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C. Inquisitorisches Erbe?

II. Die Sechs Gebote

1. Hebel der Rechtsordnung

Zum Anlass seiner Schrift nahm er, dass in Deutschland die Berufswahl des Staatsanwalts tendenziell unbeliebt war.566 Den deutschen Juristen gelte der Staatsanwalt als ein „Polizeibeamter, ein Spürer, Angeber und Rächer“, der gar dem

„Hasse des Volkes“ ausgesetzt sei.567 Diesen Umstand, den Jagemann selbst als Irrtum ansah, erklärte er mit den Faktoren Öffentlichkeit und Parteilichkeit. Zwar unterliege mit der öffentlichen Hauptverhandlung nun auch der Richter „höheren Ansprüchen“; er und sein Urteil müssten sich der Kontrolle durch „die Anlegung jedes beliebigen kritischen Maßstabes“, der „freien Beurtheilung Aller unterwerfen“.568 Von

563 Jagemann (1805-1854) war Sohn des Präsidenten des Hofgerichts Mannheim und später badischer Justizminister; s. Jagemann (1881), 643-645.

564 Jagemann (1849), 214.

565 So stellte das sechste Gebot eine Anleitung für Auftritt und Rede in der mündlichen Hauptverhandlung dar; Jagemann (1849), 241-242.

566 Jagemann (1849), 214: Es herrsche eine gewisse Scheu davor, eine Stelle als Staatsanwalt anzunehmen; manchmal musste eine Stellenbesetzung über den offiziellen Dienstweg sogar angewiesen werden; 215: Unter den vielen neuen Ämtern finde die Staatsanwaltschaft am wenigsten Bewerber und habe eher mit Abneigungen zu kämpfen.

567 Jagemann (1849), 220.

568 Jagemann (1849), 215.

den Sitzungsbeteiligten der Hauptverhandlung schien allerdings allein der Staatsanwalt diese Last einer öffentlichen Kontrolle tatsächlich tragen zu müssen.

Das kritische Erbe des Inquisitionsrichters hatte eine praktische Entsprechung vor Gericht, denn der Richter war während der Sitzung in jeder Hinsicht souverän. Weil er überzeugt werden wollte und musste, entgegnete ihm die Strafverteidigung mit einer anderen Rhetorik als dem Staatsanwalt. Die Richter durften während der Sitzung nicht, „selbst vom Angeklagten nicht, getadelt oder bemängelt werden“569. Der Staatsanwalt hingegen sollte den Rechtsbrüchigen zur Verantwortung ziehen und befand sich mit der Konzentration der Kritik allein in einer eher „schwierigen Lage“, so Jagemann.

Die Abneigung gegen die Staatsanwaltschaft, wie sie sich auch in der Berufswahl der Juristen niederschlug, konnte sich Jagemann wohl erklären, akzeptieren wollte er sie nicht. Für ihn war die Staatsanwaltschaft „der Hebel der Rechtsordnung“570. In dieser aktiven und entscheidenden Funktion sah er nichts Schlechtes und deswegen stellte er den Anklägern mit den 'Sechs Geboten' „Verhaltungsregeln“571 und Ratschläge zur Verfügung, wie sie der politischen Fama entgegen wirken und aus der „schwierigen Lage“ „ehrenvoll hervorgehen“572 könnten.

Gleich zu Beginn musste er sie aber enttäuschen: Gerechtigkeit könne nur noch durch den urteilenden Richter entfaltet werden. Für alle anderen Prozessbeteiligten bleibe jene zwar eine generelle Handlungsanweisung, mehr aber auch nicht. In der öffentlichen Hauptverhandlung befinde sich der Staatsanwalt im Kampf mit der Verteidigung und folglich in einer Parteistellung, die mit der Wahrnehmung von Gerechtigkeit per definitionem „unverträglich“573 sei.

Anders allerdings als die Verteidigung, die sich der Unschuld des Angeklagten annehme, müsse der Staatsanwalt „Vertreter des Gesetzes“574 sein. Damit bezog sich Jagemann nicht auf das durch Preußen propagierte Bild des Gesetzeswächters.

Der preußische Staatsanwalt als 'Wächter der Gesetze'575 sollte seine Legitimation daraus ziehen, dass er auch die Unschuld des Angeklagten abwog. Auf diese propagandistische Annäherung an das neue Richterideal ließ sich Jagemann nicht

569 Jagemann (1849), 215.

570 Jagemann (1849), 216.

571 Jagemann (1849), 221.

572 Jagemann (1849), 216.

573 Jagemann (1849), 217.

574 Jagemann (1849), 217.

575 Zur Geschichte dieses Begriffes in den Gesetzgebungsarbeiten im preußischen Staatsministerium ausführlich Collin (2000), 48 f., 75 f., 81 f., 114 f.; s.a. unten E.

ein. Sein Vertreter des Gesetzes „habe die Hoheit und Unverletzlichkeit des Gesetzes zu bewahren, wie ein Hoherpriester [sic] die Heiligkeit des Glaubenssymbols“.576 Das Berufspostulat für den Staatsanwalt zielte also auf die symbolische Wiederherstellung der Rechtsordnung durch die öffentliche Missbilligung des Verbrechens ab. Jagemann wird dann auch zu den Vertretern der

„Wiederherstellungslehre“ innerhalb der Straftheorie gezählt.577 Ihm ging es um ein spezifisches Verständnis der Rechtsordnung als staatlich gewährte Sicherheit und er vertraute zugleich in hohem Maße auf die symbolische Kraft des Strafgesetzes. Sein Staatsanwalt war damit zeitlos und stieß zum Boden des gesellschaftlichen Strafrechts vor.578

Jagemann hielt es deswegen auch für legitim, dass die Staatsanwälte in ihren Entscheidungen grundsätzlich von der „Staatsregierung“, dem „Justizministerium“, dem „Souverän“ abhängig waren. Der Staatsanwalt handle als Vertreter der Zentralregierung im Interesse der gesetzlichen Ordnung.579 Der Politik oblag schließlich die Gestaltung der gesetzlichen Ordnung, die Ordnung des Staates und der Gesellschaft über Gesetz und Recht. Dieser Ordnungsanspruch war für Jagemann nicht verwerflich, sondern nötig: Nur so könne der (Rechts)Frieden gewahrt bleiben.

Die Abhängigkeit der Staatsanwälte von der Staatsregierung beschrieb der berufserfahrene Jagemann als subtil wirkende Struktur. Selten erfolge eine direkte, inhaltliche Anweisung durch das Justizministerium. Das Ganze basiere eher auf einem passiven „Geschehenlassen“ durch das Ministerium – die Staatsanwaltschaft

576 Jagemann (1849), 217.

577 So Müller-Tuckfeld (1998), 26; nach Müller-Dietz, Heinz: Vom intellektuellen Verbrechensschaden. Eine nicht nur historische Reminiszenz, in: GA 1983, 481-496. Danach kamen Jagemann und Brauer in dem gemeinsam verfassten „'Criminallexikon' [1854, 360 f.]

unter den Stichworten 'Genugthuung, Genugthuungsforderung' explizit“ auf die Wiederherstellungslehre Welckers „zurück“, 491. In dem vorliegenden Text von 1849 setzte Jagemann Schlagworte („Keckheit“, „Heiligkeit“) ein, wie diese auch bei Welcker [zu diesem:

Müller-Tuckfeld (1998), 25] aufgetaucht waren.

578 Lüderssen (1995), 14: Vor einem als Gesellschaft gedachten Forum habe die Strafgewalt gewissermaßen ihre Statik geändert. An Individualfreiheit oder Staatsräson geknüpfte Bindungen der Strafgewalt wie die liberale „Gerechtigkeit“ oder das politische

„Zweckmäßigkeitsdenken“ traten und treten immer wieder auf; sie verlieren aber gerade durch diese Konjunktur an Allgemeingültigkeit und ihren totalen Geltungsanspruch und damit zunehmend ihre Daseinsberechtigung. Gleichsam als Bodensatz in einer sich stetig weiter aufklarenden Brühe bleibe ein gesellschaftliches Strafrecht übrig, das „nur noch auf symbolische Wirkung setzt“, dafür aber umso größere Kreise ziehen könne.

579 Jagemann (1849), 220.

interpretiere dies als stillschweigendes Einverständnis, das sie in ihrem Geschäftsalltag voraussetzen konnte, wenn sie es inhaltlich antizipierte.580