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C. Inquisitorisches Erbe?

IV. Die Ständigkeit der Behörde

3. Das Joch der Strafgesetzparagraphen

In der Strafrechtspflege verorteten ihn auch die Juristen. Franz von Holtzendorff, mit rechtstaatlich-liberalen Intentionen schreibender Professor der

708 „Bureau-, Unter- und Hülfsbeamten“ und „Private nur in der Strafvollstreckungsinstanz“.

709 Alle folgenden Zitate aus Marck (1884), 8 f., bis wieder anders benannt.

710 Marck (1884), 9: „bei Privatpersonen […] fällt aber das 'ergebenst' meistens weg“.

711 Nochmals Molitor (1843), 8.

Rechtswissenschaften712, veröffentlichte 1864 und 1865 gleich zwei Schriften zur Reform der Staatsanwaltschaft.713 Seine Agenda war durch den „Standpunkt unabhängiger Strafjustiz“ bestimmt. Er argumentierte allerdings mit recht präzisen Beobachtungen der juristischen Berufe714, unter die nun auch der Staatsanwalt fiel.

In seinen Texten kam Holtzendorff immer wieder auf die Eigenschaften des juristischen Experten zurück, die ihn von Laien und Bürgern trennten. Spezifisch dem Beruf des Staatsanwalts lastete Holtzendorff an, dass er eine „Differenz“ selbst erschuf: „In Wirklichkeit erzeugt nur aber der ständige Beruf der Anklage […] eine Rechtsauffassung und einen Maßstab der Strafbarkeit, welche […] Laien geradezu unverständlich bleiben.“715 Dieser Befund traf freilich auf sämtliche juristische Professionen zu. Unter den Stichworten Habitus, Wissen und Kodex lassen sich familiäre Herkunft, juristische Ausbildung und professionelle Tugenden zu einem Bündel zusammenfassen, das den Unterschied von Juristen- und Laiensphäre als déformation professionelle erzeugt und aufrecht erhält.716

Von der so in sich stabilisierten „Ständigkeit der Behörde“ erhoffte sich Holtzendorff zunächst „Gleichmäßigkeit, die größere Objektivität [...] ohne Rücksicht auf die Interessen eines einzelnen Falles, Sicherheit und Schnelligkeit“.717 Zu deren Gelingen trage „ein praktisch geübter Blick und außerdem eine genaue Kenntnis der [...] Verhältnisse“ bei.718 Der Staatsanwalt zeichne sich dadurch aus, dass er „ mit geübtem Blick, langer Erfahrung und richtigem Takt die offenbar werthlosen Anzeigen sofort“ erkenne und „aus der Fluth von Schriftstücken das Brauchbare schnell“

aussondere.719

712 Als „Vertreter des humanitären Idealismus nationaler und liberaler Färbung“und „Vorläufer der sozialen und strafrechtspolitischen Richtung“ wollten ihn Stintzing/Landsberg (1910/1978), 715 ff., gewürdigt wissen.

713 Die Schriften waren „maßgebend bestimmt von dem politisch liberalisierenden Gedanken, daß die Staatsanwaltschaft richterlicher Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit teilhaft zu machen sei“; Stintzing/Landsberg (1910/1978), 717. Holtzendorff (1865), 15: „Worauf kommt es denn aber [bei der Gerichtsverfassung] an? Darauf, daß den Einwirkungen der politischen Macht, den Regierungsinteressen wie den Massenagitationen, der persönlichen Autorität des Staatsoberhaupts ebenso sehr wie den Leidenschaften der Parteien jede Gelegenheit und jedes Mittel im Voraus entzogen werde, durch welches die rein sachliche Geltung des positiven Rechtes gefährdet werden könnte.“

714 Seine Perspektive gründet merklich auf Beobachtungen der Gerichtspraxis und des juristischen Berufsstandes. Sie ist, wenn auch noch nicht soziologisch, zumindest sozial fundiert.

715 Holtzendorff (1864), 33.

716 Habermas (2008), 138 ff.; 144; 146: „Reduktion, Objektivierbarkeit und Sachlichkeit“;

„bürgerliche […] Fertigkeiten“, „Sparsamkeit“, „Selbstdisziplinierung“, „Fleiß“; s.a. Sobota, Katharina: Sachlichkeit. Rhetorische Kunst der Juristen, Frankfurt am Main 1990, passim.

717 Holtzendorff (1865), 14.

718 Holtzendorff (1865), 14.

719 Holtzendorff (1864), 31.

Damit verwies Holtzendorff auf den Staatsanwalt als professionellen Experten, der anstelle des Zufalls effektiv und kontrolliert am Eingang der Strafrechtspflege wirkte.

Er konstruierte den Staatsanwalt als Verwaltungsbeamten und wirkte damit an den Zuschreibungen mit, über die im 19. Jahrhundert die „totale Wesensverschiedenheit von justitieller und administrativer Tätigkeit“720 im Kampf um die Kompetenz- und Machtbereiche von Gerichten und Exekutive konstruiert wurde. Bei Holtzendorff stand der Staatsanwalt auch unter höherem Erfolgs- und Arbeitsdruck als der Richter. Dieser Druck resultierte aus der Beamtenhierarchie, da für den Staatsanwalt

„ein Vergleich seiner Thätigkeit mit der höheren Produktionskraft eines Kollegen“

möglich sei. Zum anderen war auch das Arbeitsmaterial dafür verantwortlich – bei der Bewältigung der Aktenberge zählten „Produktionskraft“, „Energie“ und

„Schnelligkeit der […] Aktion“.721

Holtzendorff vertraute zugleich darauf, dass ein institutionalisierter Personalstamm eine Beständigkeit im wahrsten Sinne erzielte. Ohne personale Rücksichten und Abhängigkeiten arbeitend, war dies das Bild einer Staatsanwaltschaft als

„Verwaltungsapparat“722, der unbeeindruckt von politischen Tagesständen und personalen Kontakten das Strafrecht pflegte.

Die „Differenz“, die Holtzendorff für die Ständigkeit der Behörde mitverantwortlich machte, war für ihn auch mit Blick auf die Justiz in ihrer internen Organisation entscheidend. Sie erzeugte zwischen Staatsanwaltschaft und Gerichten institutionelles Vertrauen: Der „Einfluß der staatsanwaltschaftlichen Rechtsausführungen auf die Jurisdiktion der Richter“ sei zumindest in den unteren Instanzen „sehr erklärlich. Richter gewöhnen sich leicht und gern daran, auf die Staatsanwaltschaft bis zu einer gewissen Grenze sich zu verlassen. Sie können dies, weil der Staatsanwalt […] sachverständiger Spezialist ist.“723

Der Staatsanwalt als sachverständiger Spezialist? Das bezog Holtzendorff konkret auf den Umstand, dass an der unteren Gerichtsbarkeit die Richter sowohl für Zivil- als auch Kriminalsachen zuständig waren.724 Die staatsanwaltschaftliche Praxis hingegen war 1864/65 anscheinend bereits so intensiv auf das Strafrecht eingestellt, dass der Staatsanwalt den Richtern ein entsprechendes Expertenwissen voraus

720 Ogorek (1989/2008), 303.

721 Holtzendorff (1864), 45.

722 Nochmals Collin (2000), 243 ff.

723 Holtzendorff (1864), 37 f.

724 s.a. Holtzendorff (1865), 37 f.: Er meinte die „[...] wissenschaftliche Ueberlegenheit des Staatsanwaltes, dessen Amtsgeschäfte ihn auf das Criminalrecht a l l e i n hinweisen“.

hatte.725 Wenn der Richter sich auf diesen Experten verließ, dann tat er dies auch deshalb, weil sowohl Staatsanwaltschaft als auch Gericht als „ständige Behörde“

organisiert waren. Die institutionelle Organisation, die nur noch bedingt von lokalen Kontakten bestimmt wurde, produzierte das Vertrauen, dass man als behördlicher Rechtsarbeiter tendenziell kein „persönliches, außeramtliches Interesse“726 am jeweils zur Entscheidung stehenden Fall hegen würde.

Die Staatsanwaltschaft als professionelle, spezialisierte Behörde hatte für Holtzendorff aber auch Schattenseiten. Er machte explizit ihre „S t ä n d i g k e i t “727 für ein zunehmendes, immer weitere Lebensumstände umfassendes Strafrecht verantwortlich: Sie ermögliche, dass „mehr und mehr […] Thatsachen und Ereignisse unter das Joch der Strafgesetzparagraphen“ gezogen werden, dass „die Herrschaft des Gesetzes immer weiter“ ausgedehnt werde und man „bei jeder Handlung, welche […] als völlig erlaubt erschien, Stellen“ aufsuche, „an denen eine Anklage eingehakt werden kann.“728

Als Jurist klagte Holtzendorff damit zunächst über die Positivität, die auch das Strafrecht und seine Rechtsarbeiter erfasst hatte. Denn 1851 war das preußische Strafgesetzbuch erlassen worden. Und 1864 veröffentlichte Herr Ober-Staatsanwalt am Königlichen Obertribunal Oppenhoff bereits in vierter Ausgabe seinen Fachkommentar729 mit dem Titel „Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten und das Gesetz über die Einführung desselben, erläutert aus den Materialien, der Rechtslehre und den Entscheidungen des Königlichen Ober-Tribunals“. Darin nahm das jeweilige Paragraphenzitat aus dem Gesetzestext höchstens eine Viertelseite ein, während dann jeweils Seiten über Seiten fußnotenartiger Anmerkungen des staatsanwaltlichen Experten folgten: „Keine Strafgesetzgebung […] vermöchte es vorauszusehen, welche Anwendungen eine ständige Anklagebehörde ihr zu geben vermag.“730 Das war von Holtzendorff als rechtspolitischer Seitenhieb auf die alles umfassende Verfolgungssucht der Ankläger gedacht. Er beschrieb damit aber auch

725 Dieses spezialisierte Expertenwissen hat der Richter durch die bis zum BGH verstärkte Institutionalisierung der Strafgerichtsbarkeit, wie sie auch im GVG festgelegt ist, inzwischen längst aufgeholt.

726 Holtzendorff (1864), 38.

727 Holtzendorff (1864), 32.

728 Holtzendorff (1864), 32 f.

729 Allgemeine Überlegungen dazu: Kästle, David / Jansen, Nils: Kommentare in Recht und Religion, Tübingen 2014.

730 Holtzendorff (1864), 33.

die Rechtsproduktion, die vom Gesetzestext lebte – und ständig über ihn hinausschoss.

Diese „Anwendungen“ kommentierten die Staatsanwälte als Juristen; als Lieferanten der Strafgerichte und strafrechtliche Spezialisten nahmen sie im Strafverfahren an den „Anwendungen“ teil. Holtzendorff machte gerade auch den

„strafwissenschaftlichen Eifer“ der Staatsanwälte – als Teilhaber der „gelehrten Jurisprudenz“ – dafür verantwortlich, dass sie aus „unbrauchbarsten Rohstoffen […]

vermittelst der Maschinerie des Strafgesetzparagraphen zierlich gearbeitete Verbrechen“ hervorbrachten.731 In der ständigen Behörde versammelten sich diese Experten und testeten mit ihren Anklagen „die bloße Möglichkeit“732 aus.

Insgesamt beklagte also schon Holtzendorff eine „dominante Tendenz zur Ausweitung und Verschärfung“733 des Strafrechts. Die Gründe dafür suchte er in der institutionalisierten, professionellen Anklagebehörde. In dieser Kausalität soll ihm hier nicht gefolgt werden. Wohl aber bleibt festzuhalten, dass Holtzendorff die

„Ständigkeit der Behörde“ just in dem Moment beobachten konnte, als er auch die Positivität des Strafrechts sah und dessen gesellschaftliche Totalität beklagte. Damit bleibt auch festzuhalten, dass Juristen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts über eine

„Abkehr von dem Prinzip des rudimentären und fragmentarischen Strafrechts“734 nachdachten. Es kommt der Verdacht auf, dass dieses 'verlorengegangene' Prinzip zumindest unter den modernen Bedingungen der „Herrschaft des Gesetzes“ noch nie verwirklicht gewesen ist.

Unter der Herrschaft des Gesetzes ermöglichte die Staatsanwaltschaft gerade als Verwaltungsapparat und Verfahrensinstitution eine flexible, aber professionelle Organisation des Strafrechts. Einmal in der Welt, konnte die Staatsanwaltschaft als ständige Behörde für ihren Unterhalt sorgen: Als Spezialisten des Strafrechts konstruierten die Staatsanwälte nicht nur ihre Profession über Gebote und Handbücher; sie suchten auch ihr spezifisches Arbeitsmaterial selbst zusammen735.

731 Holtzendorff (1864), 32.

732 Holtzendorff (1864), 32.

733 Hamm (2007), 529.

734 Hamm (2007), 529.

735 s.u. F. I. 4., zur praktischen Konzentration auf strafrechtlich relevanten Sachverhalt bei der gesetzlich vorgesehenen Arbeit in Ehesachen.