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F. Im Zivilprozess

I. Der Eheverteidiger

3. Leere Formen

Dass sich der konzipierte und normierte Ordnungsanspruch allerdings im Alltag verlor, weil dort andere Determinanten940 herrschten, zeigte sich bereits 1851. Ein preußischer Staatsanwalt941 schrieb über die Verfahren in Ehescheidungen an den preußischen Gerichten. Dem Staatsanwalt sollte dort eine Art Ermittlungskompetenz zukommen, damit er zur Klärung der Sachlage beitrug.942 Idealerweise, wohlgemerkt, denn tatsächlich scheiterte eine solche Ermittlung an mehreren Faktoren: Die Ortsbehörden in größeren Städten seien zu weit von den lokalen Beziehungen entfernt, die Ortsbehörden in den Dörfern „unfähig“, überhaupt irgendwelche Informationen liefern zu können.943 Während die Verwaltung in der städtischen Infrastruktur bereits zu professionell die Akten und nicht die personalen Beziehungen

939 Bei Hahn (1879), 244 f.

940 Collin zählt zu den entscheidenden Faktoren der „spezifisch staatsanwaltschaftlichen Intentionen“: Personalkapazität, Budgetausstattung und Personalpolitik, die von einer Interims-Einstellung zur einer Festanstellung der staatsanwaltschaftlichen Beamten und einer Festsetzung des Etats überging.

941 o.A. (1851): Der Autor äußerte sich vom „Beobachtungsposten staatsanwaltschaftlicher Funktionen“ aus. Außer dieser expliziten Bezugnahme findet sich noch ein weiterer Hinweis auf seine berufliche Identität im Vorwort: Er habe zur Feder gegriffen, als „mit der Aufhebung der Königlichen Oberlandesgerichte und der damit verbundenen Ehegerichte auch des Verfassers staatsanwaltschaftliche Functionen in Ehesachen aufgehört hatten“.

942 o.A. (1851), 69: Als Staatsanwalt habe man „schon vorher von andrer Seite her Auskunft über die dem Ehezwist zum Grunde liegenden Thatsachen eingeholt, um, […] wo das Sachverhältnis falsch oder nur einseitig vorgetragen sein möchte, einen richtigen Anblick der Sache zu erlangen.“

943 o.A. (1851), 69.

verwaltete, herrschte auf dem Lande aus Sicht des Staatsanwalts ein für das rechtliche Ehescheidungsverfahren nicht weiter verwertbarer Dilettantismus. Von der staatlichen Infrastruktur war also der Erfahrung des Autors nach keine Schützenhilfe zu erwarten.

Eigentlicher Auskunftspartner für eine erfolgreiche Ermittlung wäre, so der Staatsanwalt, der örtliche Geistliche. Diese Informationsquelle sei aber gleich in mehrfacher Hinsicht blockiert: Zum einen beziehe sich der Geistliche bei seiner Auskunft kaum auf die „weltlichen Verhältnisse“ und lasse sich zudem „oft zu sehr“

durch sein „Gefühl leiten“; zum anderen habe er oft schon für (dem Scheidungsverfahren vorausgegangene, geistliche) Sühneversuche attestiert. Von diesen seinen Aussagen weiche er nun nicht mehr ab, sondern er versuche sich nur noch an einer Rechtfertigung derselben; und zuletzt hege der Geistliche oft das Misstrauen, der Staatsanwalt wolle „jede Ehescheidung unausführbar“ machen.944 Auch diese Quelle brachte dem Staatsanwalt also keine juristisch verwertbaren Informationen. Zu groß waren die institutionelle Konkurrenz, die sprachlichen und methodischen Unterschiede. Hinzu trat noch eine verfahrensbedingt kaum zu hintergehende Argumentationslogik, die an das bereits bestehende Attest über den Sühneversuch anknüpfte. Und schließlich war der Weg zur Quelle durch den Verdacht der Parteilichkeit versperrt, den der Geistliche als juristischer Laie zusammen mit „dem größern Publikum“945 gegenüber dem Staatsanwalt hegte und der so verhärtet war, dass der Staatsanwalt hinsichtlich des favor matrimonii gegenüber dem Geistlichen als eigentlicher defensor auftrat.

Der ehemals in Scheidungsverfahren tätige Staatsanwalt von 1851 ließ zwischen den Zeilen durchblicken, dass er die ihm eigentlich zustehende Ermittlungstätigkeit gerne übernommen hätte und dieses Anliegen etwa auch mit „vielfachen Nachfragen“ bei den Geistlichen versucht habe durchzuführen. Er konnte aber nur resümieren, dass auf diesem Gebiet sein Erfolg trotz allen Ehrgeizes nur ein zufälliger gewesen und ihm, dem Staatsanwalt, in aller Regel nichts anderes übrig geblieben sei, als „mit dem Ehegericht durch ein und dieselbe Brille“, nämlich in die

944 o.A. (1851), 69. Zum geistlichen Sühneversuch, an dem zumeist bereits schon ein Anwalt beteiligt war, der später auch die Vertretung im gerichtlichen Sühneversuch übernahm, ders., 92 ff. Allgemein zum Sühneversuch in Preußen Blasius (1987), 66 ff.

945 o.A. (1851), 69.

Akten zu sehen und darum eben denselben „abschriftlich mitgetheilten Acten […]

unterworfen“ gewesen zu sein.946

Erfahrungsberichte dieser Art spielten später in die oben geschilderten Reichstagsdebatten zur ReichsCPO hinein, wobei man dort dann die Differenziertheit der Erklärungen und Begründungen etwa unseres ehemals an den Ehegerichten wirkenden Staatsanwalts geflissentlich überging947.

Den Grund für die Erfolglosigkeit seiner Ermittlungsversuche suchte jener Staatsanwalt 1851 darin, dass das Verfahren in Ehesachen nicht vollständig nach dem Untersuchungsgrundsatz konzipiert gewesen war. Damit versuchte er, eine Parallele zu den Reformdebatten zum Strafprozess zu ziehen und diese für die Eheverfahren fruchtbar zu machen. Allerdings fällt auf, dass jene Faktoren, die er erläuternd für das erlebte Scheitern seiner Ermittlungsarbeit in Eheverfahren heranzog – Professionalisierung, Bürokratisierung, Arbeitsteilung, Akten als Medium der Justiz sowie die Laiensphäre – unabhängig von Prozessgrundsätzen bestanden und bestehen.948

Der Befund, dass der Staatsanwalt nicht ermitteln konnte, so sehr er auch wollte und sollte, tauchte in dem Text von 1851 nochmals an anderer Stelle auf. Der erste Verfahrensabschnitt in Ehescheidungssachen war das sogenannte präparatorische Verfahren, „der eigentliche Zeitpunct, den Ursachen auf die Spur zu kommen“949, also zu ermitteln. Auch hier versuchte der Autor wieder in rechtspolitischer Absicht, das Strafverfahren fruchtbar zu machen und über diese Analogie seine Kompetenzen wieder zu stärken950. Geeigneter Zeitpunkt für die ermittelnde Spurensuche sei der Termin der Klagebeantwortung. Hier könne der Staatsanwalt zum einen den Richter, der zu diesem Termin als Einzelrichter ohne Kollegium auftrat, unterstützen. Zum anderen wäre aber vor allem „Gelegenheit, die Parteien nicht bloß kennen zu lernen, sondern sich auch durch Informationseinziehung von der wahren Sachlage zu

946 o.A. (1851), 69.

947 Appellationsgerichtsrat Hauser bei Hahn (II/1880), 1048: Es sei geäußert worden, „der Staatsanwalt wisse auch nicht mehr, als der Richter. Aber der Staatsanwalt sei verpflichtet, nachzuforschen, und er habe dazu faktisch die beste Gelegenheit, in dem er von den Polizei- und Gemeindebehörden Erkundigungen einziehen könne.“

948 Den Vorwurf der Parteilichkeit meint man aus dieser Faktorenreihe ausnehmen zu können, da er sehr wohl mit der Debatte um das Inquisitions- oder Anklageverfahren verbunden ist. Er lässt sich aber ebenso gut in der Professionalisierung und Arbeitsteilung unterbringen.

949 o.A. (1851), 70.

950 o.A. (1851), 71: „Der Staatsanwalt kann bei dem präparatorischen Verfahren analog zum Strafverfahren eine leitende Stellung einnehmen“. Konkret solle die „anzufertigende Klage“ in Scheidungssachen „durch seine Hände“, und nicht mehr durch die unterer Beamten gehen.

überzeugen“951. Ähnlich wie bei einem Zeugenverhör wollte der Staatsanwalt sich also bei der Klagebeantwortung ein in doppeltem Sinne persönliches Bild machen, um die Ursachen zu ermitteln. Indessen erwies sich diese Möglichkeit bereits 1851 als eine unmögliche, denn der Staatsanwalt beschrieb sie im Konjunktiv Irrealis. Die Parteien kennen zu lernen hätte erfordert, dass sie „in Person erscheinen“ – „allein“:

Die Parteien erschienen selten in Person, sondern sie ließen sich in den Terminen

„durch Rechtsanwälte“ vertreten, die lediglich die „Klagebeantwortung überreichen“.952 Auch hier war es also wieder die juristische Professionalisierung, die Distanz schuf und die einer personalen Kontaktaufnahme, dem Kennenlernen, grundsätzlich entgegenstand. Damit war die im Ermittlungsversuch stecken gebliebene „Anwesenheit des Staatsanwalts überflüssig“, sie war gar zu einer „mit unnützer Zeitverschwendung verbundenen leeren Form“ geworden953. In Ehesachen hatte der Staatsanwalt „im Ganzen wenig wirksame Seiten“ besessen954.