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G. Die Verwaltung des Strafrechts

I. Herrin des Ermittlungsverfahrens?

Mit der StPO verfestigte man die Staatsanwaltschaft nicht nur als „Anklagebehörde“, sondern auch als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“. Letzteres ist bis heute eine

994 Parallelen ergeben sich zur Entwicklung der Polizei: Diese habe „im 19. Jh. eine ganze Reihe von Aufgaben“ verloren, „so daß sie letztlich zur reinen Sicherheitspolizei wurde und insoweit die Rolle der Armee übernahm“, Roth (1997), 425. Diese Ablösung vollzog sich allerdings als Prozess – die „Allzuständigkeit“ der Polizei für die „vielfältigen Aufgaben der Wohlfahrtpflege“, aus der sich dann der „moderne Sozialstaat“ entwickelte, wurde demgemäß erst sukzessive abgelöst; Zitate bei Roth (1997), 425, in der Fn. 1.

995 Nochmals König (1882), 33.

geläufige Bezeichnung für den staatsanwaltschaftlichen Aufgabenradius im Strafprozess und nicht zuletzt gerade bei Juristen argumentativ gerechtfertigt und geschützt.

Allerdings kann man seitens der Staatsanwaltschaft selbst Zweifel an ihrer 'Herrschaft' im Ermittlungsverfahren vernehmen. Bundesanwalt Max Kohlhaas äußerte sich Anfang der 1960er Jahre zu den neuesten Entwicklungen im strafprozessualen Ermittlungsverfahren. Er bezog sich auf Veränderungen im Organisations- und Arbeitsradius der Staatsanwälte. Die Verfahrenspraxis, die

„tatsächliche Entwicklung“ sei seit Einführung der StPO 1877 „von den idyllischen Zeiten, in denen der leitende Staatsanwalt seinen Bezirk noch übersehen und würdigen“ und „an Ort und Stelle erscheinen konnte“, in die „moderne Großstadt“

übergegangen, wo „solcher Überblick völlig verloren gehen musste“.996 Kohlhaas meldete damit strukturelle Zweifel an der Herrschaft des Staatsanwaltes über das Ermittlungsverfahren an. Die Möglichkeit, dass der Staatsanwalt tatsächlich selbst Ermittlungen wahrnahm und maßgeblich bestimmte, war danach grundlegend denkbar nur in zwei Konstellationen. Eine entsprach der Kohlhaas'schen Nostalgie, die andere bahnte sich 1963 gerade an.

Die Konstellation, die Kohlhaas kontrastreich mit den idyllischen Zeiten und der modernen Großstadt zeichnete, soll hier die 'traditionelle Konstellation' genannt werden. 'Traditionell' impliziert dabei keine negative Bewertung997, sondern deutet an, dass eine solche Konstellation zur Lösung von Problemen allein nicht mehr herangezogen wird und zwar auch deshalb, weil in dieser traditionellen Konstellation das Lokale und die Einheit von Zeit und Raum ausschlaggebend sind. Das Privatleben und das Berufsleben fallen hier mitunter zusammen; ein 'Überblick' ist möglich. Das, was man jeden Tag lebt, sagt und macht, kann als kohärente Einheit, als sinnhafte Handlung mit konkret absehbaren Folgen wahrgenommen werden. Der Kommunikationsradius ist örtlich und zeitlich begrenzt, aber gerade deswegen ist er als sinnvoll und sinnstiftend wahrnehmbar. In einer solchen traditionellen Konstellation erscheint der ermittlungsleitende Staatsanwalt „an Ort und Stelle“ als Autorität, die mit eigener Würde ausgestattet ist. Seine berufliche Tätigkeit stellt nicht nur Expertise bereit, sondern gleichermaßen einen persönlichen, sozialen Status dar.

Bei der strafverfolgenden Ermittlung treffen in dieser Konstellation wiederholt

996 Kohlhaas (1963), 71.

997 Wie es etwa die Attribute „überkommen“ oder „veraltet“ dem Sprachgebrauch nach tun.

diejenigen zusammen, die – wie im Beispiel von Kohlhaas als leitender Staatsanwalt und als Dorfpolizist – bereits ein eingespieltes Team sind und nicht nur die professionelle Fähigkeit des anderen, sondern auch seinen sozialen Status sowie seine Biographie näher kennen. Die traditionelle Konstellation lässt sich darum auch als personales Kontaktsystem beschreiben, innerhalb dessen sich die berufliche Identität nur schwer von der gesamten persönlichen Identität trennen lässt. Das Kennzeichen eines solchen Kontaktsystems ist gerade nicht die

„Kontaktzersplitterung“, die Distanz oder die Spezifizierung, sondern die Einheit in zeitlicher, sachlicher und sozialer Beziehung.998 Im Kontext eben dieser Einheit ist der Staatsanwalt als tatsächlich ermittelnder Staatsanwalt möglich, der die Dinge selbst in die Hand nimmt. Eine Arbeitsteilung von Kriminalistik – Dorfpolizist – und Recht – Staatsanwalt – mag auch hier vorhanden sein, sie ist aber kein trennender Faktor für den Niederschlag der sozialen Beziehungen im Berufsalltag.

Die zweite Konstellation eines tatsächlich ermittelnden Staatsanwalts, die sich zu Zeiten von Kohlhaas gerade erst andeutete, tritt mit einer 'spezialisierten' Staatsanwaltschaft auf. Damit sind Abteilungen der Behörde gemeint, die ab den 1960er Jahren als sogenannte Schwerpunktstaatsanwaltschaft mit einer konzentrierten Sachzuständigkeit etabliert wurden. Auf diese „spezialisierten Dezernate im Bereich der Wirtschafts- und Organisierten Kriminalität“ sei eine

„Verfahrensherrschaft im Wortsinne [...] im Wesentlichen beschränkt.“999 Je komplexer der Fall, desto eher wirkt der Staatsanwalt selbst in den Ermittlungen.

Auch hier kann wieder das Personale die alltägliche Bürokratie durchbrechen:

Dezernate wie die Münchener Staatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität werden als „die Ermittler“1000 bekannt, und laufen in der Presse unter dem Namen „die Korruptionsjäger“1001.

Im Alltag seiner Behörde war und ist der tatsächlich ermittelnde Staatsanwalt als konstitutives Element aber eher eine Ausnahme. Ähnlich, wie unser ehemals in den preußischen Ehescheidungsverfahren tätiger Staatsanwalt 1851 beschrieben hatte, mag auch in Strafverfahren dem Staatsanwalt die Ermittlungskompetenz aufgegeben

998 s. Luhmann (1969), 80 f.

999 Jahn (2007), 550.

1000 Spiegel Online, „Fall Gribkowsky: Staatsanwaltschaft verbietet BayernLB eigene Ermittlungen“, vom 5. Januar 2011, zuletzt aufgerufen am 20. November 2015:

http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,737980,00.html .

1001 manager magazin online, „Die Korruptionsjäger von München I“, vom 20. Oktober 2011, zuletzt

aufgerufen am 20. November 2015:

http://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/0,2828,792926,00.html .

worden sein. Dass allerdings sein Arbeitsalltag zwar manch kriminalistische Denkarbeit beinhaltet, aber kaum aus tatsächlich ermittelnder 'Spurensuche' bestehen kann, wird in dem Bild vom „Kopf ohne Hände“ sichtbar: Mit dieser schon als geflügeltes Wort zu qualifizierenden Metapher wird regelmäßig der Umstand beschrieben, dass die Staatsanwaltschaft keinen eigenen Personalunterbau für Ermittlungen besitzt und auch deswegen von der Polizei 'abhängig' sei.1002 Während also heute § 160 Abs. 1 StPO die eigenständige Ermittlungspflicht für den Staatsanwalt statuiert, zeigt sich in der Praxis, dass die Staatsanwaltschaft der Polizei bei den Ermittlungen „freien Lauf“ lasse: Sie übernehme die polizeilichen Ergebnisse und segne diese ab – wenn sie denn überhaupt in die Ermittlungstätigkeit von Seiten der Polizei integriert werde und nicht, wie es „in der Masse der Kriminalität“ die Regel sei, erst mit „der Niederschrift des abschließenden Vermerks“

von der Ermittlung informiert werde.1003 Maßgeblicher Zeitpunkt für die faktische Ermittlungsherrschaft der Staatsanwaltschaft sei die Aktenübergabe durch die Polizei, die aber in der Regel erst stattfinde, wenn die Polizei den Vorgang für

„durchermittelt“ halte.1004

Die Abhängigkeit der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsarbeit von den professionellen Vorergebnissen, die die Polizei liefert, bestand schon früher. 1908 etwa gab der Erste Staatsanwalt im Herzogtum Braunschweig zu Protokoll, dass die

„geringen Prozente [der beendeten gerichtlichen Voruntersuchungen] im Herzogtum“

im „so ausgezeichnet geschulten Personal der Kriminalpolizei“ gründeten.1005 Denn

„dieses Exekutivpersonal legt uns unzählige Sachen, ehe wir von deren Existenz eine Ahnung hatten, fertig und überreif zur Anklage vor“.1006 Im Regelfall hat die Staatsanwaltschaft also über Ergebnisse zu entscheiden, die ihr von polizeilichen Ermittlungsbeamten als „ausermittelter Vorgang“ präsentiert werden.1007 Von der

1002 Elsner (2008), 47 f.

1003 Stock/Kreuzer (1996), 227; 229 f.; mit umfassender Auswertung des Forschungsstandes zur generellen Interaktion von Polizei und Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren und eigenen empirischen Studien, 224-263.

1004 Stock/Kreuzer (1996), 250.

1005 NLA Wolfenbüttel, 42 B Neu Fb. 3, Nr. 76; Schreiben des Ersten Staatsanwalts Pessler vom 23.

April 1908 an den Oberstaatsanwalt, bezüglich einer Anfrage von Prof. W. [Wolfgang]

Mittermaier über die Voruntersuchungen. Mittermaier hatte seine Anfrage am 2. April 1908 gestellt; er war vom Deutschen Juristentag mit einem Gutachten zur strafprozessualen Voruntersuchung beauftragt worden. Die beendeten Voruntersuchungen im OLG-Bezirk Braunschweig waren zahlenmäßig die kleinsten im Kaiserreich.

1006 NLA Wolfenbüttel, 42 B Neu Fb. 3, Nr. 76; Unterstreichung im Original.

1007 Jahn (2007), 552.

vorgeblichen Herrschaft über das Ermittlungsverfahren übrig blieben dann nur noch die „Endkontrolle“ und kleinere „Randkorrekturen“.1008

Gerade für den Staatsanwalt als Jurist, der die generalisierte Ausbildung durchlaufen hatte, kam in der Regel eine eigene Ermittlungstätigkeit nicht in Frage. Nicht nur in Ehescheidungssachen, auch im Strafverfahren war der tatsächlich untersuchende und kriminalistisch tätig werdende Staatsanwalt ressourcenabhängig und organisatorisch eher die strukturelle Ausnahme als die Regel. Gerade auch für das Strafverfahren müsste diese Annahme gelten, denn hier steht der Staatsanwalt vor einem sich stets weiter professionalisierenden und spezialisierenden Verwaltungsapparat der Sicherheits- und Kriminalpolizei1009.

Wenn der Staatsanwalt heute ermittelt, dann leitet er die Untersuchungen – der 'Kopf ohne Hände' mag den Überblick über Ermittlungen etwa in verschiedenen Bundesländern besitzen. Er organisiert dann das Vorverfahren, kann gebündelte Entscheidungen treffen und die polizeilichen Ermittler anleiten, wenn diese noch einer Anleitung bedürfen sollte. Die Staatsanwaltschaft funktioniere im Ermittlungsbereich vor allem als Kontrollinstanz mit starken Selektionsbefugnissen;

ihre Zurückhaltung sei kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen effizienter und effektiver Arbeitsteilung – sie bündele „Ressourcen in sinnvoller Weise“.1010