde zwischen 1977 und 1983, also nachdem sich die Rechtssoziologie an den deutschen juristischen Fakultäten akademisch etabliert

736 Lotz (1849), 1.

737 s. Lahusen (2011), 53 ff.

738 Haas (2008), 13.

739 Alle vorausgegangenen Zitate inklusive: Haas (2008), 15.

hatte, aus „verfahrenssoziologischer“ Perspektive kommentiert: Um die soziale Akzeptanz des strafrichterlichen Urteils zu erhöhen, sei der Staatsanwalt „Träger der harten Rolle“ geworden. Der erkennende Richter könne so „Milde“ walten lassen und dadurch sein Urteil in der Hauptverhandlung akzeptabler machen.740 Das äußere sich etwa darin, dass der Staatsanwalt als „Kontrahent des Angeklagten“ „regelmäßig“ ein Strafmaß beantrage, das über das später verhängte hinausgehe. Er suche „eher symbolisch“ das vom Gericht erwartete Strafmaß zu antizipieren und gebe darauf einen Zuschlag.741 Diese Rollenverteilung „dürfte es dem Angeklagten eher ermöglichen, das […] Urteil zu akzeptieren, da sie den Richter in die Lage versetzt, Güte zu zeigen“.742 Dieser Beobachtung würde die Annahme von Jagemann gleichkommen, der Staatsanwalt befinde sich als Ankläger in der Hauptverhandlung in einer „schwierigen Lage“. Tendenziell spricht auch die Kritikübertragung im juristischen Diskurs für den Staatsanwalt als „Träger der harten Rolle“.743

Eine weitere Perspektive bietet außerdem noch die Sozialwissenschaft an, die sich des Praxisalltags angenommen hat. In den 1990er Jahren stellte man fest, dass die Rolle des Staatsanwaltes in der Hauptverhandlung „im allgemeinen blaß, wenig geschehens-bestimmend“744 und „dynamisch randständig“745 sei. In gruppendynamische Kategorien unterteilt, ließe sie sich am ehesten noch mit der Rolle des Sachverständigen vergleichen.746 Mit der Anklage werde zwar der

740 Wohlers (1994), 38 f., mit einer grotesk anmutenden Kritik an der soziologischen Perspektive, 39: Die Beobachtung, dass der Staatsanwalt „Träger der harten Rolle“ ist, sei „möglicherweise unter verfahrenssoziologischen Gesichtspunkten plausibel“, könne allerdings „aus normativer Sicht […] nicht überzeugen.“ Denn das Verfahrensrecht gebe „keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Staatsanwaltschaft […] die Rolle des Härteren zukommen soll“. Wenn man damit rechtssoziologischen Beobachtungen vorwirft, sie würden normativ falsch sein, weil sie nicht mit den gesetzlichen Vorschriften überein stimmten, begibt man sich in juristischen Subsumtions-Wahnsinn – genauso könnte man der StPO vorwerfen, sie sei falsch, weil die Praxis nicht nach ihr verfahren würde. Die Feststellung, dass Norm und Praxis oft deckungsungleich sind, halten viele Juristen offenbar nur schlecht aus.

741 Marx (1978), 368 f.; Fn. 25.

742 Blankenburg/Sessar/Steffen (1978), 257.

743 s. a. Holtzendorff (1865), 56, zum populären Diskurs: „Der öffentlichen Meinung erscheint die Staatsanwaltschaft wesentlich als eine Anklagepartei […], auch die Stellung der Staatsanwaltschaft zum Richteramt trägt zur Bildung jener Ansicht das ihrige bei.“ Zuletzt bewiesen durch 'Der Spiegel', Nr. 9 / 24. Februar 2014, Titel der Ausgabe: „Die Scharfmacher.

Eine Klage gegen Deutschlands Staatsanwälte“; Leitartikel im Inhaltsverzeichnis: „Ankläger unter Anklage – Plädoyer für eine Reform der deutschen Staatsanwaltschaft“; Titel und Untertitel des Leitartikels: „Die Übergriffigen. Sie sind der Objektivität verpflichtet – und den Einflüsterungen der Politik ausgeliefert: Staatsanwälte haben die Macht, Existenzen zu vernichten. Rechtsgelehrte fordern deshalb mehr Souveränität für die Strafverfolger, aber auch bessere Kontrolle“.

744 Schumacher (1995), 443.

745 Schumacher (1995), 446.

746 Schumacher (1995), 446.

„'Brocken' in die Arena geworfen“, die Konfliktaustragung und -lösung finde nach dem Verlesen der Anklage aber vor allem zwischen dem Gericht und der Verteidigung statt.747 Der Staatsanwalt besetze dabei in den alltäglichen Konstellationen die „Rolle des Zuschauers“, die „dynamisch vergleichsweise gering“ ausfalle.748 Gründe für dieses geringe persönliche Engagement vermutet man in der Behördenstruktur der Staatsanwaltschaft: Der prozessbeteiligte Staatsanwalt trete lediglich als austauschbarer Vertreter seiner Behörde auf. Als Sitzungsvertreter könne er sich oft nicht weiter an der Verhandlung beteiligen, weil er nicht der Sachbearbeiter im Ermittlungs- und Zwischenverfahren gewesen sei und so im konkreten Fall nur geringe Kenntnisse der Aktenlage besitze.749 Im Übrigen stärke die Staatsanwaltschaft die Stellung des Gerichts während der Hauptverhandlung durch grundsätzlich kooperatives – und schwäche sie nicht durch konfrontatives – Verhalten.750 Überhaupt liege die „Hauptarbeit“ der Staatsanwaltschaft „in der Phase vor dem Beginn der Hauptverhandlung“.751

An der Frage nach der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung scheinen gesetzliche Vorgaben, soziologische Beobachtungen und normative Wünsche von Juristen eher wirr miteinander zu kollidieren. Letztere erwarten eine an den Gesetzesvorschriften orientierte, kohärente Entität und zeigen sich irritiert bis entrüstet, wenn sie sich darin nicht bestätigt finden können. Was dann aber mit Blick auf die Rechtsdogmatik als reine „façon de parler“ tendenziell abgewertet wird, entfaltet in juristischer Semantik, im juristischen Wissen und im dadurch konstituierten Selbstbild doch Wirkung. Zumindest dominiert das Schlagwort der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde bisher jedenfalls in der juristischen Ausbildung. Es hat bisher jedenfalls transportiert, dass der Strafprozess erfolgreich als Anklageverfahren reformiert und die strafrechtliche Entscheidung auf die öffentliche und mündliche Hauptverhandlung konzentriert worden sei.752 Das Schlagwort von der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde kann nicht nur zur

747 Schumacher (1995), 443 f.

748 Schumacher (1995), 444. Dieser Beobachtung unbenommen gegenüber stehen die normativen Handlungsanweisungen in Nr. 127, 128, 136 und 138 RiStBV.

749 Schumacher (1995), 444.

750 Ähnlich Blankenburg/Sessar/Steffen (1978), 257: Es könnten sich „Konflikte zwischen Staatsanwalt und Richter ergeben – wenn und solange nicht das Rollenspiel und die Rollenverteilung zwischen beiden Instanzen gebilligte Übung“ sei.

751 Schumacher (1995), 444 – was den Vorgaben der StPO entspricht, denn danach geht mit Anklageerhebung die Verfahrensherrschaft von der Staatsanwaltschaft auf das Gericht über.

752 Dazu kritisch Koch (2008), passim; (2009), 548.

Rechtsdogmatik in vielfachem, begründetem Widerspruch stehen – es erzeugt aber auch eine Realität.