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A. Das Pilotverfahren der Staatsanwaltschaft im Strafrecht

III. Der Prozess

3. Interpretationsschlacht

Wegen der angeblichen Vernetzung der Angeklagten untereinander und des zeitlich, örtlich und kommunikativ unterschiedlichen Ablaufs und Scheiterns von zufälligen oder geplanten Zusammenkünften stellte sich im Laufe der Verhandlungen immer wieder die Frage nach Definition und Beweis von Teilnahme und „Mitwisserschaft“.

Der materielle Argumentationskern zwischen Anklage und Verteidigung bildete sich aber um zwei Begriffe aus dem Tatbestand des Hochverrats137. Dessen „Grenze“138 war in der preußischen Gerichtspraxis des Vormärzes eines der Rechtsprobleme schlechthin139: Es ging um nichts weniger als um die rechtliche Auslotung140 politischer Revolutionen. Auf Definitionsversuche folgten Repliken, immer wieder kamen die Juristen auf ihre Begriffe zu sprechen, beriefen sich dabei auf

„Rechtslehrer“, Kleinschrod, Böhmer, Feuerbach, Campe, Adelung, Klüver, das Landrecht, das römische Recht, den Wortlaut, den Wortgebrauch, die ratio legis, die Rechtsidee, den Willen des Gesetzgebers, Gesetzeslücken. Nur die Rechtsprechung kam in der damaligen juristischen Interpretationswelt als Autorität noch nicht vor. Der Polenprozess stellt damit eines der ersten Spielfelder des Rechtspositivismus dar, der sich gerade erst zum Gerichts- und Richterstaat ausstreckte.141 Hier, in den Verhandlungen, wurde der Rechtsdiskurs noch nicht durch die Autorität

137 Wentzel zitierte „§ 92 II., 20 ALR“ in der Anklageschrift wie folgt: „Ein Unternehmen, das auf eine gewaltsame Umwälzung der Verfassung des Staates abzielt, ist Hochverrath.“

138 s. Blasius (1983), 35.

139 Zur Praxis der Rechtsprechung im Vormärz Blasius (1983), 33 ff.

140 Blasius (1983), 37, schreibt von „juristischen Spitzfindigkeiten“.

141 Dazu Lahusen (2011), passim.

höchstrichterlicher Urteile bestimmt, sondern durch die Rechtsarbeit der Defensoren und der Staatsanwaltschaft in einem kommunikativen Wechsel an folgenden zwei Begriffen hochgezogen und befeuert.

a. Verfassung

Zum einen war dies der Begriff der Staatsverfassung. Wentzel hatte sich dazu in der ersten näheren Anklagebegründung vor allem auf das preußische Territorium bezogen und die Monarchie erst in zweiter Reihe eingebracht.142 Verfassung wollte er im weitesten Sinne als die bestehende und genuin deshalb auch durch den Staat zu erhaltende Ordnung des Staates verstanden haben – „Verfassung im allgemeinen heiße: die Beziehung der Theile zum Ganzen. Verfassung eines Staates sei der Inbegriff von Verhältnissen, die einen concreten Staat constituierten. Die Verfassung des preußischen Staats werde gebildet durch alle […] Verhältnisse, durch […] [die]

der preußische Staat im Jahre 1846 als das erschienen sei, was er damals gewesen.“143 In diesem Sinne versuchte Wentzel in „vorrevolutionärer Terminologie“

den „älteren zuständlich-neutralen Verfassungsbegriff zu bewahren“, wobei ein solcher Versuch im Kontext des Jahres 1847 den Verfassungsbegriff „freilich seinerseits politisierte“.144 Durch die Pläne der Angeklagten würden all die bewahrenswerten Verhältnisse „eine Veränderung erlitten haben“.145 Demnach schützte der Tatbestand des Hochverrats das Recht auf Selbsterhaltung und Konservierung der auch durch das Territorium geprägten staatlichen Macht. Dass man sich nun gerade im monarchischen Preußen befand, so klang es bei Wentzel an, war historisches Schicksal.

Als entpolitisierende Strategie setzte Wentzel seinen Begriffsschwerpunkt formell auf diesen als neutral ausgegebenen Erhaltungsanspruch, und materiell lediglich auf das preußische Territorium. Die Monarchie als Staats- und Regierungsform konnte er aus seinem Verfassungsbegriff zwar nicht gänzlich ausklammern. Er tat aber wohl daran, dies zumindest zu versuchen. Denn manche Verteidiger gingen an diesem Punkt auf Wentzels Vorschlag und die Integrität des preußischen Territoriums (dessen mögliche

142 Julius (1848), Sp. 87.

143 Wentzel, wiedergegeben bei Julius (1848), Sp. 87. Zur Genese des Verfassungsbegriffs als Teil der politischen Sprache seit der Aufklärung: Grimm (1994), 101-153.

144 Nach Grimm (1994), 101.

145 Wentzel, wiedergegeben bei Julius (1848), Sp. 87.

Verletzung gewissermaßen als Kollateralschaden nicht verhindert, aber auch nicht final unternommen worden sei) ein.

Der eigentliche Interpretationsmarathon allerdings, der dazu seitens der Verteidigung aufgeboten wurde, fand seinen Höhepunkt in den Ausführungen des Verteidigers Lewald, der die Frage stellte „Was ist die Verfassung des preußischen Staats?“ und sogleich als Antwort fand: das „absolut monarchische Prinzip“.146 Mit dem monarchischen Prinzip war aber der „suggestive und zentrale politische 'Begriff'“

schlechthin eingebracht, in den sich seit den einsetzenden Verfassungsbewegungen

„die antirevolutionären Wünsche der Monarchien“ geflüchtet hatten.147 Und dadurch lud Verteidiger Lewald die Verhandlungssache gleichermaßen wieder politisch auf, wohingegen Staatsanwalt Wentzel versucht hatte, sie zu neutralisieren. Der Verfassungsbegriff, um den hier gerungen wurde, schwankte damit zwischen einer als neutral ausgegebenen, fast technisch anmutenden und einer mit politischer Emphase geführten, direkt aus den vormärzlichen Verfassungskonflikten entsprungenen Definition. Politisch aufgeladen war dieser Konflikt von beiden Seiten her, aber Wentzel versuchte mit seiner Definition einen Verfassungsbegriff einzubringen, der keinen konstitutionellen Utopien folgte, sondern den Status-Quo bewahrte.

Auch Verteidiger Deycks brachte einen politisch aufgeladenen Verfassungsbegriff ein, indem er auf Souverän und Untertanen abstellte: „Die Verfassung eines Staates ist […] das Verhältnis der Regierungsgewalt zu den Regierten.“148 Ein solches Begriffsverständnis bezog nicht nur die Regierungsform mit ein, sondern erlaubte außerdem den Brückenschlag von der abstrakten Monarchie zur konkreten Person des Monarchen. Dieser hatte sich in Wentzels autark wirkendem, sich aus Teilen und Verhältnissen zusammensetzendem Staatsorganismus nicht zu zeigen gebraucht.

Da die Angeklagten aber keine konkreten Attentatspläne oder gar -versuche gegen den preußischen König zu ihrem Ziel erklärt hatten, lag mit einer solchen wie von Verteidiger Deycks eingebrachten, die Person des Souveräns einbindenden Verfassungsdefinition die Entlastung der Angeklagten auf der Hand.

146 Julius (1848), Sp. 242-246. Lewald trat als Rechtsanwalt auch auf dem Ersten Deutschen Juristentag mit dem Antrag auf, die Privatklage in das Strafverfahren einzuführen; Holtzendorff (1864), 3.

147 So Stolleis (1992), 105; zur „Funktion“ des monarchischen Prinzips als Mittel der „Abwehr demokratischer Bestrebungen“ und als „Zuständigkeitsvermutung“ zugunsten des Monarchen:

Grimm (1988), 113-116, 115 f.

148 Bei Julius (1848), Sp. 406. Ähnlich auch Verteidiger Crelinger bei Julius (1848), Sp. 661.

Wentzel wiederum versuchte nochmals, diesen politisierten Begriff zu entladen. Auch dieses Mal nahm er wieder eine neutralisierende Strategie zur Hilfe – nämlich die einer von ihm vorgeblich praktizierten „Auslegung, die sich nur damit beschäftigt, nach den Regeln der Hermeneutik grammatisch und logisch zu interpretieren“.149 Mithilfe dieses methodischen Zugriffes konstruierte der Staatsanwalt einen Gegensatz zur Verteidigung: Diese baue ihre Definition nicht auf empirischer Auslegung, sondern auf einer Theorie auf. Sie treibe nämlich die „Abstraction auf die Spitze“ und verstehe Verfassung als ein im Souverän verkörpertes Ideal, als „blos etwas Ideales, durchaus nicht Reales“.150 Diese Dichotomie, die Wentzel zwischen logischer, juristischer Auslegung und ideeller, theoretisierender Staatsphilosophie konstruierte, beinhaltete gleichsam den in einen Auslegungsvorgang „[...]

gekleidete[n] Aufruf zum Verzicht auf Politik und Philosophie“ und die Bezugnahme auf das positive Recht als „apolitische, rein formale Behandlung“ der Streitsache.151 Und unter Berufung auf das positive Recht kam Wentzel wieder zu seiner eingangs bereits formulierten Definition zurück: Verfassung bedeute, so habe das Landrecht gemeint [sic!], „Zustand“ – weder staatsorganisatorische Norm, noch staatspolitisches Ideal. Am Ende dieser Replik kam er noch ein letztes Mal auf die politische Dimension des Begriffes und des Falles zu sprechen, hielt sich dabei aber einmal mehr möglichst knapp: Selbst wenn man unter 'Verfassung' nur die Regierungsform verstehen wollen würde, so sei doch auch diese angegriffen worden, denn das Ziel des Aufstandes sei es gewesen, „eine demokratische Regierungsform […] einzuführen.“152 Dies blieb freilich das einzige und letzte Mal, dass sich der Staatsanwalt auf das politische Anliegen des polnischen Aufstandes auch nur begrifflich einließ.

b. Unternehmen

Zum zweiten kämpfte man in den Verhandlungen um den Begriff „Unternehmen“.

Hier kumulierte die Problematik des Hochverrates, der als pönalisierbares Verbrechen stets nur bei eigentlichem Tatmisserfolg denkbar ist. Ist der König tot, kann er nicht mehr strafen. Noch mit dem römischen Recht und dem ALR argumentierend und schon die Ideen von Versuchsstrafbarkeit, Unternehmensdelikt

149 Bei Julius (1848), Sp. 430.

150 Bei Julius (1848), Sp. 430; aber: „Das Landrecht muß etwas Anderes gemeint haben.“

151 So Grimm (1982), 484, über die von Gerber durch seine Methodenlehre vorgenommene Entpolitisierung des Staatsrechts.

152 Bei Julius (1848), Sp. 455; Wentzel verwandte ganze drei Sätze auf diese Einlassung.

und abstraktem Gefährdungsdelikt streifend, griff die Verteidigung auf Montesquieu153 zurück, um danach zu fragen, was zwischen dem „bloße[n] Wille[n]“und dem

„Erreichen des Ziels“ eigentlich als tatbestandliche Handlung strafbar sein solle – erst ein zusammengesetzter „Komplex von Handlungen, die es möglich machen, das zu erreichen, was erzielt wird“154? Oder schon der Übergang des Willens „in eine Handlung […], die den Anfang einer Reihe von Handlungen bildet, die in abstracto zum Ziel führen können“155? Das Bestimmen der Tathandlung „Unternehmen“ war also allein genommen bereits prekär, nicht zuletzt, weil der heute vorherrschende Konsens von echten Unternehmensdelikten156 noch nicht ausgebildet, eingeübt und durch höchste Rechtsprechung festgeschrieben worden war. Vorbereitung, Versuch und Vollendung bahnten sich zwar schon an,157 waren aber noch keine festgesetzten Bestandteile einer autoritativen Definition innerhalb des Rechts. Die Einlassungen einiger Verteidiger hierzu lesen sich wie semantische Übungen zur Versuchsstrafbarkeit: Eine „Ausdehnung der Begriffe“ führe in „Consequenz zur Strafbarkeit des bloß geäußerten […] Entschlusses“.158

Umso prekärer gestaltete sich dann die Beweisführung der staatsanwaltschaftlichen Anklage an diesem Punkt, vor allem, wenn es sich um Angeklagte aus dem weiteren Umfeld des vermuteten Aufstandsnetzwerkes handelte. Die Verteidigung warf der Anklage ein Gesinnungsstrafrecht vor: Man habe „Leute verhaftet, die nur Sympathie für ihr Vaterland gezeigt“ hätten.159 So musste Staatsanwalt Wentzel zugeben, dass die Teilnahme an Reitübungen und Jagden eigentlich „nicht die Idee der Anklage“

von „Vorbereitungen zu den revolutionairen Unternehmungen“ darstelle.160 Oder er

153 Verteidiger Deycks bei Julius (1848), Sp. 168: „Montesquieu sagt: 'Ist das Verbrechen des Hochverraths unbestimmt gelassen, so reicht dies allein aus, die bestgeregelte Regierung in eine Despotie zu verwandeln.“

154 So der Ansatz der Verteidigung, der darauf zielte, das 'Möglichmachen' zu verneinen, da der geplante Aufstand zum einen nicht die dafür nötigen Kapazitäten und Ressourcen habe auftun können und zum anderen zeitig durch die polizeilichen Ermittlungen begleitet, aufgedeckt und verhindert worden sei.

155 So der vorverlagernde Ansatz von Wentzel.

156 Fischer (2013), § 11 Nr. 6 StGB, Rn. 28: „Der Begriff des Unternehmens einer Tat (vgl. etwa §§

81, 82 [...] [StGB; Hochverrat, sic!]) erfasst nach Nr. 6 deren Versuch und Vollendung, jedoch nicht Vorbereitungshandlung (BGH 5, 281) [!]; für die Abgrenzung zwischen Vorbereitung und Versuch gelten die allgemeinen Regeln [...]. Der Versuch steht daher der vollendeten Tat gleich [...].“

157 In einem Verfahren wegen Hochverrats aus dem Jahr 1836 hatte das Berliner Kammergericht als Berufungsinstanz, anders als das erstinstanzliche Urteil, „die Theorie vom versuchten Verbrechen“ nicht explizit ausgeschlossen, sondern eine eigene „differenziertere Beurteilung“

vorgenommen; s. Blasius (1983), 34 f.

158 Verteidiger Cassius bei Julius (1848), Sp. 545.

159 Verteidiger Deycks bei Julius (1848), Sp. 407; auch Sp. 682.

160 Bei Julius (1848), Sp. 268.

kämpfte damit, dass vereinzelte Gespräche, Gasthofbesuche oder Gefälligkeiten sich nicht nur als zielgerichtete Handlungen, sondern ebenso gut als zufällige Ausschnitte alltäglichen Lebens konstruieren ließen – man plauschte über die neuesten politischen Nachrichten, ging zusammen Bier trinken oder nahm einen Bekannten auf der Kutsche mit.

Überhaupt fehle in der Anklage eine konkret vorwerfbare Tathandlung des Hochverrates, so die Verteidigung. Die Anklage sei lediglich „durch Gerüchte veranlasst“ und habe „ein Ereignis, durch welches eine [...] Absicht e r k e n n b a r geworden, […] nicht einmal behauptet.“161 So konnte Wentzel dann auch nur summieren, dass „das Resultat gegen jeden Einzelnen“ vor allem eine auf

„Schlüssen“ beruhende „Ueberzeugung“ von der Richtigkeit des Verdachts sei.162 Eine nachweisbare Handlungskette könne eigentlich auch gar kein integrales Kennzeichen des Hochverrats sein: „Es ist natürlich, daß man bei einem Verbrechen, wie das gegenwärtig verfolgte, nicht bis in alle einzelnen Handlungen das aufdecken kann, was geschehen ist. Einzelne Momente müssen die Grundleiter zu den Schlüssen abgeben, durch welche die Ueberzeugung […] bewirkt wird.“163

Auf eben dieses Dilemma musste der Staatsanwalt immer wieder zu sprechen kommen. Die Aufgabe der Anklage sei es, „jedem Einzelnen einen d o l u s und ein Verbrechen nachzuweisen“.164 Wenn es allerdings wie beim Hochverrat „in der Natur des […] Verbrechens“ liege, dass es erstens geheim gehalten und zweitens nur geplant worden sei, so werde es der Anklage „immer nur gelingen, einzelne Momente festzustellen.“165 Diese singulären Tatsachen seien jeweils „in ihrer Einzelheit von keiner Bedeutung“, aber immerhin sei auf ihrer Grundlage bereits ein richterlicher Anklagebeschluss ergangen, der dann doch auf „Gewicht und […]

Bedeutung“ der Tatsachen schließen lasse.166 Hier erinnerte Wentzel vor allem die erkennenden Richter daran, dass ihre Kollegen in der Anklagekammer bereits eine Vorauswahl nicht nur abgesegnet, sondern auch mitbestimmt hatten. Die Hoffnung der Anklage beruhte darauf, dass sich nicht zuletzt auch durch die schiere Masse der

161 Verteidiger Deycks bei Julius (1848), Sp. 641.

162 Bei Julius (1848), Sp. 270.

163 Bei Julius (1848), Sp. 270.

164 Bei Julius (1848), Sp. 334.

165 Bei Julius (1848), Sp. 334.

166 Bei Julius (1848), Sp. 439.

Angeklagten ein zusammengesetztes Gesamtbild ergebe – dass die 'einzelnen Momente' „[...] immer hinreichen, die Strafbarkeit des Ganzen zu begründen“167.