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C. Inquisitorisches Erbe?

I. Der Richter

3. Die Trennungsthese

Dass der Untersuchungsrichter den Richter 'machte', das war das Problem der Juristen. Inquirierender Richter und erkennender Richter mussten getrennt werden, das war die Lösung der Juristen. Aus der „Forderung, dem Richter die Anklagefunktion abzunehmen“449 resultierte die Forderung, einen anderen „Träger der Anklagefunktion“450 zu schaffen. Der Staatsanwalt als Ankläger war damit zunächst nur ein Restprodukt der Modernisierung des Strafrichters. Als solches interessierte er die Juristen nicht weiter. Kein Wunder, dass der Staatsanwalt in ihren Texten, selbst wenn man sich zum Akkusationsprozess äußerte, nicht ins Leben trat, sondern eher eine periphere Leerstelle bildete. Das hatte sich bereits im juristischen Diskurs der Spätaufklärung angedeutet.

a. Kleinschrod und Filangieri

Die mit den politischen Hoffnungen verbundene Kernidee der Aufteilung der Funktionen von Richter und Ankläger war älter, als die Reformdebatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts es suggerierte. Gallus Aloys Kleinschrod451 unternahm 1800 in seiner Schrift „Über den Werth des Anklage- und Untersuchungsprozesses gegen einander“ einen ersten vorsichtigen Versuch, im Strafprozess einen Ankläger aufzustellen.452 Dabei schrieb er nicht etwa von dem Fiskal, sondern allgemein davon, „daß man obrigkeitliche Personen aufstellen sollte, deren Pflicht darin

447 Bei Wohlers (1994), 25; aus dem Lehrkommentar von 1964. Affirmativ auch Küper (1967), der etwa der preußischen Criminalordnung von 1805 und Strafrechtswissenschaftlern aus jener Zeit vorwarf, die „psychologische Problematik des Richteramts im Inquisitionsprozeß“ vernachlässigt und verkannt zu haben; 117, 122 f.

448 Bei Wohlers (1994), 25; aus dem Aufsatz „Staatsanwaltschaft und Gericht“, der ein Beitrag in der 1944 veröffentlichten Festschrift für Eduard Kohlrausch war.

449 Collin (2000), 45.

450 Collin (2000), 45.

451 Zu dessen wissenschaftlicher Biographie: Ignor (2002), 150 f.

452 Mit einer – 'falschen' – Reformulierung des Kleinschrod'schen Vorschlages Biener (1845), 88, Fn. 33: Kleinschrod habe vorgeschlagen, nach der Generaluntersuchung den Fiskal mit einer Anklage auftreten zu lassen.

bestünde, vorkommende Verbrechen durch Anklage zu verfolgen.“453 Ob man diese Personen öffentliche Ankläger oder Fiskale nenne, war Kleinschrod explizit

„gleichgültig“. Das Leitkriterium bestand für ihn in dem evidenten Unterschied zur Tätigkeit der Richter: „Nur dürfen sie [die obrigkeitlichen Personen] keine Gerichtsbarkeit ausüben, sondern bloß […] anklagen“.454 Für die Forderung nach einer Staatsanwaltschaft konnte man also nur vermeintlich die Autorität eines der Altvorderen455 der deutschen Strafrechtswissenschaft in Anspruch nehmen.

Gleichwohl mit „rechtspolitischer Intention“456 schreibend, hatte allerdings auch Kleinschrod zur Begründung seines Vorschlags eine Autorität angeführt. Er verwies457 auf das „System der Gesetzgebung“ von Gaetano Filangieri458.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts besaß Filangieri in deutschen akademischen Kreisen eine umfassende Reputation.459 Er stellte damals ein echtes Kernpotential für die deutschen Strafrechtswissenschaftler dar: Sie rezipierten ihn „meist ausführlich“460 auf unmittelbarer Ebene.461 Sein Hauptwerk, das „System der Gesetzgebung“, war autoritativer Leitfaden und gedanklicher Treffpunkt. Die deutsche Strafrechtswissenschaft, die sich gerade in „systematischer Entwicklung“

der „Grundbegriffe“, „Grundsätze“, „Grundwahrheiten“ und des „Geistes der Criminalgesetze“462 selbst konstituierte, versprach sich von Filangieri einen universellen Lösungsansatz. Denn das „peinliche Recht“, die „preussischen

453 Kleinschrod (1800), 12.

454 Beide Zitate Kleinschrod (1800), 12.

455 Kleinschrod wird wegen seiner Kontroverse mit Feuerbach und der gemeinsam mit Ferdinand Klein gegründeten und herausgegeben Zeitschrift „Archiv des Criminalrechts“ zu den

„Strafrechtsdenkern der Neuzeit“ gezählt; s. Vormbaum (1998); Ignor (2002), 150 f. Das „Archiv des Criminalrechts“ galt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als die „bedeutendste“ strafrechtliche Zeitschrift; Roth (1999), 304.

456 Roth (1999), 305.

457 Kleinschrod (1800), 11, und dort Anmerkung k): „so hielte ich mit Filangieri und anderen dafür“.

458 Becchi/Seelmann (2000), passim; Hocks (2002), 151 ff. Zur Rezeption von Filangieri in Frankreich: Haber (1979), 158. Filangieri findet sich heute als „Strafrechtsdenker der Neuzeit“ – Vormbaum (1998) – im Kanon der deutschen Strafrechtsphilosophie und in der Strafrechtsgeschichte wieder, nachdem es im 20. Jahrhundert „still“ – Becchi/Seelmann (2000), 47 – um ihn geworden war. Die attestierte „Wiederentdeckung“ von Filangieri scheint in erster Linie im Rahmen einer historisierenden Renaissance zu erfolgen, die etwa den vereinfachten Zugriff auf strafrechtsphilosophische 'Gründungstexte' ermöglichen will.

459 Sie rührte aus der fast synchron erfolgenden Übersetzung seiner Werke in die deutsche Sprache und aus seiner Bekanntschaft mit Johann Wolfgang von Goethe, der ihn in seiner

„italienischen Reise“ angepriesen hatte; Becchi/Seelmann (2000), 99 ff.; 87 ff.

460 Seelmann (1985), 242.

461 Feuerbach etwa für seine strafrechtliche „Zurechnungslehre“; Seelmann (1985), 241.

462 Alle vorangehenden Zitate sind in Werktiteln deutscher Strafrechtswissenschaftler enthalten, die Filangieri rezipierten: Feuerbach, Klein, Kleinschrod, Grolman; zu finden bei Becchi/Seelmann (2000), 46, dort auch Fn. 4.

Gesetze“, die „deutschen Criminalgesetze“, die „positive Gesetzgebung“463 brauchten eine Ordnung, die nicht nur einer „besseren Darstellung des schon vorhandenen Wissens“464 diente. Als Jurist war man nun selbst voll in die positive Rechtsproduktion eingetreten. Das „System der Gesetzgebung“ war mit dem „Glauben an […]

universelle rationale Normen […] eines der letzten Produkte des Aufklärungszeitalters“465. Als „monumentale Konstruktion“466 war es der Versuch einer universal gültigen, philosophischen Systematisierung – der Versuch, das gesamte

„unermessliche Gebäude“ mithilfe von „richtiger und ordentlicher Wissenschaft“467 eben doch zu ermessen. Auf sieben Bücher angelegt, integrierte es nicht nur prozessuales und materielles Strafrecht, sondern umspannte das gesamte damalige Ordnungsgefüge: Politik, Ökonomie, Erziehungswesen, Religion, Eigentum, Familie.468 Das war also eine verlockende Melange für die deutschen Professoren.

Im Sinne eines universellen Lösungsansatzes hatte Filangieri selbst seine Erwartungen spezifisch an Gesetz und Gesetzgebung formuliert: „Das Gesetz ist das Zentrum, um welches herum der Erneuerungsprozess der Gesellschaft kreisen soll.“469 Er plädierte also für umfassende gesellschaftliche Reformen und übertrug dabei seine politischen Hoffnungen auf eine Regelung der Gesellschaft470 durch Gesetze. Diese sollten „öffentliche Gerechtigkeit und Privatsicherheit“471 vereinen und verwirklichen. Damit zeigte sich Filangieri wahrlich als „Kind seiner Zeit“472: Das allgemeine Gesetz war das Medium des Glücks, der politische Hoffnungsträger der bürgerlichen Gesellschaft.473 Es war auch ein umfassendes Regelungsinstrument, das „in letzter Konsequenz die normativen Forderungen auf allen Sektoren des sozialen Lebens“474 durchzusetzen versprach.

463 Auch hierfür: Alle vorangehenden Zitate sind in Werktiteln deutscher Strafrechtswissenschaftler enthalten, die Filangieri rezipierten: Feuerbach, Klein, Kleinschrod, Grolman; zu finden bei Becchi/Seelmann (2000), 46, dort auch Fn. 4.

464 Schröder (2012), 170: Diese war den Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts vorbehalten, die eine „wissenschaftliche Rechtsproduktion jenseits der Argumentations- und Interpretationslehre“

noch nicht kannten.

465 Becchi/Seelmann (2000), 19; 18.

466 Moccia (1979), 206.

467 Beide Zitate aus der Einleitung des Systems der Gesetzgebung, Bd. I; bei Moccia (1979), 207.

468 Becchi/Seelmann (2000), 15 f.; die letzte Veröffentlichung war posthum ein Teilband des fünften Buches.

469 Becchi/Seelmann (2000), 13.

470 Becchi/Seelmann (2000), 14.

471 Filangieri (1786), 101.

472 Becchi/Seelmann (2000), 14.

473 Ogorek (1986/2008), 38; „Das Bürgerliche Gesetz als Hoffnungsträger“, 37 f.

474 Becchi/Seelmann (2000), 14.

Von einem Gesetz, das mit nichts weniger als der Verwirklichung von öffentlicher Gerechtigkeit und privater Sicherheit zugleich betraut war, war der Weg zur praktischen Wirksamkeit nicht weit – das Medium des Glücks fand sich schnell in den alltäglichen Niederungen wieder. So plädierte Filangieri für eine grundlegende Reform der Strafgerichtsbarkeit und erreichte von da aus auch deren Personal, die Richter: Die Fehler des Status quo rührten nicht nur „von der Natur der gegenwärtigen Inquisition“ her, sondern auch „von den Händen, denen sie [die Inquisition] anvertraut ist“.475 Die Kritik an den Richtern476 war die auf Personen herunter gebrochene politische Hoffnung auf bürgerliche Glückseligkeit, Emanzipation und Partizipation. Das „System der Gesetzgebung“ versprach eine Agenda, die das Gesetz als „Hebel zur Veränderung“, zum Aufbrechen traditioneller Privilegien und zur Etablierung bürgerlicher Freiheit und Gleichheit verstand477, zur Forderung nach der Gesetzesbindung des Richters als „rechtspolitische Aussage“478 führte und damit das typische Reformprogramm der Zeit verfolgte.

In der Richterbindung ist aus gesellschaftshistorischer Perspektive eine der wenigen Allianzen zwischen Bürgertum und absolutistischer Herrschergewalt anzutreffen. Das Bürgertum fürchtete den auslegungs- und entscheidungsmächtigen Richter als

„Störfaktor“ für den universellen Vollzug der Gesetze,479 in deren gleichmäßiger Anwendung alle politische Hoffnung lag. Für den Landesherrn bedeutete der Richter ein ähnliches Risiko, denn der Souverän machte über seine 'gute' Gesetzgebung einen umfassenden und abschließend entscheidenden Ordnungs- und Regelungsanspruch geltend. Außerdem rekrutierte sich die Richterschaft jener Zeit aus den Ständen,480 denen das Bürgertum die Privilegien streitig machte, während die absolutistische Zentralgewalt sich bereits seit dem Mittelalter in traditioneller Konkurrenz zu ihnen befand.

Das „System der Gesetzgebung“ bediente in seiner rechtspolitischen Agenda über die Richterbindung also auch diese „beiden Interessenseiten“481. Auch für die

475 Beide Zitate Filangieri (1786), 103.

476 Filangieri (1786), 101: „Könnte man nicht statt der zahllosen Menge subalterner Diener der Gerechtigkeit, welche die Richterstühle Europens erfüllen, die Gesellschaft feindlich verfolgen und den öffentlichen Frieden stören, eine ehrwürdige, obrigkeitliche Stelle errichten, die zu gleicher Zeit das Werkzeug der öffentlichen Gerechtigkeit und der Privatsicherheit wäre?“

477 So mit Hocks (2002), 153.

478 Hocks (2002), 154.

479 Hocks (2002), 153.

480 Hocks (2002), 155.

481 Hocks (2002), 155.

deutschen Strafrechtswissenschaftler war das „System der Gesetzgebung“ wegen einer doppelten Stoßrichtung attraktiv, die es als wahres Brückenprodukt der Übergangszeit in das 19. Jahrhundert auszeichnete: Es zielte auf die rechtspolitische Reform der Gesellschaft ab. Und es bestach mit seinem ideellen „Systembedürfnis“, das als „zentrales Element“ die Seiten durchwirkte482 und das auch die deutschen Strafrechtswissenschaftler verspürten.

In diesem Sinne zog Kleinschrod 1800 eine echte Autorität von universeller Größe für die Lösung seines Problems heran, wenn er „mit Filangieri“ für die Etablierung von obrigkeitlichen Personen eintrat, die „blos anklagen“. Auch Filangieri hatte für eine Trennung des Richters von der Anklage plädiert: „Der Richter verträte dann nicht mehr die Stelle des Anklägers […], der Ankläger müßte der eigentliche Inquisitor seyn; der Richter hätte weiter nichts haben zu thun, als daß er den Werth dieser Beweise untersuchte und richtete“.483 Der Richter, der nichts weiter tat, als richten – das war der anschlussfähige Gedanke, den Kleinschrod über Filangieri mitteilte. Der Ankläger erschien einmal mehr als notwendiges Beiwerk, um das eigentliche Ziel erreichen zu können. Er entlastete den erkennenden Strafrichter auf vielfältige Weise. Wie er dies machte, interessierte die Juristen nicht weiter.

b. Grolman und Wieland

Eine Gesamtschau seines Opus magnum ergibt, dass sich Filangieri nur an wenigen Punkten überhaupt mit dem Richter beschäftigt hatte.484 Auch hatte er das Prinzip eines Privat- und Popularanklägers vertreten und wollte nur zu dessen Ergänzung einen Amtsankläger in Kauf nehmen.485 Ein öffentlicher Ankläger als anschlussfähige Institution für eine Strafprozessreform findet sich bei ihm nicht. Außerdem stellten bei aller politischer Hoffnung Recht und Gerichte – und davon lediglich Strafrecht und Strafgerichtsbarkeit – nur einen Ausschnitt seiner systematisierten Welt dar. Filangieri hatte noch den philosophisch-ideellen Standpunkt der Wissenschaft einer 'guten Politik' eingenommen. Bei genauer Betrachtung konnte und kann sein Werk

482 Becchi/Seelmann (2000), 18.

483 Filangieri (1786), 111.

484 So Küper (1967), 55.

485 So Haber (1979), 158, über Filangieri (1786), 13 ff.: „Die Freyheit oder […] das Recht anzuklagen, gehörte bey einem großen Theil der Nationen, eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch, unter die Vorrechte des Bürgers“; 98 f.: „Wenn also ein Verbrechen begangen wurde und kein Privatankläger vorhanden war, […] nahm man zu Rom Zuflucht zur Inquisition. Gerade dies System sollte man heutzutage annehmen“; 108: Die öffentlichen Ankläger sollten „auf die Urheber solcher Verbrechen, bey denen kein Privatankläger vorhanden ist“, inquirieren.

deswegen nicht konsistent der Forderung nach einem amtlichen Ankläger dienen.

Kleinschrod bot mit seinem Verweis auf Filangieri keine lineare Ableitung an, sondern stellte einen symbolischen Bezug her – zu einem der damals bekanntesten Vertreter der französisch-italienischen Spätaufklärung, von der aus die allgemeinen Reformforderungen an das Strafrecht, die als Anstoß aller Rechtsreformen des 19.

Jahrhunderts gelten können,486 ihren Ausgang genommen hatten. Wenn man noch nach historischer Linearität suchen möchte, mag die Idee, dass Richter und Ankläger zu trennen seien, dort einen ihrer Ausgangspunkte gehabt haben.

Filangieri und Kleinschrod waren mit dieser Idee in der Spätaufklärung jedenfalls nicht allein. Auch Karl Ludwig Wilhelm von Grolman (1798) oder Ernst Carl Wieland (1784) traten der Trennungsthese bei: Der Richter sollte richten und nicht anklagen.

Dabei zeigte sich aber, dass die Optionen, wer anstelle des Richters die Anklage übernehmen solle, noch offen waren.487 Fest stand lediglich, dass ein Staatsdiener die Anklage vertreten müsse. Das war das Projekt von Kleinschrod, der sich indifferent gegenüber der konkreten Ausgestaltung des Anklägeramtes gezeigt und lediglich auf beliebige „obrigkeitliche Personen“ verwiesen hatte. Auch Grolman lag mit der Sorge, dass „bey dem Untersuchungsproceß der Angeschuldigte […] auf den Wahn fallen könne, daß er von seinem Ankläger gerichtet werde“488, auf dieser Linie.

Er schlug dann aber vor, dass „entweder die Einrichtung getroffen werde“, „daß ein dazu bestimmter Staatsdiener als öffentlicher Ankläger auftreten müßte [...], oder, welches vorzüglicher scheint, es sollte das untersuchende Collegium von dem entscheidenden getrennt werden.“ Grolman setzte also ganz auf die Gerichte. Er vertrat damit eine rechtsinterne Lösung des Problems, wie er überhaupt dem gerichtlichen Verfahren großen Wert beimaß489.

Ernst Carl Wieland hingegen nahm noch eine dritte Position ein: Als Ankläger wollte er kein richterliches Kollegium einsetzen, weil der „wesentliche Endzweck der Gerichte“ einen „von der Person des Richters unterschiedenen Kläger“ fordere490. Es war ihm aber auch nicht gleichgültig, wer mit der Anklage betraut wurde. Er schlug vor, dass man den Ankläger aus den Polizeiobrigkeiten rekrutiere, „in allen Fällen, wo

486 Ogorek (1986/2008), 41 f.

487 Dieser konzeptuelle weiße Fleck zog sich bis in die Reformdebatte des 19. Jahrhunderts hinein, s. Collin (2000), 45.

488 Grolman (1798/1998), 85, § 175.

489 „Theorie des Gerichtlichen Verfahrens in Bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“, zuerst 1800; 5. Aufl.

1826.

490 Wieland (1784), 240.

es auf die Verfolgung der Rechte des beleidigten Staates ankömmt“.491 Wieland hob den Ankläger als 'staatliche Person' besonders gegenüber dem geschädigten

„Bürger“ hervor492 und akzentuierte damit das staatliche Gewaltmonopol. Aber auch gegenüber den Gerichten setzte er Akzente. Von der Obrigkeit und der Polizei versprach sich Wieland das effektivste Vorgehen dafür, „die erste und sicherste Nachricht einzuziehen“493 und „sowohl Störung als auch Störer der Sicherheit und Ordnung zu beobachten und ans Licht zu bringen“494. Die Richter könnten diese Aufgabe nicht erfüllen, weil ihnen die nötigen Ressourcen nicht zur Verfügung stünden.495

Diese Vorschläge aus dem juristischen Diskurs der Spätaufklärung lassen sich dadurch kennzeichnen, dass sie bereits die Trennung des erkennenden Richters von der Anklage forderten, aber die Frage der Übernahme der Anklage noch nicht klärten. Ähnlich wie in Sachen der Immediat-Kommission bestand noch die Möglichkeit, dass die Gerichte selbst – wieder – die Aufgabe der Anklage wahrnehmen konnten. Dieser Option schlug die progressiv verschärfte Kritik am Untersuchungsrichter als 'Richter' immer stärker entgegen. Andererseits stand auch die Option der Anklageübertragung auf Polizeibehörden, für die Wieland sich stark gemacht hatte, noch nicht außer Frage. Sie wurde aber mit erstarkender Opposition zwischen zentraler monarchischer Regierung und bürgerlicher Gesellschaft als politische Forderung immer unpopulärer.

491 Wieland (1784), 241.

492 Wieland (1784), 241: Personen aus der Polizeiobrigkeit würden sich „weit besser zu Klägern schicken, als selbst diejenigen Bürger oder Unterthanen, die der schädliche Einfluß des […]

Verbrechens zunächst betroffen hat“.

493 Wieland (1784), 241; effektiv deshalb, weil zu den polizeilich primären „Pflichten die genaueste und sorgfältigste Aufsicht auf alles, was die Ordnung des Ganzen stören und unterbrechen kann“, gehöre.

494 Wieland (1784), 242.

495 Wieland (1784), 242: Die Polizeiobrigkeiten müssten von Gefahr und Verbrechen stets „weit genauer und besser unterrichtet seyn“ als es der peinliche Richter jemals sein könne; dieser kenne „die Menschen zu wenig“ und habe so viel Geschäftsanfall, dass er seine Unkenntnisse

„ohne fremde Hülfe“ nicht aufarbeiten könne; die Polizeiobrigkeiten hingegen gewährleisteten Untersuchungen, die „mit wenigern Schwierigkeiten verbunden seyn“ und „theils auch eher geendigt“ werden würden.

c. Mittel zum Zweck

„Das Unmenschliche, Unnatürliche, Monströse der Funktionenvereinigung von Ankläger und Richter ist oft betont worden,“496 so lautet ein Fazit aus der Rechtsgeschichte. Es waren aber erst die Reformjuristen in der Mitte des 19.

Jahrhunderts gewesen, die diese Betonung so stark gemacht hatten. Sie selbst zeigten damals angesichts der Frage, was „von der Vereinigung des Anklägers und des Defensors in der selben Person des Richters zu erwarten“ sei, bereits Ermüdungserscheinungen. Es sei nämlich „eine schon oft wiederholte, in sich gegründete Ansicht, daß die Vereinigung der Rollen […] zu unnatürlich sey“.497

Was sagten die Reformjuristen damit aber über den Ankläger? Wenig. Nur über den Richter kamen sie überhaupt auf ihn zu sprechen – in diesem Verhältnis lag offensichtlich ein Problem. Die Trennungsthese wurde Teil bekannter reformatorischer Forderungen, die in den Kontext der „politischen Konzepte der Liberalen“ gestellt werden und in der „noch aufzubauenden bürgerlichen Gesellschaft“ als Platzhalter politischer Forderungen nach „Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit“ galten498. Nicht nur für das Strafverfahren, sondern auch in der konstitutionell-parlamentarischen Reformbewegung versprach man sich von einem

„öffentlichen Verfahren, das Gegenmeinungen zuließ“, von „Publizität“ und

„Mitwirkung“ die Sicherung von „hochrangigen Bürgerrechten“.499 Das die Bürgerlichen übergreifende Ideal hieß „Gerechtigkeit durch Partizipation möglichst vieler“500. Dafür waren „Rechtsreformen […] als Verkörperung der Grundprinzipien einer gerechten Gesellschaft“501 eine zielführende Strategie, da für das positive Recht als „Regelungsmaterien“502 grundsätzlich alles in Frage kam. Zumindest war das allgemeine Gesetz ein geeignetes Mittel, emanzipatorisch an das „Aktionsfeld der Regierung, der gemeinwohlbezogenen politischen Gewalt“503 heranzutreten.

Diesen Bewegungen folgte man schon 1814, wenn man zwar über den Untersuchungsrichter schrieb, aber eigentlich nicht vom Felde der Strafrechtspflege

496 Küper (1967), 113.

497 Hepp (1842), 47. Allgemein zur Strafreform auch Molitor (1843), 8: Sie sei „in allen Theilen so vielfältig erörtert, daß es schwer sein dürfte, […] eine neue Seite abzugewinnen.“ Er machte sich natürlich trotzdem ans Werk.

498 Habermas (2008), 167.

499 Ogorek (1986/2008), 346.

500 Habermas (2008), 173.

501 Habermas (2008), 169.

502 Ogorek (1986/2008), 347.

503 Ogorek (1986/2008), 347.

kam, sondern sich zur primären Aufgabe das politische Plädoyer für die „Trennung der rechtsprechenden von der verwaltenden Behörde“504 gemacht hatte. Solche Hoffnungen richteten sich auf Partizipation505 und auf Verwirklichung von

„Gerechtigkeit“506 durch die von den „Regierungsgeschäften“ geschiedene Justiz:

„Der richterliche Stand ist der erste im Staate, […] denn von ihm gehen Recht und Ordnung[,] die einzigen Bedingungen der Wirksamkeit der gesellschaftlichen Verbindungen aus“507.

Die Kritik am Inquirenten mag zudem Ausdruck einer unmittelbar politisch motivierten Kritik am Status quo nicht nur der Staatsorganisation, sondern auch der Strafverfolgung gewesen sein. Das wurde evident, wenn die Juristen den mangelnden rechtlichen Schutz des Angeschuldigten in den Territorialstaaten beklagten, eine effektivere Verteidigung garantiert haben wollten und sich dafür auf die bürgerlichen Freiheiten und insgesamt auf die politischen Programme der bürgerlichen Gesellschaft beriefen508. Nicht alle Reformjuristen nahmen freilich diese Perspektive ein. Und selbst innerhalb des bürgerlichen Lagers zeigten sich ebenso schillernde, interne Abstufungen, wie der Reformdiskurs insgesamt kaum durch separate, konsistent nachzuweisende politische Lager oder einen staatsrechtsphilosophischen Tenor zu kategorisieren ist509.

Dass speziell der Inquirent zum Angriffspunkt der juristischen Kritik wurde, stellte dann aber eine Verschiebung innerhalb des juristischen Denkens und Wissens dar, die 'den Richter' als neuen Richter im Strafverfahren überhaupt erst konstruierte. Als

504 Oesterley (1814), 27 ff.

505 Oesterley (1814), 27: „Verwalten ist die Sache eines Einzigen; Richten das Geschäft Mehrerer“.

506 Oesterley (1814), 28: „Die Verwaltung der Gerechtigkeit“ als Tätigkeit der Justiz bedeutete den Schutz der „Rechte“ und des „Eigenthum[s] eines jeden Einzelnen“.

507 Oesterley (1814), 29 f.

508 Dazu etwa Köstlin (1849), 98: „Wer dem Angeschuldigten die Stellung einer Parthie im bürgerlichen Prozesse zu verschaffen trachtet, der huldigt einem falschen Liberalismus“. Molitor (1843), 4, mit Anmerkungen 4 und 5: Mittermaier habe „Bedenklichkeiten von dem politischen Standpunkte“ geäußert; Abegg gehöre zu den „Koryphäen der conservativen Seite“; Biener (1845), 73: „Diejenigen, die dem Liberalismus huldigen“. Siemann (1987), 205 f., verweist allgemein auf „rechtsstaatliche Verheißungen“, die der „Kränkung bürgerlicher Freiheit“ in Strafverfahren Einhalt gebieten sollten.

509 Haas (2008) hat den Versuch unternommen, die Debatte nach dem „Staatsverständnis“ der Reformjuristen zu ordnen – was allerdings ihrem Textkorpus und dem Denken überhaupt eine schablonenhafte Konsequenz unterstellt, die sich nicht so recht bestätigt finden lassen will; 115 f.: „Infolgedessen beschränkte sich die Intention dieses Teils der Reformanhänger darauf, […]

ein im Vergleich zum Inquisitionsprozess zweckmäßigeres Verfahrensmodell einzuführen [...], das eine größere Gewähr […] für die Wahrung der bürgerlichen Freiheiten des Beschuldigten

ein im Vergleich zum Inquisitionsprozess zweckmäßigeres Verfahrensmodell einzuführen [...], das eine größere Gewähr […] für die Wahrung der bürgerlichen Freiheiten des Beschuldigten