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F. Im Zivilprozess

III. Ein Nachhall

Die zivilprozessualen Ausfälle, wie sie durch Berninger, Reichensperger oder auch den Braunschweiger Oberstaatsanwalt unternommen wurden, waren nicht durch einen echten Vertretungs- und Entscheidungsanspruch des öffentlichen Interesses im materiellen Zivilrecht motiviert. Sie sollten stattdessen den Widerspruch zwischen öffentlicher Parteilichkeit und richterlicher Objektivität ausgleichen, an dem seit ihrer Einführung die Staatsanwaltschaft trug und der mit der Unterscheidung von Politik und Recht aufgetreten war. Diese Unterscheidung hatte sich aber insbesondere im

984 So etwa Hoepfner (1844), 22: „Die Frage, welches öffentliche Interesse der Staatsanwalt zu vertreten bestimmt [sei], beantwortet sich leicht. Der Staat hat, darf kein anderes haben, als eben das der Gerechtigkeit. Dieses wahrzunehmen, hat er das Richteramt bestellt, […] eine hinzukommende Vertretung durch den Staatsanwalt erscheint als unnöthig.“

985 Ogorek (1986/2008), 303.

986 s. Hoepfner (1844),22.

987 Collin (2000), 131.

strafrechtlichen Proprium der Staatsanwaltschaft mehr als normative Zuschreibung denn als trennscharfes Faktum gezeigt. Zivilprozessuale Kompetenzen bedeuteten für Berninger und seine Mitstreiter, dass die Staatsanwaltschaft aus diesem entlarvenden Schatten des Strafrechts sich lösen, das „Odium“ abwerfen und auf Augenhöhe zum Richter treten könnte und so einen eigenen Schatten werfen würde.

Das Bedürfnis, dem Berninger und Kollegen nachkamen, könnte man juristisch-justizielle Konsolidierung nennen. Dafür waren als Strategie zu Beginn der Mitte des 19. Jahrhunderts solch zivilprozessuale Ausflüge offenbar noch legitim.

Gegenwärtig hingegen residiert die staatsanwaltschaftliche, juristisch-justizielle Konsolidierungsstrategie hartnäckig in der rechtspolitischen Debatte um die Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaft. Mit der materiellen Spezialisierung der Staatsanwaltschaft auf das Strafrecht hat also zugleich auch eine Verschiebung der Konsolidierungsstrategie eingesetzt: Letztere verstreut sich nicht mehr auf eine auch außer-strafrechtliche Kompetenzausweitung, wie auf das Zivilverfahren, oder auf eine Tätigkeit als Kontrollinstanz gegenüber den Gerichten, wie es im Begriff des Gesetzeswächters anklang. Man hat vielmehr die Konsolidierungsstrategie ihrerseits den internen Bedingungen angepasst. Der Makel, das Odium der Staatsanwaltschaft besteht zwar weiterhin noch in dem Parteilichkeitsvorwurf. Die in Betracht kommenden Optionen für eine „Heilung“ der Staatsanwaltschaft hingegen bestimmen sich nun ausschließlich nach den Koordinaten von Einschluss in das oder Ausschluss aus dem Rechtssystem mit den Gerichten als Zentrum. Den lautesten Stimmen zufolge liegt die Rettung in einer stetigen Annäherung des Status der Staatsanwaltschaften an die richterliche Unabhängigkeit988. Sämtliche aktuellen Reformvorschläge beziehen sich auf das Weisungsrecht der Staatsanwaltschaft.989 Sie lassen sich grundlegend in zwei Modelle unterscheiden: In ein justizförmiges Modell – „grundsätzliche Unabhängigkeit des Staatsanwalts“, „Wegfall des Weisungsrechts“ kompensiert durch „etwa einen Instanzenzug“ – und in ein exekutivförmiges oder jedenfalls nicht-justizförmiges Modell – „Beibehaltung des bisherigen Weisungsrechts“ und „zusätzliche Kontrollen, etwa durch

988 Zur richterlichen Unabhängigkeit als Forderung der Justiz selbst und damit als „Versuch […], die Gewinne aus der klassischen Unabhängigkeitslehre zu sichern und in Richtung auf eine weitere Verselbstständigung auszubauen“ und den eigenen Status zumindest zu stabilisieren: Simon (1975), 8; 45; 47 f.

989 In einem Diskurs, der sich seit 150 Jahren wiederholt; s. etwa Holtzendorff (1865), passim;

Carsten/Rautenberg (2012), passim; Weiß (2005), passim und 27-36.

Konfliktkommissionen oder Gremien“.990 Aber gerade mit diesen Kategorien folgt man der Dichotomie von Justiz und Verwaltung, der Unterscheidung von Recht und Politik. Das bedeutet also auch für die Konsolidierungsstrategie eine strukturelle Klärung. Die Option „Staatsanwaltschaft mit zivilprozessualer Funktion“ ist in dieser Struktur weggefallen.

Sie hatte im Geschäftsalltag der Staatsanwälte auch nur geringe Bedeutung. Schon 1851 hatte der Staatsanwalt einsehen müssen, dass sein Arbeitswille in Ehesachen auf keinen fruchtbaren Boden stieß. Die eigene Behördenverwaltung passte sich diesem Umstand an. So regelte etwa die Geschäftsordnung für das Sekretariat der Staatsanwaltschaft bei dem Herzoglichen Landgericht Braunschweig 1904 die Zivilprozesssachen insgesamt mit nur einem Paragraphen, während man den Strafsachen neun Paragraphen widmete.991 In den 1920er Jahren schließlich bezeichnete man die zivilrechtliche Tätigkeit des Staatsanwalts abschätzig nur noch ein nutzloses „Dekorationsmöbel“; dies freilich mit dem neuen Ziel, „daß der Staatsanwalt von aller überflüssigen Arbeit befreit werden muss.“992

Die Konsolidierungsstrategie über zivilrechtliche Kompetenzen hatte die Zugkraft verloren, die sie in den späten 1850er Jahren noch besaß. Ein Staatsanwalt im Zivilverfahren war überdies zum Symbol für Arbeitsüberlastung geworden. Für die Etablierung der Staatsanwaltschaft hatte man in den 1840er Jahren gerade die Übernahme aller Arbeit, die nicht als Ausfluss des richterlichen Amtes angesehen wurde, als befürwortendes Argument eingesetzt. Fast hundert Jahre später machte sich eine Verschiebung dieses Argumentes bemerkbar: Von den Gerichten war die überflüssige Arbeit zu den Staatsanwaltschaften gewandert. Ein gravierender Unterschied bestand aber. Die überflüssige Arbeit des Straf- und Zivilrichters hatte in den 1840er Jahren ihren Maßstab im Kern des richterlichen Amtes schlechthin: Im Rechtsprechen, im Urteil. Die überflüssige Arbeit des Staatsanwalts in den 1920er Jahren hingegen fand ihren Maßstab in der „nicht kriminalistischen Tätigkeit“993, also in einer Spezialisierung auf das Strafrecht.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatten sich also die Grenzverläufe geklärt.994

990 Krebs (2002), 173 ff.

991 NLA Wolfenbüttel, 12 A Fb. 3, Nr. 247 a; § 21: „Ehe-, Kindschafts-, Entmündigungssachen und Anfechtungen von Todeserklärungen“; §§ 22-30: Strafsachen.

992 Beide Zitate bei Schmidt (1921), Sp. 271.

993 Schmidt (1921), Sp. 272.

Eine Staatsanwaltschaft im Zivilverfahren konnte sich in dieser Struktur ebenso wenig etablieren wie der allgemeine „Gesetzeswächter“, der die Richter im Urteilsstil korrigierte oder sonst wie die richterlichen Tätigkeiten auf Professionalität hin überprüfte. Die Zuständigkeit für die Ehe(scheidung) blieb als Konsequenz der stabilen Bastion aus säkularisierter Moral und Reproduktionspolitik am längsten erhalten. Auch sie wurde für die Staatsanwaltschaft aber schließlich auf das Strafverfahren konzentriert. Für eine breit konzipierte Staatsanwaltschaft, die auch in Ehescheidungsfällen, in Entmündigungs- und Vormundschaftssachen beteiligt sein sollte, trat sukzessive eine Spezialisierung ein. Von einer verfahrensmäßigen Allzuständigkeit wandten sich die Staatsanwälte ihrem „alleinigen berufsmäßigen Zweck“995 zu.

Die Allzuständigkeit entsprach den Problemlagen des institutionellen Umbruchs, die bereits angefangen hatten, sich auf andere Weise zu lösen. Vom politischen Ordnungsanspruch blieb für die Staatsanwaltschaft das „Odium“ der Parteilichkeit, das sie zu tragen hatte. Die Staatsanwaltschaft, wie sie im 19. Jahrhundert für den Zivilprozess oder als 'Überwachungsorgan' konzipiert gewesen war, war ein Nachhall bereits überholter Probleme. Von Beginn an blieb das Strafverfahren übrig.