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C. Inquisitorisches Erbe?

III. Das Recht zum Fallenlassen

Ein ehemaliger Kollege war Jagemann und seinen Sechs Geboten noch zuvor gekommen. Bereits im ersten Band des Jagemann'schen „Gerichtsaals“

veröffentlichte Staatsprokurator Eduard Bomhard621 aus Landau 1849 seine Gedanken zu der Frage, „Ob und wann eine zweifelhaft stehende Anklage vom Staatsanwalte weiter zu verfolgen sei“. Auch hier schrieb also ein Mann vom Fach.

Ihn interessierte vor allem die Abgrenzung zu den richterlichen Entscheidungskompetenzen und nicht das Vorverfahren selbst622. Letzteres wurde 1849 offenbar, pars pro toto, nicht als problematisch wahrgenommen.

Bomhard argumentierte mit „allgemeinen Pflichten“, die er aus dem „Institut“ der Staatsanwaltschaft „entlehnen“ wollte, lieferte damit eine ideelle Begründung für seine rechtspolitische Meinung und machte sich nicht die Mühe, Details oder die

617 Jagemann (1849), 238.

618 Jagemann (1849), 238; und 239: „Während [...] der unterliegende Vertheidiger sagen muss: „Ich habe die Sache verloren“, sagt der abgewiesene Staatsankläger blos, „das Gericht war anderer Ansicht als ich“.“

619 Jagemann (1849), 238 f.

620 Jagemann (1849), 238.

621 Bomhard war 1861 dann Oberstaatsanwalt.

622 Er behandelte die bereits abgeschlossene Voruntersuchung und die bereits eröffnete Hauptverhandlung.

Praxis zu schildern.623 Seine Definition des Staatsanwaltes ließ eine Balance zwischen Schuld und Unschuld oder eine feine praktische Austarierung, wie sie Jagemann vornahm, vermissen: Der Staatsanwalt als „Wächter des Gesetzes“ habe die Aufgabe, „wo möglich jede Verletzung desselben [des Gesetzes] an das Licht und den Uebertreter zur verdienten Strafe in die Schranken des erkennenden Richters zu ziehen“624. Auch Bomhard schloss sich damit nicht dem preußischen 'Wächter der Gesetze' an. Hier schrieb ein Staatsanwalt, der seine Legitimation nicht über eine zum Richteramt analoge Neutralität, sondern über die Vertretung des öffentlichen Interesses als Wahrnehmung des Gemeinwohles zu erreichen versuchte. Die Gesetzesverletzung an das Licht und den Übertreter in die Schranken ziehen, das war aktive Strafverfolgung. Anders als Jagemann tendierte Bomhard deswegen dazu, dass dem Staatsanwalt „n i c h t u n b e d i n g t […] das Recht“ zustehe, „eine Anklage deshalb, weil ihm ihr Erfolg zweifelhaft erscheint, f a l l e n zu lassen“625 und er die endgültige Entscheidung dem Richter zu überlassen habe.

Aus heutiger Perspektive erinnern Bomhards Aussagen zum einen an das Legalitätsprinzip, das der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde die Verfolgung von Straftaten als gesetzliche Pflicht, als Verfolgungszwang auferlegt. Zum anderen erinnern sie an die Anklageschwelle des hinreichenden Tatverdachts. Bomhard deutete diesen Problemkreis an, für den es aber noch keine feststehenden Begriffe gab. Das Legalitätsprinzip als Gegenstand der rechtspolitischen Debatte tauchte erst ab den 1860er Jahren auf. Rechtshistoriker machen einen Text aus dem Jahr 1860 als Ursprung des Gegenbegriffes, nämlich des Opportunitätsprinzips aus626. Der Sache nach sei damit im Vergleich zu vorausgegangenen Debatten „keine inhaltliche Änderung verbunden“ gewesen.627 Es macht jedoch einen Unterschied, ob etwas benannt wird oder nicht. Ein fester Terminus technicus deutet auf Abgrenzungsbedürfnisse, auf Konflikte oder zumindest auf eine verstärkte Beschäftigung mit der 'Sache' hin. Dieser ab 1860 an Fahrt aufnehmende Prozess lässt sich am besten noch als Versuch begreifen, einen Kernbestand „liberal-bürgerlicher Wertvorstellungen und Positionen“ gegen die „anders verlaufende

623 Bomhard (1849), 137; der Text umfasst fünf Seiten. Insofern übernahm Jagemann mit den Sechs Geboten vielleicht eine Fortsetzung, mit der er im Kern denselben Schwerpunkt setzte, aber feiner und umfassender zu Werke ging.

624 Bomhard (1849), 137.

625 Bomhard (1849), 137.

626 Collin (2000), 181.

627 So Collin (2000), 181.

Realität“628 – eben jener des mit der Reaktionszeit einsetzenden Bündnisses zwischen Bürgertum und staatlicher Herrschaft – abzugrenzen und zu behaupten.

Eine kategorische Einordnung nach „Legalitäts-“ oder „Opportunitätsprinzip“ ist für Bomhards Zeiten noch ein unpassender Vorgriff. „Richterneutralität“ und Öffentliches Interesse“ hatten hingegen feste Anhaltspunkte: Bomhard berief sich explizit auf das

„öffentliche Interesse an der Verfolgung der Uebelthäter“.629 Er meinte damit nicht das Regierungsinteresse, sondern ein übergeordnetes, nicht personalisierbares abstraktes Interesse, das „zu groß und zu wichtig“ sei, „um von […] menschlich schwachen Fäden abzuhängen“630 – eben das Gemeinwohl.

Bomhard schrieb zum „Fallenlassen“ der Anklage aber vor allem, ebenso wie Jagemann, von den „Gefühlen“, denen sich der Staatsanwalt ausgesetzt sah. Er könne verführt sein, eine „schwankende Anklage“ fallen zu lassen, weil er sich die Schmach der Niederlage nach dem Sieg eines „recht glänzenden Verteidigers“

ersparen wolle; er könne versucht sein, sich den „Glanz volksthümlicher Loyalität“

durch den „Beweis mangelnder Verfolgungssucht“ zu sichern.631 Diese persönlichen Bedrängnisse entsprachen dem Wunsch nach Anerkennung und sozialer Reputation.

Gewissermaßen die Kehrseiten dieser persönlichen Lage, und damit die Sünden des Staatsanwaltes, bildeten „Rechthaberei, Verfolgungssucht im Allgemeinen, Leidenschaftlichkeit gegen die Person eines Angeklagten, oder aber gar die Hoffnung lohnender Anerkennung eines polizeistaatlichen Gouvernements“632. Tadelhafte und für die Profession hinderliche Charaktereigenschaften wurden nur noch durch Korrumpierbarkeit übertroffen.

Die Kriterien, nach denen die „Fortsetzung oder Aufgebung der Verfolgung“ und damit ein Recht auf Fallenlassen zu bemessen sei, waren die „objectiven“ und

„subjectiven Thatumstände“.633 Damit bewegte sich Bomhard zunächst in rechtlich differenzierten Kategorien. Zu den Tatumständen zählte er etwa die konkrete Tathandlung.634 Hierzu brachte er beispielhaft an, dass während der Hauptverhandlung die Zuverlässigkeit eines medizinischen Gutachtens oder der

628 Ogorek (1986/2008), 248.

629 Bomhard (1849), 137.

630 Bomhard (1849), 137.

631 Bomhard (1849), 137.

632 Bomhard (1849), 137. Österreichische Variationen finden sich bei Waser (1850), 27: Der Staatsanwalt zeichne sich aus durch „richtigen Tact“ und „kluges, von eitler Rechthaberei, secanter Controle und vornehmer Indolenz entferntes Benehmen“.

633 Bomhard (1849), 138.

634 Bomhard (1849), 138: „Eingriff in die öffentliche Ordnung“.

Tatvorwurf eines Diebstahls in Zweifel gerieten. Ein tragfähiges Entscheidungskriterium für den Staatsanwalt bot Bomhard trotz solcher Rechtsbegriffe damit nicht an. Wo es Zweifel an den Tatumständen gab, solle der Staatsanwalt die Anklage fallen lassen, wodurch er auch einem Freispruch zuvor komme.

Auch mit Blick auf die „Person der Thäters“635 erwog Bomhard ein Recht auf Fallenlassen. Damit umschrieb er Konstellationen, in denen der Angeklagte den unstrittig vorliegenden Taterfolg nicht verursacht hatte oder ein Tatgeständnis widerrief.636 Und er nannte den Fall, in dem eine „Rechtscontroverse das Ergebnis zweifelhaft“ mache.637 Alle Fälle, so unterschiedlich sie zunächst waren, hatten Bomhard zufolge einen gemeinsamen Nenner, nämlich die „Bedeutenheit“638 ihrer Entscheidung. Das widerrufene Geständnis – von Bomhard beispielhaft genannt für einen Kindesmord – sollte illustrieren, dass mit erhöhtem Strafmaß das Interesse des Angeklagten und der „Gesamtheit“ über das Normale hinaus und in eine Ausnahmesituation hinein wachse. Hier habe der Staatsanwalt Recht getan, die zweifelhaft gewordene Anklage weiter zu verfolgen und nicht fallen zu lassen, denn dadurch sei er der Gefahr entgangen, „der Gesamtheit Etwas [...] vergeben“ zu haben:639 In „hochwichtigem Falle“ sei der Staatsanwalt trotz zweifelhafter Beweislage „nicht berechtigt“, abschließend zu entscheiden.640 Auch in Fällen der Rechtskontroverse dürfe er der Entscheidung des „Richterkollegiums“ nicht

„vorgreifen“.641

Die Kunst des Entscheidens lag für den Staatsanwalt also darin, dass er die Natur des Falles einzuschätzen wusste. Drohte ein voraussichtlicher Sieg für die Verteidigung, sollte die Anklage fallengelassen werden. War der Fall von überragender Bedeutung für die Gesamtheit, sollte die Entscheidung dem Richter überlassen werden. War eine strittige Rechtsfrage fallentscheidend, sollte sie dem Richter überlassen werden. In diesem Spektrum blieben dem Staatsanwalt zur

635 Bomhard (1849), 138.

636 Bomhard (1849), 139.

637 Bomhard (1849), 140.

638 Bomhard (1849), 139 [sic].

639 Bomhard (1849), 140.

640 Bomhard (1849), 139. Allgemeiner und wesentlich später beobachtete man, dass „es sich bei der Anklageerhebung […] bei ungesicherter Beweislage häufig um einen 'Versuchsballon' handelt. Der Staatsanwalt scheint es bei diesen Fällen der Hauptverhandlung zu überlassen, die Beweislage zu klären“, Blankenburg/Sessar/Steffen (1978), 260.

641 Bomhard (1849), 140.

eigenen Entscheidung vor allem die Fälle übrig, die den unzweifelhaften Bodensatz des Alltagsgeschäftes bildeten. Auch dieses Geschäft erforderte aber juristisches Fachwissen und einen sensiblen Sensor für die öffentliche Meinung und die politische Erwartung an das Strafrecht. Auch bei Bomhard hatte der Staatsanwalt den Stil seiner Anklage der jeweiligen Fallkonstellation anzupassen. In den Fällen, die dem Richter zu überlassen waren, sollte der Staatsanwalt „mehr referirend zu Werke gehen“642 und dem Richter „gründlich und umfassend […] alles, was Doctrin und Jurisprudenz darüber lehren“ darbieten. Das entsprach den semantischen Grenzen, die von den Juristen zwischen Anklage und Urteil aufgebaut wurden.643 Hier setzte man die Anklage einem gutachterlichen Antrag gleich, während man das Urteil als Gesetzesanwendung und abschließende Entscheidung konstruierte: „Der Richter soll […] e n t s c h e i d e n und das Gesetz auf den gegebenen Fall anwenden“;644 die

„Aufgabe des Richters ist immer lösbar; sie schließt niemals mit einem non liquet ab“.645

Wie bei Bomhard allerdings zu sehen ist, konnte der Staatsanwalt mit solch einem Anklagereferat, das bloße Möglichkeit und Wahrscheinlichkeiten betonte, nicht nur die Relevanz des Falles und eigene Zweifel an der Anklage signalisieren. Er kommunizierte zugleich seine Stellung als sachlich nicht entscheidungsbefugter, aber fachlich verlässlicher Jurist.

Bomhard plädierte insgesamt nicht gegen, sondern für ein auf bestimmte Fallkonstellationen beschränktes Recht auf Fallenlassen der Anklage. Kombiniert man sein Plädoyer mit Jagemanns Regeln, so ergibt sich als kleiner Leitfaden für das

„Fallenlassen“ oder Einstellen einer Anklage: Auch wenn der Staatsanwalt von der Schuld des Beschuldigten überzeugt ist und diese beweisen könnte – minima non curat (Jagemann). Auch wenn der Staatsanwalt Zweifel an der Begründ- und Beweisbarkeit der Anklage hat, so sollte er bei brisanten Fällen nicht einstellen, sondern die Anklage weiter verfolgen (Jagemann, und vor allem Bomhard). Wann ein Fall eine Bagatelle mit wenig „Gravierung“ darstellte oder von „hochwichtiger“

Brisanz war – das konnte man nicht durch Begriffe festschreiben, sondern höchstens noch durch Fallbeispiele illustrieren, um endlich auf das Judiz verweisen zu müssen.

642 Bomhard (1849), 140.

643 Berninger (1861), 23: Weil die Anklage „nur anregend, vorschlagend, begutachtend“ wirke, könne der Richter „vollkommen frei und selbstständig […] ebenso gut annehmen als ablehnen“.

644 Berninger (1861), 20 f.; Hervorhebung im Original.

645 Kries (1889), 4.

Beide Autoren hatten als Staatsanwälte gearbeitet. Mit ihren Texten reflektierten sie diese Arbeit auf ihre Weise, setzten damit aber bereits 1849 zu einer Selbstbeschreibung ihrer Profession an. Bomhards Text erweckte Aufmerksamkeit, weil er trotz aller Kürze, ebenso wie Jagemann, bei der Einstellung auf die Tugenden des Staatsanwalts zu sprechen kam. Hier zeigte sich, dass der Staatsanwalt eine echte eigene Entscheidung fällen konnte. Denn eben deswegen konnten beide Autoren hier nicht anders, als den Staatsanwalt auf „Pflichtstrenge“, „Rücksichts- und Vorurtheilsfreiheit“ gegen „Leidenschaftlichkeit“ und „Mitleid“ zu verpflichten – auf Tugenden zu verweisen, wenn keine ungebundene, unkontrollierte Entscheidung ergehen sollte. Der Rückgriff auf Tugenden indiziert grundsätzlich eine Entscheidungssituation, bei der der Zufall wenigstens durch soziale Vorgaben ausgeschlossen werden soll.

Spezifisch für den Staatsanwalt lässt sich nach Bomhard und Jagemann zudem sagen, dass er eine Annäherung an die richterlichen Tugenden der Spätaufklärung646 erfahren sollte. Zu einer Zeit also, als man seitens der juristischen Justizstaatsverfechter aus politischer Bedrängnis heraus und um „die Sorge vor der Richtermacht zu entkräften“647 bereits die klassischen „Leitbildideen [...] der richterlichen Tätigkeit“648 zu dem neuen Bild des „willenlosen, formallogischen, unpolitischen Richter[s]“649 umformte, griff man für die Staatsanwälte auf die alten Richtertugenden zurück.

Darin liegt eine historische Doppelung: Gegen den Staatsanwalt im Strafprozess richtete sich die Kritik, die früher dem Untersuchungsrichter gegolten hatte. Eine ähnliche Verschiebung fand auch hinsichtlich der richterlichen Tugenden statt. Auch hier bekam der Staatsanwalt des Richterkönigs alte Kleider, während jener in von Hoffnung getragener Machtfülle zunächst erstrahlen konnte, um alsbald bescheidenes Leinen übergeworfen zu bekommen.

Ist man also wieder beim Richter angelangt, obwohl man eigentlich den Ankläger beschreiben wollte? Der Staatsanwalt, wie er sich bei Jagemann und Bomhard als professionelle Gestalt andeutete, war aus zwei Teilen konstruiert. Er trug zwar die alten Richtertugenden, die dem neuen Richter nicht mehr zur Deckung genügen

646 Dazu Ogorek (1986/2008), 292 f.: „das Recht ohne 'Nebenrücksichten' zu verwalten […].

Richterliche Willkür sollte so effizient wie möglich ausgeschaltet […] werden. Man kennt das Ideal des gesetzesgebundenen, des neutralen, des willkürfreien Richters.“

647 Ogorek (1986/2008), 299.

648 Ogorek (1986/2008), 292.

649 Ogorek (1986/2008), 293.

konnten, und erschien einmal mehr als „Appendix“ der Gerichte. Und doch schien in den Anspielungen auf den „schnellen“ und „kurzen Angriff“ eine Zuspitzung auf, die das genaue Gegenteil des neuen „Richtertypus“ formte, nämlich den Verwaltungsbeamten, wie er von den Juristen insgesamt als Gegenspieler des Richters aufgebaut wurde.650 Der Staatsanwalt, wie sich ihn Jagemann und Bomhard vorstellten, trug in dieser Kombination ein von Widersprüchen geprägtes Leitbild. Im Verhältnis zum Richter kann man es aber auch als ein flexibles, an den Kontext anzupassendes, als ein relativ spektrenreiches Leitbild beschreiben. Eine genaue Definition dessen, was der Staatsanwalt sei oder sein solle, fällt dadurch nicht leichter. Die Widersprüche bedeuteten aber auch nicht, dass es 'den' Staatsanwalt nicht gegeben hätte. Er ließ sich nur nicht so leicht einfangen. Vielleicht war gerade sein flexibles, widersprüchliches Leitbild Ausdruck davon, dass er 'Mittel zum Zweck' war – sowohl für die Juristen, als auch für die Staatsregierung.