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E. Vom Gesetzeswächter zum Urteilswächter

II. Der Wächter der Gerichte

2. Rechts-Mittelbehörde

Durchgesetzt hat sich diese richterliche Option des direkten Staatsauftrages an ein anderes Gericht als Rekursverfahren nicht. Nicht nur in Baden, auch in anderen deutschen Partikularstaaten vertraute die Regierung ihr Rekursmittel gegen Strafurteile den Staatsanwälten an. Damit umging man nicht nur den unmittelbaren Auftrag an die Gerichte, sondern auch die unmittelbare Kommunikation mit den Gerichten. Verhandelt wurde nicht mehr direkt über Berichte und Edikte, die man zwischen den Gerichtskollegien und den Ministerien hin- und her wandern ließ, sondern über die Staatsanwaltschaft, die gleichsam als Transferstelle hinzugezogen worden war. Über die Staatsanwaltschaft wurde nicht nur im übertragenen Sinne

„das Verhältnis der Staatsregierung zu den Gerichten vermittelt“.804 Man stellte sie sich in kommunikativer und verwaltender Hinsicht direkt als „Mittelsbehörde“ vor,

„durch welche die Regierung ihre Mittheilungen an die Gerichte gelangen lässt“805. Der Rekurs gegen Strafurteile wurde also aus der Kompetenz der Gerichte ausgegliedert, aber auch nicht wieder in den unmittelbaren Machtbereich der Politik eingegliedert, sondern einer echten 'Mittelsbehörde' anvertraut.

Wie formierte man nun hier den 'Staatsauftrag', den die Richter hinsichtlich des Rekurses losgeworden waren? Im Königreich Hannover etwa war die Kronanwaltschaft zunächst als reine Rekursbehörde eingerichtet worden. Auch in Baden kam ihr dieser Auftrag zu. In Preußen erteilte das Justizministerium der Staatsanwaltschaft für das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde konkrete Anweisungen.806 Die Nichtigkeitsbeschwerde richtete sich explizit gegen eine fehlerhafte Rechtsanwendung807. Sie entsprach damit einer verfahrensartigen Interventionsmöglichkeit in der Rechtsauslegung. Die Rechtsauslegung wiederum verdichtete sich durch Rechtsprechung, höchstrichterliche Urteile und Oberappellationsgerichte zunehmend zu einem Netz, das Bindung und Vorhersehbarkeit der rechtlichen Entscheidungen versprach. Darauf rekurrierte auch das preußische Justizministerium, wenn es den Staatsanwälten inhaltliche Vorgaben

804 Feuerbach (1825), 139.

805 Savigny (1846), 39.

806 Collin (2000), 119 f.

807 Collin (2000), 119.

hinsichtlich der Nichtigkeitsbeschwerde machte: Die ministerialen Vorgaben sollten sich auch auf zukünftige Urteile erstrecken. Sie kamen damit politischen Richtlinien gleich – die Politik habe sich von der Nichtigkeitsbeschwerde erhofft, sie könne als

„Steuerungsinstrument“ dienen und deswegen bei diesem Rechtsmittel eine besonders aktive Weisungspraxis betreiben.808 Es waren die Staatsanwälte, die dieses Instrument bedienen sollten. Der 'Hebel der Rechtsordnung' sollte also nicht nur bei der Anklage, sondern auch bei der Revision von Urteilen ansetzen.

Von einer derartigen Rechtsmittelbehörde erhoffte man sich in der Politik allerdings nicht nur eine effektive Kriminalpolitik,809 sondern überhaupt eine Kontrolle der richterlichen Arbeit. Die Handhabung der Gesetze mündete im Urteil – konnte man gegen dieses vorgehen, meldete man zugleich einen Anspruch auf die Handhabe an.

Das bedeutete nicht nur, dass eine bestimmte, inhaltliche Rechtsauffassung durchgesetzt werden sollte,810 sondern auch, dass eine generelle Aufsicht über die richterliche Arbeit ausgeübt wurde, wie sie sich etwa auch in Versuchen niederschlug, Standards bei der Geschworenenbefragung an den Gerichten einzuführen811.

Dieser allgemein kontrollierende und regulierende Ansatz wurde seitens der Juristen durchaus als notwendig, nützlich und gelungen bewertet. So frohlockte schon Grolman, „die schönste Seite“ des französischen ministère public sei die „stete Kontrole des ganzen Justizwesens“.812 Eine Staatsanwaltschaft als „Auge des Gesetzes“813 biete für die deutschen Gerichtsverfassungen „die glückliche Lösung der bisher unaufgelösten Frage“ an, „wie auf der einen Seite die Justiz in den einzelnen Sachen unabhängig von dem Cabinetseinfluße erhalten und auf der anderen Seite doch die stete Aufsicht der Regierung auf die Justiz bewahrt [...]

werden könne“814. Ähnlich äußerte auch Savigny, dass eine Staatsanwaltschaft „die Aufsicht über das Justizpersonal […] erleichtern und wirksamer machen“ könnte,

„ohne die Unabhängigkeit der Richter zu gefährden“.815 Und Müller hatte 1825 bemerkt: „Viel zu unmittelbar auch schließt sich das Justiz-Ministerium an die Person

808 Collin (2000), 119.

809 So die durchgängige These von Collin (2000), 119 f. und passim.

810 Nachweis bei Collin (2000), 119 f.

811 Collin (2000), 121: Das Justizministerium habe über die Staatsanwaltschaft versucht, auf eine

„bestimmte Formulierung der Fragen des Gerichts an die Geschworenen hinzuwirken“.

812 Nochmals Grolman (1810), XL.

813 So Gerau selbst (1849), 328.

814 Nochmals Grolman (1810), XL.

815 Savigny (1846), 41.

des Regenten an, als daß nicht die große Kluft zwischen ihm und den Gerichten die Anordnung einer Mittelstelle in dem Organ der Staats-Anwaltschaft für jenen Zweck [„der Aufsicht auf die Gerichte“] erheischte.“816 Selbst ein entschiedener Kritiker von weiten zivilrechtlichen Kompetenzen einer Staatsanwaltschaft lobte 1849: „In der Institution der Staatsprokuratur ist offenbar die gelungenste und wirksamste Durchführung der Staatsaufsicht über die Rechtsverwaltung zu erkennen“817.

Der Staatsanwalt war damit nicht nur auf die Gesetze, die Urteile und die Rechtsanwendung fixiert, sondern auch auf die Rechtsverwaltung, die durch das Justizpersonal betrieben wurde. Seine Kontrollmöglichkeit beschränkte sich (noch) nicht allein auf das richterliche Urteil, sondern war breiter auch auf Richter und Gerichte angelegt. Der Staatsanwalt sollte nicht nur die stets divergierende Gesetzesauslegung einfangen und missliebige Urteile ausgleichen, sondern auch als eine Art Gerichtspolizei in einer noch nicht spezifizierten Aufsicht über den Gerichtsalltag wirken. In einer Disziplinarkontrolle versuchte man den Staatsanwalt dort einzusetzen, wo die Gerichte selbst intern bei ihrem eigenen Personal in den Augen der Staatsregierung versagt hatten818. Mit der Staatsanwaltschaft verband sich die Hoffnung auf eine effektivere Gerichtskontrolle, die tradierte Mittel wie die Gerichtsvisitation ersetzen sollte. Die Gerichtsvisitation wurde in Preußen vor allem an den unteren Gerichten ausgeübt; „Kassen und Geschäftsbücher“ wurden dabei überprüft, man ging gegen „Mißbräuche“ – wie das verbotene Erheben von Sporteln – vor, es drohten Disziplinarverfahren und Strafen.819 Der Staatsanwalt als Aufsichtsorgan versprach gegenüber der Gerichtsvisitation insofern erhöhte Effektivität, als seine Kontrolle präventiv einsetzte, wo die Gerichtsvisitation nur nachträglich „schon eingerissene Unordnungen und Gebrechen […] entdecken“820 konnte. Der allzeit anwesende Staatsanwalt könne Mängeln in der Gerichtsverwaltung zuvorkommen und ihnen möglichst schonend entgegenwirken, indem er beobachte, korrigierend kommentiere und erst „nöthigen Falls

816 Müller (1825), 228.

817 Gerau (1849), 331.

818 s. Hodenberg (1996), 132 f., zu Dienstbeurteilungen und Disziplinarprozessen gegen

„Justizjuristen“ in Preußen in den 1830er und 1840er Jahren. Entscheidend für das disziplinarische Vorgehen seitens des preußischen Justizministeriums sei gewesen, dass es

„um das Zurückdrängen einer politischen Parteiung ging“ und kaum „um die Funktionsfähigkeit der Justiz“; gegen „amtsunfähige Richter“ sei man nur „zögernd“ vorgegangen,

„Regierungskritiker“ habe man „schon beim geringsten Anhaltspunkt scharf“ verfolgt; 140.

819 Hodenberg (1996), 99.

820 Feuerbach (1825), 139.

Anzeigeberichte“ erstatte.821 Noch heute ist eine Kontrolle der Rechtspflege im Sinne des juristischen Berufsstandes bei den Generalstaatsanwaltschaften angesiedelt, wenn sie berufsrechtliche Verfahren vor den Anwaltsgerichten führt.822

In diesen Kontext ist auch der – eine? – Fall einzuordnen, in dem ein preußischer Staatsanwaltschaft ein Urteil wegen stilistischer Mängel rügte823. Die Stilrüge hatte keine unmittelbaren Berührungspunkte mit den Rechten des Verurteilten, der Durchsetzung einer bestimmten Kriminalpolitik oder dem Verfolgungszwang der Anklagebehörde, wie es etwa denkbar ist, wenn Rechtsmittel gegen Freisprüche eingelegt werden. Der Staatsanwalt übte deswegen hier mit seinem Rechtsmittel die Kontrolle eines Mindestmaßes an berufsständischer Professionalität in der Justiz aus.

Was aus diesem Gerichtswächter geworden ist? Die Aufgabe als Rechtsmittelbehörde ist nicht nur in der heute geltenden Strafprozessordnung normiert,824 sondern sie wird von der Staatsanwaltschaft auch tatsächlich im Strafverfahren wahrgenommen. Aus rechtshistorischer Perspektive wird die Staatsanwaltschaft als Trägerin des Rechtsmittels zu einem Ersatz für das progressiv entfallene, landesherrliche Bestätigungsrecht erklärt825. Hier sammelt sich auch politische Kritik, der die Rechtsmittelkompetenz zusammen mit der Weisungsabhängigkeit der Staatsanwälte als Korrekturinstrument für (kriminal)politisch missliebige Urteile gilt. Als Rechtsmittelbehörde ist die

821 Feuerbach (1825), 139.

822 s. Beulke, Werner / Ruhmannseder, Felix: Die Strafbarkeit des Verteidigers. Eine systematische Darstellung der Beistandspflicht und ihrer Grenzen, 2. Aufl., Heidelberg / München (u.a.) 2010, 361 ff. Carsten/Rautenberg (2012), 371 f.: Die Generalstaatsanwaltschaft wirke als

„Einleitungsbehörde“ in berufsrechtlichen Verfahren gegen „Steuerberater“, „Wirtschaftsprüfer“,

„Patentanwälte“, und „Rechtsanwälte“ mit; in wenigen Bundesländern auch in Disziplinarverfahren gegen „Notare“; der Generalstaatsanwalt habe früher auch die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter vertreten.

823 Collin (2000), 115: „Das Kreisgericht Seehausen hatte ein Urteil erlassen, dessen Begründung in Stil und Inhalt allen [professionellen] Anforderungen Hohn sprach“, der zuständige Oberstaatsanwalt habe „die Art und Weise der Urteilsbegründung beim Appellationsgericht“

gerügt; Fn. 37: „Die vollständige Urteilsbegründung lautet: 'Woellmer ist offensichtlich von Berthan, der ihn betrügen wollte, hintergangen worden, und dadurch in seine jetzige fatale Lage gekommen. Wenn er hierdurch zwar zu bemitleiden ist, so kann dies nur ein Grund sein, ihn der Begnadigung zu empfehlen, nicht aber die Strafe für unanwendbar zu erklären, wenn sie anwendbar ist.'“ Collin bewertet dies als „eher banalen“ Anlass für eine Erweiterung der Kontrollaufgaben des Staatsanwalts.

824 s. Wohlers (1994), 278 ff.

825 Collin (2000), 59; zum gescheiterten Entwurf Duesbergs 1833 in Preußen. Hodenberg (1996), 170 merkt für Preußen an, dass „in der Praxis […] der Monarch sein Vorrecht nur noch selten wahr“ genommen habe.

Staatsanwaltschaft heute keine unbekannte Größe, sondern sie hat ihren Platz in der Selbstwahrnehmung der Staatsanwälte und im juristischen und öffentlichen Diskurs.

Allerdings hat sich das Rechtsmittel auf das Strafurteil verengt. Der Staatsanwalt als Gerichtswächter kontrolliert nur noch die richterliche Entscheidung. Eine weiter greifende Kontrollinstanz der Professionalisierung und Profession, wie sie der staatsanwaltschaftliche Gerichtswächter einmal sein sollte, liegt heute ferner denn je826. Der Staatsanwalt, der den stümperhaften Stil eines Urteils anzeigt oder als Gerichtsverwaltungskontrolleur den internen Geschäftsplan visitiert, war eine kurz aufflackernde historische Erscheinung. Sie war ein letzter Teil jenes Ensembles, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch zur Kontrolle und Reform der Gerichte und ihrer Arbeit eingesetzt wurde. Die Gerichtsvisitation gehörte zum Kern dieses Maßnahmebündels, zu dem auch die im Allgemeinen Preußischen Landrecht statuierte Anzeige- und Anfragepflicht des Richters bei der Gesetzesauslegung an die Gesetzeskommission zählten.827 Progressiv war dieses Bündel etwa durch ein Höchstmaß an staatlich regulierter juristischer Ausbildung verändert worden. Der Staatsanwalt als Gerichtswächter löste zwar tradierte Kontrollwege wie die Gerichtsvisitation ab. Er gehörte damit aber immer noch zu einer Übergangsstrategie des Ancien Régimes, zum Instrumentenblock der unmittelbar einsetzenden Justizkontrolle.

Die stilistische Urteilsrüge deutete dann allerdings bereits einen neuen, mittelbaren Weg für die Kontrolle über rechtsinterne Verfahren an. Wenn ein Urteil heute in stilistischer Hinsicht nicht dem professionellen Mindestmaß entspricht, ist es mit einer Stilrüge begründbar über die Revision angreifbar. Es war der Instanzenzug, der die Visitation und das allzeit beobachtende Auge der Staatsregierung und des Gesetzes überflüssig machte. Für den Staatsanwalt als Gerichtswächter ist damit eine materielle Urteilskontrolle und der Streit über die Auslegungshoheit über Gesetzestexte828 übrig geblieben. Aber auch diese Kontrolle findet sich im Alltag selten wieder.829 Institutionelles Vertrauen, wie es sich schon früh abzeichnete und durch die tendenziell zunehmende beamtenrechtliche Gleichstellung830 von Staatsanwalt und Richter bestärkt wird, mildert die Gegensätze zwischen 'Verwaltungsapparat' und 'Gerichtssaal' ab: „Das frühere Mißtrauen gegen den

826 Die berufsrechtlichen Verfahren nach der BRAO werden durch von der Rechtsanwaltskammer organisierte Anwaltsgerichte entschieden.

827 Dazu Küper (1967), 65.

Staatsanwalt“ ist „heute nicht mehr berechtigt.“ Denn „als die heutige Strafprozeßordnung in Kraft trat [1877/79], lag die Trennung von Justiz und Verwaltung noch nicht soweit hinter uns, wie heute. Damals war nicht nur, sondern galt auch der Staatsanwalt mehr als heute als Verwaltungsbeamter. Das kam auch darin zum Ausdruck, daß der Staatsanwalt im Gehalt den Verwaltungsbeamten gleichgestellt und damit dem Richter gegenüber bevorzugt war. Die Gleichstellung beider ist inzwischen längst durchgeführt, beide fühlen sich längst eines Standes, wozu der häufige Wechsel der Beamten zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft wesentlich beigetragen hat. Der Staatsanwalt ist heute mindestens so vorsichtig bei der Anklageerhebung, wie der Richter bei der Verurteilung oder der Eröffnung der Hauptverhandlung“831.

Die Selbstverständlichkeit des Rechtsbetriebes hat die Gerichtskontrolle durch den Staatsanwalt überflüssig gemacht. Zweifeln an der Befähigung und der Autorität des Gerichtes beugt man durch Kooperation vor. Der Gerichtswächter ist in dieser Struktur nicht mehr als eine verblichene Erinnerung an alte Tage. Der Gesetzeswächter als Transformation der souveränen Bestätigungsmacht hingegen lebt immer noch – aber nur unter dem Vorbehalt des gerichtlichen Berufungs- und Revisionsverfahrens, als Rechtsmittelbehörde, als Urteilswächter.