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F. Im Zivilprozess

I. Der Eheverteidiger

2. In der ReichsCPO

In den Gesetzgebungsarbeiten zur ReichsCPO stritt man sich heftig um die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft in Ehesachen, speziell um den § 545 des Entwurfes.907 Er wurde in erster Lesung vollständig gestrichen und in zweiter Lesung abgemildert wieder aufgenommen: Während zunächst eine obligatorische Anwesenheit des Staatsanwalts bei Verhandlungen in Ehescheidungssachen vorgesehen war, beschränkte sich der dann eingebrachte Kompromiss auf eine fakultative Anwesenheit.908

Sogleich setzte kompromisslose Kritik ein: Wenn die Mitwirkung des Staatsanwalts nötig sei, weil die Auflösung der Ehe nicht allein dem Willen der Parteien unterliegen solle, dann könne man diese Mitwirkung gerade nicht „in das Belieben der einzelnen staatsanwaltschaftlichen Beamten“ stellen, sondern müsse jene Mitwirkung als eine zwingende vorschreiben.

Der Staatsanwalt selbst erschien in dieser Debatte vor allem als ein unselbstständiges Mittel zum Zweck: „Da es sich nicht empfehle, das Gericht ex officio eingreifen zu lassen“, wünschte sich Otto Bähr, der die Wiederaufnahme des § 545 mit beantragt hatte, „die Mitwirkung des Staatsanwalts“.909 Dieser solle als ein

„vollkommen geeignetes Organ zur Vertretung […] die Funktion übertragen“

bekommen, die „nicht im Wirkungskreise des Richters gelegen sei“.910 Wieder einmal war also der Richter der eigentliche Maßstab. Man beschwerte sich, dass man das Gericht mit einem Ermittlungsauftrag in Scheidungsfällen „in die schiefe Lage setzen“911 werde. Das war, einmal mehr, das Problem der Juristen. Der Richter war

907 Linke (1979), 276.

908 Bei Hahn (II/1880), 1047.

909 Hahn (II/1880), 1048.

910 Bei Hahn (II/1880), 1047.

911 Hahn (II/1880), 1269.

„urtheilender Richter“912; in Folge dessen oblag es dem Staatsanwalt, sich

„hineinzumischen“913.

In Ehescheidungsverfahren sollte er also die Ermittlungstätigkeit in den Fällen übernehmen, in denen nach Aktenlage eine Kollision und das Vorenthalten von Beweisen durch die Parteien vermutet wurde. Er konnte in diesem Sinne gleich einem Parteivortrag neues Material für das Verfahren liefern914. Gegen diese Kompetenz wurde Widerspruch seitens der Liberalen915 erhoben: Eine solche Ermittlungskompetenz bedeute, „daß der Staatsanwalt mittels der Polizei in die innersten Geheimnisse der Familie eindringen müßte“. Diesem Vorwurf der Verletzung von Bürgerrechten begegnete man mit Verniedlichung – „frivoles Eingreifen in Familienverhältnisse“916 – und Beschwichtigung durch die vorgebliche Faktenlage917. Dagegen führte man wiederum an, dass gerade bei lokaler Nähe des Staatsanwalts, etwa „an kleineren Orten, wo direkte Beziehungen häufiger gegeben seien“,918 ein solches Eingreifen wahrscheinlicher werde.

Über ein Jahr später verhandelte man am 10. Mai 1876 erneut über den § 545, da die Regierung sich hartnäckig gezeigt hatte und weiterhin „auf die Mitwirkung des Staatsanwalts in Ehesachen Werth lege“919. Der Abgeordnete Dr. von Schwarze hatte in den Beratungen ein Jahr zuvor noch nicht eingesehen, „weshalb gerade der Staatsanwalt die geeignete Person sein solle, um zu prüfen, ob eine Ehe noch glücklich werden könne“920. Nun gab er sich geschlagen und dem Regierungsbedürfnis nach, freilich nicht ohne zu erwähnen, dass seinen inzwischen eingeholten Erkundigungen nach „sich der reale Nutzen einer Mitwirkung der Staatsanwaltschaft fast überall auf Null reduziere“: „Der Staatsanwalt sage in der Regel gar nichts oder schließe sich nur an dasjenige an, was die eine oder andere Partei vorgebracht.“921 Ähnlich lapidar auf die Null verweisend, äußerte sich der

912 Bei Hahn (II/1880), 1048.

913 Otto Bähr bei Hahn (II/1880), 1048.

914 „Neue Tatsachen und Beweismittel“, § 545 Abs. 3 ReichsCPO; s.a. Popp (1986), 182.

915 Durch den Abgeordneten Moritz Klotz, Kreisgerichtsrat in Berlin und Mitglied der Fortschrittspartei; Kurzbiographie s. Hirth, Georg (Hg.): Deutscher Parlaments-Almanach, 10.

Ausgabe 1874, 205.

916 Bei Hahn (II/1880), 1049.

917 Es gebe kaum Kollisionsfälle in Ehescheidungen und damit auch nur selten einen potentiellen Ermittlungsanlass seitens der Staatsanwaltschaft; in Baden sei eine solche Kompetenz unter Zustimmung der liberalen Partei etabliert worden; Hahn (II/1880), 1049.

918 Hahn (II/1880), 1050.

919 Hahn (II/1880), 1158.

920 Bei Hahn (I/1880), 748.

921 Bei Hahn (I/1880), 749.

Abgeordnete Bölk: „In Bayern habe die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft in Ehesachen zwar nicht geschadet, wohl aber auch kaum genützt.“922 Noch weitaus entschiedener berichtete der Abgeordnete Klotz aus seiner 20jährigen gerichtlichen Erfahrung in Ehescheidungsverfahren, dass „in keinem Falle die Staatsanwaltschaft auch nur den mindesten Einfluß auf die Entscheidung der Sache gehabt habe“: „In keine Verhandlung ginge der Staatsanwalt weniger gern, als in den Termin über eine Ehescheidungsklage; er fühle selbst, daß er völlig unnützt sei, und sei es auch wirklich.“923

Wozu dann aber der ganze Streit, nun bereits in zweiter Runde?

Als zwei Grundpfeiler der Debatte lassen sich das Konzept der staatlichen Zivilehe einerseits und die Gestaltung der zivilrechtlichen richterlichen Entscheidung andererseits ausmachen. Öffentliches Interesse und parteiliche Dispositionsfreiheit, materielle oder formelle Beweiswürdigung durch den Richter und damit seine Positionierung als ermittelnder Amtsmann oder neutraler Urteiler – zwischen diesen Polen des juristischen Denkens und Argumentationsarsenals bewegte sich das Pro und Contra der Debatte. Was sollte als „Frage […] rein menschlicher Natur“924, als Frage des persönlichen, bürgerlichen Glücks den Parteien und dem Richter zur Entscheidung überlassen werden? Was stand im staatlichen Interesse, das hieß auch: im Interesse der Regierung, zur Entscheidung? Mussten die Richter seitens des Staatsanwalts – das heißt in der Lesart der Reichstagsdebatte – musste die Justiz seitens der Politik „Belehrung“925 aushalten? Drohte die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses durch die Richter „noch lässiger“ zu werden als sie ohnehin durch die sich „passiv“ verhaltenden Staatsanwälte schon war?926 Oder war ein Staatsanwalt, der „ohnehin die Interessen des Staates bei den Gerichten vertrete“927, in Ehescheidungsverfahren gar nicht vonnöten, weil die „Richter vielmehr sich stets ihrer schweren Verantwortung auch dem Staate gegenüber bewußt“928 waren?

Man stritt sich im Reichstag in einer argumentativ-strategischen, inkonsistenten Melange, die sich speiste aus politischen Konzepten, Staats- und Justizideen (nach denen man dann auch noch die Verfahrensprinzipien auszurichten versuchte),

922 Hahn (II/1880), 1159.

923 Bei Hahn (I/1880), 750.

924 Bei Hahn (I/1880), 748.

925 Hahn (I/1880), 748.

926 So die Befürchtung von Rudolf von Gneist, bei Hahn (I/1880), 750.

927 Bei Hahn (I/1880), 751.

928 Bei Hahn (I/1880), 751.

Parteipolitiken, Kritik und Replik. Nicht zuletzt trat noch die Religion hinzu, wobei mit der Ehe als Sakrament – erstaunlicherweise? – an dieser Stelle kaum explizit argumentiert wurde. Die gesellschaftspolitischen Probleme, die hinter dieser Debatte standen, sind bekannt.

Das für die Juristen entscheidende Stichwort fiel dann auch, wenn auch an anderer Stelle: Der Staatsanwalt war in der ReichsCPO auch für das Entmündigungsverfahren vorgesehen, dort als zulässiger Antragsteller neben dem Ehegatten, Verwandten oder Vormund.929 Otto Bähr930 warf dagegen ein, dass

„solche Bestimmungen“ „immer wieder dahin“ führten, „ein Stück der richterlichen Unabhängigkeit Preis zu geben“:931 Das Gericht sei in der ihm dann zustehenden Entscheidung, dem „Akte der Entmündigung“, von der formellen staatsanwaltschaftlichen Initiative, die Bähr gewissermaßen als materiellen Marschbefehl auflud,932 abhängig.933

Ausgerechnet also an jener unspektakulären Stelle der Sitzungsdebatten zum Entmündigungsverfahren, das keine weitere Diskussion provozierte, wurde eine auch den Streit um das Ehescheidungsverfahren grundlegend prägende, politische Prämisse eingeführt: Die richterliche Unabhängigkeit. Das sagt zunächst etwas über die theoretische und rechtspolitische Konsequenz Otto Bährs aus, der das Kind beim Namen nannte. Er gestand den Verwaltungsbehörden die inhaltliche Entscheidung über das Gemeinwohl zu, bescheinigte ihnen damit aber auch zugleich einen unheilbaren Mangel an Unabhängigkeit.934 Die Staatsanwaltschaft ordnete er in diesem Konzept offensichtlich als Verwaltungsbehörde ein. Damit bewegte er sich in jenem Feld, das auch insgesamt die Debatte im Reichstag erfasste – im strategischen Rahmen der unterschiedlich ausgestalteten politischen Forderungen

929 Vgl. Entwurf zum Sechsten Buch der CPO, Zweiter Abschnitt; bei Hahn (II/1880), 891. Wo § 570 Abs. 2 des Entwurfes für die Entmündigung allgemein ein „Klagerecht“ – Popp (1986), 182 – des Staatsanwalts vorgesehen hatte, wurde das Verfahren später gestaffelt: Es verlief zunächst subkutan als Offizialverfahren über ein Antragsrecht und einen gerichtlichen Beschluss, § 597 CPO. Gegen den Beschluss war allen Antragsstellern Beschwerde und dann erst Rechtsbehelf in Klageform möglich, §§ 604, 605 CPO. Wenn der Entmündigte oder sein Vormund klagte, so war die Klage nicht etwa gegen das Gericht, sondern gegen den Staatsanwalt zu richten – auch wenn dieser bis dahin kein Verfahrensbeteiligter gewesen war. Falls der Staatsanwalt den Beschluss über die Klage anfocht, so war sein Klagegegner der Vormund des Entmündigten.

930 Kurzbiographie s. Hirth, Georg (Hg.): Deutscher Parlaments-Almanach, 10. Ausgabe 1874, 154); s.a. Ogorek (1986/2008), 328 ff.

931 Bei Hahn (II/1880), 894.

932 Das Gericht „bedürfe“ der „Erlaubnis des Staatsanwalts“.

933 Bei Hahn (II/1880), 894.

934 Ogorek (1986/2008), 332.

nach Gewaltenteilung, justizieller Unabhängigkeit von Politik und Exekutive und dadurch ermöglichter Kontrolle der Regierung und ihrer Entscheidungen.

Zur Position des Staatsanwalts ergab diese Gemengelage nichts Neues. Er war auf die Rolle der Parteilichkeit festgeschrieben; und selbst, wenn man hinsichtlich der vor ihm gehegten „konstitutionellen Scheu“ in Dissens stand, war man sich darin einig, dass er zur richterlichen Entlastung einzusetzen sei.935 Der Staatsanwalt galt als Indikator für das öffentliche Interesse, wie sich der Debatte um das Entmündigungsverfahren entnehmen lässt: „Ein öffentliches Interesse liege nicht vor;

die Staatsanwaltschaft sei weggeblieben“.936

Diese Zuordnung der Staatsanwaltschaft erklärt sich aber nicht allein mit ihrem Einsatz als 'Instrument der Politik'. Der Staatsanwalt wurde auch hier wortwörtlich durch die Idee des Richters definiert, wie sich überhaupt seine staatsanwaltschaftlichen Charakteristika und Aufgaben aus dem ergaben, was der Richter nicht (mehr) sein und tun durfte. An der Bildung der Staatsanwaltschaft war also nicht nur die Politik beteiligt, die von deren Vorzügen ja erst überhaupt einmal überzeugt werden wollte.937 Gerade in den Anfängen waren es die Juristen und ihr Recht, die eine Trennung des Richters von der Ermittlungstätigkeit und der Anklage forderten, stark machten und zu verkaufen wussten, und den so geschaffenen Staatsanwalt auch in den Zivilprozess einführten.

Dieser Befund schließt nicht aus, dass sich die Dinge schnell verselbstständigten und einen anderen Lauf annahmen. Einmal in der Welt, entwickelte die Staatsanwaltschaft Eigeninteressen.

Der Abgeordnete Peter Franz Reichensperger etwa ließ sich in der späteren Lesung zum § 554 ReichsCPO in strategische Karten blicken, die etwas anders gemischt waren: Er wünschte eine Staatsanwaltschaft, die in allen Zivilsachen mitwirke, aber nicht, weil dort überall das öffentliche Interesse bestehe, sondern weil die Staatsanwaltschaft gewissermaßen einer Imagepolitur bedürfe. Sie sei durch ihre

„Ausschließung“ von Zivilsachen in Altpreußen nämlich zu einer „Polizeibehörde degradiert“ worden und trage deswegen „das Odium“ der Parteilichkeit.938 Zuvor hatte

935 Ergebnis der Zweiten Lesung: Hahn (II/1880), 1233: § 545 enthielt die fakultative Mitwirkungsbefugnis des Staatsanwalts hinsichtlich der Verhandlung und sein Recht, in Scheidungssachen neue Beweise einbringen zu können.

936 Bei Hahn (II/1880), 905.

937 Dazu Collin (2000), 61, 65; und etwa Thesmar (1844) passim, der sich über die Politik von Justizminister v. Kamptz beschwerte, weil dieser die Staatsanwaltschaft als Institution ablehnte.

938 Bei Hahn (II/1880), 1159.

Reichensperger schon in den Beratungen zum Gerichtsverfassungsgesetz diese Motivlage für eine über das Strafrecht hinausreichende Zuständigkeitserweiterung der Staatsanwaltschaft angeführt. Er berief sich dabei explizit auf den Umstand, dass der „Jurist“ zumindest gegenüber dem „Polizeikommissar“ populärer sei.939

Damit war in die Reichstagsdebatte zur Zivilprozessordnung das erste Argument eingebracht, das unmittelbar und allein auf die Staatsanwaltschaft und deren Probleme, hier hinsichtlich ihrer Legitimation und Akzeptanz, abzielte. Es sollte das letzte sein. Die Debatte um die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft in Ehescheidungsverfahren verlor sich in späteren Abschnitten in Wiederholungen.

Der § 554 wurde als fakultative Regelung in die ReichsCPO übernommen und später als § 569 weitergeführt. Bis 1977 wurde diese Regelung beibehalten. Angesichts dieser Beständigkeit könnte man vermuten, dass diese zivilprozessuale Kompetenz der Staatsanwaltschaft eine gewisse Wirkungsmacht in der Praxis besessen hätte.