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C. Inquisitorisches Erbe?

I. Ein Rechtsgelehrter, wie er seyn soll

Alexander Müller hatte 1825 das erste rechtspolitische Plädoyer für eine Staatsanwaltschaft in den deutschen Territorialstaaten verfasst.555 Die Natur seines Anliegens erklärte er unumwunden für politisch. Denn Grundbedingungen und Zweck556 deutscher Staatsanwaltschaften könnten weder durch „wissenschaftliche Forschung“ noch durch national-kulturelle Analogien gefunden oder verworfen werden: Einziger Maßstab sei „das Kleinod der bürgerlichen Verfassung“, das mit seiner gesellschaftlichen Kraft die Nationalgrenzen von Frankreich und den deutschen Territorialstaaten sprengte. Entscheidend für Müller war der „Hauptzweck

553 Collin (2000) stellte seine Untersuchung zur Staatsanwaltschaft in diesen Kontext. Das zeigt sich darin, dass er eine Gegenerzählung zur Annahme, die Staatsanwaltschaft sei eine „liberale Errungenschaft“ und ihre Etablierung ein „Sieg des Rechtsstaatsprinzips“, aufbaut – der erste Bezugspunkt ist also bereits eine politische Zuordnung. Damit verbunden ist eine historische Wertung, die sich auf „die Unabhängigkeit der Justiz insgesamt als Maßstab für die Liberalität und Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens“ einlässt und dadurch in ihrer Struktur dem Verhältnis von Recht und Politik eher folgt, als es zu verlassen. Entsprechend bilden der

„Einfluß des […] unabhängigen Gerichts“ und der „Einfluß der Regierung“ die beiden Faktoren für die „Gestaltung der Strafrechtspflege“; wobei die Unabhängigkeit der Justiz als Ausgangslage für die Frage nach den, unter dieser Voraussetzung bestehenden,

„Einwirkungsmöglichkeiten“ der Exekutive auf die Strafrechtspflege dient.

554 Indirektes Zitat des Oberstaatsanwaltes Beughem, wie er es im Jahresbericht an den preußischen Justizminister formuliert hatte, im Januar 1851: Collin (2000), 130.

555 Müller (1825), IX f.: „Meine Absicht bei dieser Schrift ist nur, eine Darstellung des Instituts der Staats-Anwaltschaft zu liefern, und zugleich nachzuweisen, daß dieses Institut als gut und weise und nützlich […] auf's neue verpflanzt zu werden verdiene.“

556 Müller (1825), 136: „Ist diese Einführung überhaupt möglich und nothwendig?“; auch alle folgenden Zitate aus 136 ff.

der bürgerlichen Gesellschaft“: „die Sicherheit unabhängiger […] unpartheiischer Gerechtigkeits-Pflege“. Damit stellte er sich ganz in den Dienst der Reformbewegung. Als Garant für „Recht und Wahrheit und für gesetzliche Ordnung“

pries er den Staatsanwalt an. Dessen professionelle Eigenschaften waren es, die sicherstellten, dass er sich nicht durch Politik korrumpieren, von ihr „gebrauchen lassen“ oder zu „unerlaubten Zwecken der Ministerien“ tätig werde.557 Sie entsprachen den Eigenschaften, die Juristen allgemein für ihren Berufsstand anmahnten. Bei Müller erfuhren sie allerdings eine theatralische Steigerung, die ihresgleichen suchte: Als „ein Rechtsgelehrter, wie er seyn soll“, zeichnete sich der ideale Staatsanwalt durch „gründliche Theorie“ und „gereifte Erfahrung“ aus. Mit

„umfassendem Blicke in die mannigfaltigen Verhältnisse des Lebens“, aber

„durchaus rechtlich zugleich“ bewältigte und bewegte er „unermüdet fleißig“ den Arbeitsstoff. Ein gebildeter und sozial umsichtiger Rechtsarbeiter also, der an den Gebrechen der diesseitigen Welt nicht litt – weder wurde er von Emotionen ergriffen („leidenschaftlos“) noch erdrückten ihn materielle Nöte („Nahrungssorgen“).

„Fremdartige Geschäfte“ konnten ihn deswegen als Gefälligkeitsdienste und ausgleichende Zuverdienstmöglichkeit nicht anlocken. Derart allen weltlichen Sorgen und Versuchungen entrückt, erfüllte der Staatsanwalt bei Müller seine „Pflichten“, unbeugsam „gewachsen [...] im Kampfe“ gegen sämtliche Justizübel: Er sollte gegen

„unkundige oder leidenschaftliche Richter“, gegen sich von Bestechungsgeldern ernährende „höhere Staatsbeamte“ und schließlich auch für „gebeugte Schuldlose“

kämpfen.

Nicht weniger als das mögliche Versagen des ganzen Justizsystems sollte durch den pflichterfüllenden Staatsanwalt also aufgefangen und verhindert werden. So fand dieses stark überzeichnete, mit Tugenden aufgeladene Leitbild dann auch seine Entzauberung durch einfache Worte: „Vom Idealen darf die Gesetzgebung nicht ausgehen; unsere Beamte sind Menschen.“558

Als Mensch und Beamter durchlief der Staatsanwalt die juristische Ausbildung und wurde durch sie zum Rechtsarbeiter geformt. In den ersten Jahren der Institution wurde das staatsanwaltschaftliche Personal meist unmittelbar aus der Richterschaft rekrutiert, sodass der juristische Werdegang der Staatsanwälte eine Selbstverständlichkeit war. Schon die ersten Staatsanwälte für Strafverfahren in

557 Alle Zitate bei Müller (1825), 223; bis wieder anders benannt.

558 Molitor (1843), 25.

Berlin – August Wentzel und Julius Hermann von Kirchmann – waren zuvor Richter gewesen. Auch in Baden rekrutierte man die ersten Staatsanwälte für Strafverfahren aus der Richterschaft. Im Königreich Hannover wurde das Personal der Staatsanwaltschaft 1850 „nicht ausschließlich, wenn auch überwiegend“ aus der Richterschaft ausgewählt; „auch Advokaten sowie bisherige Verwaltungsjuristen“

seien beauftragt worden.559 Im Herzogtum Braunschweig sollten die Staatsanwälte zwar „nicht zu den richterlichen Beamten“ gehören, aber „nur solche, die das Richteramt bestanden haben“, konnten zu Staatsanwälten ernannt werden.560 Heinrich Friedberg ist wohl der erste Jurist in Preußen gewesen, der als Staatsanwalt gearbeitet hatte, ohne zuvor bereits Richter gewesen zu sein. Auch er hatte aber natürlich – glänzend – die juristische Ausbildung absolviert. Deren Notwendigkeit ergab sich für den Staatsanwalt auch daraus, dass er die Entscheidung des Richters antizipieren können musste.

In Preußen war die juristische Ausbildung zwar am stärksten reglementiert, in ihren Grundsätzen wie etwa der Qualifikation durch staatliche Prüfungen wurde sie aber auch in anderen deutschen Territorialstaaten etabliert und kontrolliert. Man richtete die Staatsanwaltschaft als Behörde zu einer Zeit ein, in der man sich bereits auf den Gegensatz von Laien und öffentlicher Meinung einerseits, und Juristen und Wissenschaft andererseits berief. Der juristische Blick auf das Leben war das Merkmal, an dem dieser Unterschied festgemacht wurde. Dieser spezifische Blick auf die Welt war von außen nicht zu verstehen und schien sich direkter Korrektur und Steuerung zu entziehen. Die „Differenz zwischen“ der „rein fachmäßig gelehrten, mit logischer Gewandtheit operirenden Auffassung“ und dem „einfachen staatsbürgerlichen Rechtsbewußtsein“561 war nicht zu überbrücken. Und die Staatsanwaltschaft hatte sich dem juristischen Blick, der „chiffrirten Schrift“, dem

„künstlichen Gedankenprozeß juristischer Auslegung“ nicht erst angepasst, er ist ihr nicht erst „mit der Zeit geläufig geworden“, sondern er war ihr von Anfang eigen. „Als deutscher Jurist erzogen“ – so sah sich auch der Staatsanwalt selbst.562

559 Knollmann (1994), 185.

560 NLA Wolfenbüttel, 12 A Neu Fb. 5, Nr. 3610: Schreiben zum Gesetzesentwurf über die

„dienstliche Stallung der staatsanwaltschaftlichen Beamten“ 1849.

561 Alle folgenden Zitate, bis wieder anders benannt, aus Holtzendorff (1864), 34.

562 Diese Selbstauskunft gab Molitor (1843), 8, als Obergerichtsrat und Generalstaatsprokurator in München. Zu „Lebenslinien“, Justizkarrieren und „Berufsethos“ der preußischen Richter Hodenberg (1996), 27-86; 103-141; 163-179. Zum juristischen Habitus, mit Pierre Bourdieu, Habermas (2008), 138 ff.