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F. Im Zivilprozess

II. Eine Konsolidierungsstrategie

Es war ein Staatsanwalt, A.B. Berninger966, der 1861 nochmals Anlauf genommen hatte, seine Behörde in Zivilverfahren zu platzieren. Anlass seiner Schrift waren die Reformdebatte, die vom initialen Streitplatz des Strafrechts auf die zivilrechtlichen, bürgerlichen Prozessfragen übergegriffen hatte, und die anlaufende Gesetzgebung zur bundeseinheitlichen Zivilprozessordnung.

Berninger zeigte sich erbost über den Entwurf einer Zivilprozessordnung für das Königreich Sachsen, die den Staatsanwalt nicht – mehr – in den Zivilprozess integrierte. Er befürchtete, dass die Staatsanwaltschaft deswegen überall als reine

„Straf-Staatsanwaltschaft“967 gelten und in einer bundeseinheitlichen Zivilprozessordnung keinen Platz finden würde. Allerdings kam er nicht umhin einzugestehen, dass die Staatsanwaltschaft „für das Strafverfahren eine viel weitgreifendere Bedeutung hat, als für den Civilprozeß“968. Worin diese Bedeutung

966 Berninger war 1861 Staatsanwalt am Appellationsgericht zu Eisenach; später Oberstaatsanwalt, so ist es zumindest den Anlagen zu den Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes zu entnehmen (Bd. 3, Berlin 1870, 28).

967 Berninger (1861), 19; eine solche Beschränkung laufe gegen die „naturgemäße Gestalt“ der Staatsanwaltschaft.

968 Berninger (1861), 20.

bestand, führte er nicht weiter aus. Stattdessen berief er sich auf Evidenz: Die wichtigen Interessen, die der Staat wahrzunehmen habe, seien in den Strafverfahren

„unmittelbare und in die Augen springende“969. So konnte Berninger für sein Anliegen einer zivilprozessualen Staatsanwaltschaft nur zwei Argumente anbringen, die derart allgemeiner Natur waren, dass man sie gut zwanzig Jahre zuvor bereits für eine Staatsanwaltschaft im Strafverfahren genannt hatte. Als zivilprozessuale Spezifika eigneten sie sich nicht. Zum einen führte Berninger die Aufgabe der Staatsanwaltschaft als Gesetzes-, Verfahrens- und Gerichtswächter an; zum anderen das Interesse des Staates, das potentiell auch in Privatsachen immer bestünde970. Er bot also keine zivilprozessuale Verfeinerung an, sondern eine Rückkehr auf eine unbestimmte totale Basis. Bestimmte materielle Kompetenzen der Staatsanwaltschaft im Zivilprozess – wie die Antragsberechtigung in Vormundschaftssachen, das Dogma des favor matrimonii in Ehescheidungssachen oder die Stellung als Hauptpartei – interessierten ihn nicht.971

Seine gesamte weitere Argumentation spiegelte genau ein Problem wider, nämlich das der Unabhängigkeit der Gerichte von Regierung und Politik. Berninger wehrte den Verdacht ab, die Staatsanwaltschaft, ob im Straf- oder Zivilverfahren, stelle per se eine Bedrohung für die Unabhängigkeit der Richter und Gerichte dar.972 Er drehte den Spieß um, indem er behauptete, die Staatsanwaltschaft belaste nicht den Richter in seiner Unabhängigkeit, sondern sie entlaste ihn. Denn ohne eine Staatsanwaltschaft müsse der Richter das Interesse des Staates berücksichtigen, wahrnehmen und sichern.973 So versuchte Berninger auch ein Argument aus dem

969 Berninger (1861), 21.

970 Berninger (1861), 21: Der Staat „k a n n in allen [Privatrechten] berührt werden“.

971 Explizit Berninger (1861), 45: „Die Rolle einer H a u p t p a r t e i steht im Widerspruch mit der Aufgabe der Staatsanwaltschaft, und es will uns, obwohl die Gegner gerade an dieser partie principale am wenigsten Anstoß nehmen, nicht passend erscheinen, d e n Beamten als Hauptpartei auftreten zu lassen, der keinen anderen Zweck verfolgt als den, eine den G e s e t z e n entsprechende, nach b e i d e n Seiten gerechte Entscheidung des Rechtsstreits herbeizuführen.“

972 Das bezog sich vor allem auf die Entscheidungsmacht – die Staatsanwaltschaft solle das legitime staatliche Interesse an einer zur richterlichen Ansicht alternativen Gesetzesauslegung im Verfahren vertreten. Darin liege kein „mit der Würde des Gerichts nicht verträgliches Schulmeistern“, Berninger (1861), 38, da die exzellente Ausbildung der Richter für sich spreche.

973 Dies ist freilich eine Aussage, die sich aus der jeweiligen Perspektive bestimmte – ein Gerichtsassessor meldete 1861, dass „im Schoße der deutschen rechtsrheinischen Gerichte […] eine unverkennbare Abneigung, ein entschiedener Widerwille gegen das Institut der Staatsanwaltschaft“ herrsche, zitiert bei Berninger (1861), 40. Dagegen konnte man als Staatsanwalt nichts anderes einwenden als den frommen Wunsch, „daß das unselige Mißtrauen der Gerichte, insoweit es wirklich noch bestehen sollte, recht bald verschwinden möge!“, Berninger (1861), 40.

Vormärz wiederzubeleben, das des Staatsanwalts als richterliche Entlastung, gewissermaßen als interne Dienstleistung in der Rechtspflege: Es sei die Staatsanwaltschaft, die „den Richter in den Vollgenuß seiner Rechte setzt, indem sie […] ihm nur die heilige Verpflichtung übrig lässt, in stiller Meditation das Recht und Unrecht abzuwägen“974.

Diese Verteidigungslinie führte Berninger 1861 nicht ohne Grund an. Mit Mittermaier hatte sich inzwischen selbst der prominenteste Befürworter einer Staatsanwaltschaft aus den liberalen Reformdebatten der 1840er Jahre misstrauisch und ablehnend gegenüber der inzwischen etablierten Behörde gezeigt975. Die bei Mittermaier abzulesende Entwicklung steht für das Scheitern der liberalen Forderungen in der Reaktionsphase. Selbst die Richterschaft als Refugium der letzten politischen Hoffnungen war bereits auf dem Weg, sich im aufkommenden Wilhelminismus zu entliberalisieren976.

Berningers Versuch, in den 1860er Jahren eine zivilprozessuale Rolle für die Staatsanwaltschaft festzuschreiben, hatte sein Motiv also in Verteidigung und Abgrenzung. Die Staatsanwaltschaft war politisch motivierter Kritik ausgesetzt und Berningers Replik könnte deswegen als ebenso politisch gewertet werden, bot in dieser Hinsicht allerdings nicht mehr als die Argumente von vorgestern an.

Die Aktualität seiner Replik lag in einer Eigenwerbung für die Staatsanwaltschaft als

„naturgemäße“ Behörde. Berningers Text verdichtete sich zu staatsanwaltschaftlicher Standespolitik. Für die preußische Staatsanwaltschaft in Strafverfahren steht der Befund, dass sich die noch junge Behörde über möglichst weitreichende Kompetenzen zu konsolidieren versuchte.977 Diesen Weg schlugen etwa auch die Oberstaatsanwälte in Braunschweig ein, wenn sie sich für eine Erweiterung der staatsanwaltschaftlichen Kompetenzen in Ehescheidungs- und

974 Noch einmal Braun (1845), 14.

975 Auf den Wandel von Mittermaiers Ansichten bezieht sich Berninger explizit, (1861), 21.

976 Ormond (1994), 562 ff.: Ausschlaggebend für die Entliberalisierung der Richterschaft, also für den „Rückgang insbesondere linksliberalen Denkens und Handelns“, seien weniger die Disziplinierungs- und Personalpolitik durch die politischen Dienstherren, sondern eher die

„Gesellschaftsstrukturen, Traditionen, politische Kultur, politische Rahmenbedingungen“

gewesen. Damit ist allgemein den Wilhelminismus und die Refeudalisierung gemeint;

justizspezifisch der Abgang der Liberalen aus der Richterschaft in die Kommunalverwaltung und in den durch die Freigabe der Advokatur gewandelten Anwaltsberuf, wodurch sich zwei nach Profession aufgespaltene politische Lager bildeten.

977 Collin (2000), 130: „Staatsanwälte forderten eine Erweiterung ihrer Befugnisse in Bezug auf die Kontrolle der Gerichte und die Übertragung von Aufgaben der Strafvollstreckung“; s.a. 407.

Collin interpretiert dieses Vorgehen als Strategie, sich gegenüber den Gerichten als eigenständige Behörde abzugrenzen.

Entmündigungssachen einsetzten.978 Auch Berninger schrieb an einer solchen Konsolidierung mit. Diese zielte auch ab, die Staatsanwaltschaft in ihrer Rolle als

„Straf-Staatsanwaltschaft“ zu entlasten und als Behörde mit einem ähnlich breitgefächerten Portfolio, wie es den Gerichten grundsätzlich zustand, aufzustellen.

Auch diese Strategie war zuvor schon angeklungen979 und darum bemühte sich auch wenig später in den Sitzungen zur ReichsCPO der Abgeordnete Reichensperger, wenn er die Staatsanwaltschaft dem „Odium“ entziehen wollte, dem sie durch das Strafrecht ausgesetzt war.

Deswegen wurde auch die Wahrnehmung des öffentlichen Interesses als staatsanwaltliches Standesdogma ausgegeben980 und in diesem Kontext begrifflich zweifach981 besetzt: Zum einen als politischer und damit als nicht-rechtlicher Begriff, oft in wortwörtlicher Gleichsetzung mit staatlichem Interesse. Dadurch erfüllte das öffentliche Interesse die Funktion der „Hinausweisung der Politik aus dem Recht“982 und diente so der Justiz und den Richtern zugleich zur Abgrenzung gegenüber der Regierungsmacht. In diesem Sinne trug seine Zuweisung an die Staatsanwaltschaft zu deren Positionierung als Exekutivorgan und dem Verdacht der Parteilichkeit bei.

Zum zweiten besetzten vor allem die Staatsanwälte, die wie Berninger standespolitisch agierten, den Begriff des öffentlichen Interesses sinngemäß mit 'Gemeinwohl', wie dieses als material aufgeladene Staatsräson983 verstanden wurde.

Die Wahrnehmung dieses mit Gemeinwohl angefüllten öffentlichen Interesses, das dem Besten der Gesellschaft diente, war eine ehrenvolle Aufgabe. Als Aufgabe der Justiz wurde es auch noch mit dem Schlagwort der Gerechtigkeit angereichert. So ist wenig verwunderlich, dass in diesem zweiten Begriffskontext immer wieder der

978 Henne (1995), 155.

979 Braun (1845), 17: Mit zivilprozessualen Zuständigkeiten erreiche man, dass die Staatsanwaltschaft „nicht eine einseitige, bloß auf Strafsachen gehende und daher befangene Stellung erhielte“, wie sie bei Beamten erscheine, „die sich lediglich mit Untersuchungssachen beschäftigen.“ Braun bezog sich weiter explizit auf die sächsische, „Polizei und ihr Zubehör an Gens d'armen, Officianten u. dergl.“, deren Arbeit sich inhaltlich mit den Zuständigkeiten des französischen Staatsprokurators treffe; die aber im Gegensatz zu jenem, der seine

„Untersuchungen, Zeugenverhöre, Verhaftungen“ später vor Gericht rechtfertigen müsse und dadurch einer Selbstzensur unterliege, eine „beinahe unumschränkte Gewalt“ habe; 19. Braun sah diese unkontrollierte, befangene Allmacht der Polizei also auf die Staatsanwaltschaft abfärben.

980 Zu diesem Selbstbild Collin (2000), 131.

981 s. dazu auch Cancik (2007), 4: „Das Wort 'öffentlich' kann mithin zwei sehr unterschiedliche Bezugssysteme bezeichnen: Gesellschaft und Staat.“; passim.

982 Stolleis (1974), 4.

983 Stolleis (1974), 8; 11 – wohlgemerkt im historischen Kontext der politischen Umstände der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Hinweis fiel, dass auch die Richter jenes Interesse beachteten und verwirklichen würden und insofern einer korrigierenden Staatsanwaltschaft gar nicht bedürften.984 Dass man dieses Dual des öffentlichen Interesses für das Selbstbild und die Selbstdarstellung der Staatsanwaltschaft beanspruchte, entsprach den Kategorien, mit denen man allgemein eine „Rollentypologie zwischen Justiz und Verwaltung, Justiz- und Verwaltungsbeamten“985 festschrieb. Die Staatsanwaltschaft oszillierte in dieser Hinsicht zwischen den Gewalten. Die Wahrnehmung des öffentlichen Interesses versprach einen materiellen Gehalt, mit dem man als Staatsanwalt seine Arbeit schmücken wollte, wenn man sich als Jurist schon auf die Seite der Verwaltungsbeamten gestellt sah. Damit stellte man sich nicht in Opposition zur Gesellschaft und zu den Bürgerinteressen. Mit einem solchen Schmuck ließ es sich besser aushalten. Zumindest war er so attraktiv, dass man teilweise auch für die Richterschaft Anspruch darauf anmeldete986. Seitens der Staatsanwaltschaft insistierte man damit auch auf einen sachlich-neutralen Anspruch auf Objektivität, wie er das Proprium der Richter geworden war. Damit wollte man das „Odium“ der Parteilichkeit ablegen.

Diese Parallele – das öffentliche Interesse in einem zweifachen Begriffsverständnis und eine neutrale Objektivität – war eine „widersprüchliche Mixtur“987, stellte damit aber genau jene Krux dar, der sich die nun über Recht und Unrecht meditierenden Richter erfolgreich entledigt hatten.