• Keine Ergebnisse gefunden

E. Vom Gesetzeswächter zum Urteilswächter

II. Der Wächter der Gerichte

1. Richter-Vorschlag

Auch in Baden stand man vor diesem Problem. Die Richter am Oberhofgericht befassten sich mit den Rekursmöglichkeiten, die 1825 im peinlichen Prozess bestanden, und mit dem sogenannten Staatsauftrag, der seitens des

787 o.A. (1849), 170: Er habe „[...] die Erfahrung gemacht, daß e i n u n d d a s s e l b e G e s e t z von den verschiedenen Gerichten in ganz verschiedenem, in w i d e r s p r e c h e n d e m Sinne verstanden und angewandt werde.“

788 Der Text, o.A. (1849), ist in dieser Hinsicht klassisch. Sein Autor schrieb von der „dunklen, zweideutigen Fassung des Gesetzes“ und der Missbilligung der Vorschriften durch den einzelnen Richter hinsichtlich ihres Unrechtsgehalts, und summierte: „Die Möglichkeit ist also vorhanden, daß dasselbe Gesetz […] angewandt und nicht angewandt, nach seinem wahren Sinne oder irrig angewandt wird“, 170.

789 o.A. (1849), 171. Dazu auch Ogorek (1986/2008), passim.

790 Thesmar (1844), 8.

Justizministeriums an das Oberhofgericht ergehen konnte.791 Hier zeigte sich, dass das Verhältnis zwischen der Staatsregierung und den Gerichten neu ausbalanciert werden musste. Die Richter des höchsten badischen Gerichts selbst wirkten an diesem Balanceakt wortkräftig mit: Ihr Plenarbericht ging direkt an das Justizministerium, von dem die Richter eine autoritative Rückmeldung erwarteten.

Allerdings meldeten sie in ihrem Bericht zugleich hartnäckig eigene Vorschläge792 und Wünsche „für künftigen legislatorischen Gebrauch“793 an.794 Das Verhältnis zwischen Regierung und Gerichten war zu einer Verhandlungsmasse geworden. Im Kern ging es den Richtern darum auszuloten, inwieweit sie noch den „Staatsauftrag“

erfüllen mussten.

Worum ging es ihnen genau? Das badische Justizministerium konnte dem Oberhofgericht Urteile der ersten Instanz in Kriminalsachen mit dem Auftrag zukommen lassen, erneut in der Sache zu entscheiden. Hier fragten sich die Richter, ob man milder als die untere Instanz urteilen durfte und hier zeigten sie sich zunächst als pragmatische, loyale Staatsdiener: Die Milderungsoption wurde in teleologischer Interpretation der ministerialen Auftragskompetenz verworfen. Das Oberhofgericht werde durch das Ministerium grundsätzlich „nur über der Frage der Schärfung aufgerufen“ und nur dann zur Überprüfung eines Urteils eingesetzt, wenn dieses „dem Justizministerium viel zu milde dünkt“.795 Ein milderes Urteil der letzten Instanz war also nicht vorgesehen und die Richter taten, als ob sie sich an diese Vorgabe halten würden: Sie sprachen keine milderen Urteile aus. Allerdings – den

„Staatsauftrag zu anderer Entscheidung“796 befolgten sie auch nicht ohne weiteres.

Sie gaben vor, sich einen dritten Weg herauszunehmen und umgingen damit die Essenz des Staatsauftrages doch. Wenn sie das Urteil der unteren Instanz für rechtens hielten oder selbst einer „noch mildern Ansicht“ zuneigten, ließen sie das Urteil bestehen und berichteten lediglich an das Ministerium, „daß wir das hofger.

791 Debatte aus einer Plenarsitzung im November 1825, wiedergegeben in: Jahrbücher (1826), 218-221. Grundlage für den Staatsauftrag war § 31 Lit. L, Beilage F zum Organisationsedikt v.

16. November 1809.

792 Etwa: „Der erste [gerichtliche] Vorschlag ist durch den Just.-Ministerial-Beschluß […] erledigt;

den zweiten hat jene höchste Behörde mit Stillschweigen übergangen, und also zur Zeit nicht angenommen“, Jahrbücher (1826), 221.

793 Jahrbücher (1826), 219.

794 Sie trugen diesen rechtspolitischen Gestaltungsanspruch in eigener Sache mit der Publikation der Jahrbücher des Gerichtes auch explizit nach außen.

795 Jahrbücher (1826), 218.

796 Jahrbücher (1826), 221.

Urteil nicht merklich zu milde erachten“797. Bericht statt Urteil, so verweigerte man den Staatsauftrag, ohne eigene formelle Kompetenz zu überschreiten. Generell fragten sich die Richter auch, wie der „Staatsauftrag“ überhaupt zu verstehen sei. Er könne „einen Recurs der Staatsbehörde“798 darstellen. Der Auftrag könne eine gerichtliche Sonderkompetenz aussprechen, in den beauftragten Fällen außerordentlich die Funktion der ersten Instanz zu erfüllen und „den Spruch zu übernehmen“. Die zweite Variante widersprach freilich der Bedingung, dass das Oberhofgericht kein milderes Urteil und damit auch keine eigenständige Entscheidung abgeben sollte.

Der Staatsauftrag war am Ende nur ein Symptom des Problems, dass die Spruchpraxis der unteren Gerichte von den Erwartungen der Staatsregierung und der Politik abwich und nach „Nothülfe und beßernder Ausgleichung für die Strafgerechtigkeitspflege“799 gesucht wurde – freilich unter den Bedingungen zunehmender gerichtlicher Autonomie. Und so debattierte man im Präsidium des Oberhofgerichts über mehrere Möglichkeiten, diese Ausgleichung zu besorgen. Der unmittelbare Machtspruch der politischen Souveränität, „die Urtheilsschärfung im Ministerium selbst“, wurde nur kurz angerissen, denn jener war 1825 in Baden zumindest aus richterlicher Sicht nicht mehr tragbar.800 Auch die prozessuale Einrichtung einer „Staatsprokuratur“, die in Baden über die weite Grenze zum französischen Rechtsgebiet bereits näher als andernorts gerückt war, lehnten die obersten Richter ab. Hier polemisierten sie heftig, dass diese Behörde „eine überaus weit ausgedehnte, oft unnütz arbeitende und allemal gehässige Anstalt“ sei.801 Übrig blieb die Möglichkeit, dass der Staatsauftrag „an ein anderes Justizkollegium“ als das erstinstanzliche erteilt werde.802 Das Plädoyer für diese letzte Variante, die als verfahrensartiger „Weg“ den „Vorzug des gemäßigtern und seltenern Gebrauchs“

besitze,803 war wenig verwunderlich, stärkten die Richter des Oberhofgerichts mit

797 Jahrbücher (1826), 219.

798 Jahrbücher (1826), 220; damit war noch das Ministerium gemeint.

799 So die Richter des Oberhofgerichts selbst: Die Entscheidung der „badischen Legislation“, eine

„Ausgleichung“ für den „nicht seltenen Fall, wo die Hofgerichte, unter der großen Menge ihrer Straf- und Absolutions-Erkenntnisse, öfters viel zu mild urtheilen, als daß es sich mit der heilig zu schützenden Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft verträgt“, zu schaffen, sei „allemal weise“ gewesen; Jahrbücher (1826), 220.

800 Die unmittelbare ministeriale Urteilsschärfung hätte „den übelsten Eindruck hervorbringen müssen“, Jahrbücher (1826), 220.

801 Jahrbücher (1826), 220.

802 Jahrbücher (1826), 220.

803 Jahrbücher (1826), 220.

dieser Option doch die gerichtliche Kompetenz insgesamt, wenn nicht sogar unmittelbar ihre eigene selbst.