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A. Einleitung

1. Problemstellung

In der Kyrenaika kommen die Siedler früh mit den einheimischen Stämmen in Kontakt, die in der Mehrzahl männlichen Siedler gehen Beziehungen mit libyschen Frauen ein. In der Erforschung der Beziehungen zwischen Griechen und Libyern haben in der Forschung ethnozentristische Interpretationen nicht an Popularität verloren. Damit ist die Auffassung gemeint, antike Völker und libysche Stämme als historische Akteure zu betrachten und ihnen eine jeweilige „Kultur“ zu bescheinigen. Folglich ordnet man Personen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens oder ihrer Lebensgewohnheiten einem vermeintlich kulturell homogenen „Volk“ oder Stamm zu. Im Falle einer ethnozentristischen Interpretation wären also Hellenen, wie sich die Griechen selber nannten, in Libyen auf die autochthonen Stämme der Libyer gestoßen. Alternative Gruppenzugehörigkeiten zieht die Forschung oft nicht in Betracht.8 Aber auch im Falle anderer Gruppenbezeichnungen, wie der bereits genannten Siedler aus Griechenland, denkt man in der Regel an Gruppen, also einer unbestimmten Anzahl an Menschen, die einem „Volk“ angehören. Aus dieser Zugehörigkeit lässt sich dann ein vermeintlicher Habitus von Gruppen ableiten. Für die antiken Griechen ist die Vorstellung, einer durch (konstruierte) Blutsverwandtschaft verbundenen Gemeinschaft anzugehören, etwa den Hellenen, einer Phratrie oder eine Phyle, durchaus anzutreffen. Nachweislich aber spielten andere Kategorien eine ebenso wichtige Rolle, hier definierten sich Griechen nicht ausschließlich über ihre Zugehörigkeit zu einem „Volk“ oder einer Phratrie.

Die Denkgewohnheiten, die oft zu einer ethnozentristischen Betrachtung führen, entstammen einer Sprachgewohnheit, denn bei der Wahrnehmung einer Gruppe von Individuen steht normalerweise die Gruppe im Fokus – nicht die Individuen, welche die Gruppe erst bilden. 9 Für diese Denkgewohnheiten und die damit verbundenen ethnozentristischen Interpretationen liegen mehrere Gründe vor. Erstens findet in der Forschung eine unzureichende Reflexion über Gruppenbezeichnungen und ihren Bedeutungsinhalt statt. Prägnante und prägende Titel mit Sammelnamen, wie zum Beispiel

„Cirene e i Libyi“, „Before the Greeks Came […]“ oder „Archaic Greek Colonies in Libya“ erscheinen auf den ersten Blick angemessen, die Einbettung in nationale Diskurse („L'Africa Romana“) als gegeben. Diese Gewohnheiten erleichtern Entscheidungen und vermitteln Orientierung, begünstigen jedoch Generalisierungen.10 Zweitens vertraten einige Historiker die These einer früh entstandenen hellenischen Identität der Griechen, die bereits in der geometrischen Epoche während der sogenannten großen griechischen Kolonisation

Terminus Κυρεναία (4, 199, 1), bezieht ihn aber nur auf das Territorium von Kyrene. In späterer Zeit erscheint Κυρεναία häufiger, zum Beispiel in S.E.G. 23, 189 Z. 16: [Εν] Κυρεναία[ι]. s. dazu Zimmermann 1999, 1. Die Übersetzungen antiker Text wurden an die neue Rechtschreibung angepasst. Wenn nicht angegeben, stammen sie vom Verfasser.

8 Als Beispiel für eine ethnische Interpretation lässt sich Aristoteles anführen. Bei ihm sind die Griechen zuerst Angehörige der Polis, in der sie leben (pol. 1261a; 1276 a), während die Barbaren in Stämmen organisiert sein sollen. Individuen außerhalb dieser geordneten und bekannten Welt ordnet Aristoteles deshalb Stämmen zu, da sie nach seiner Sichtweise außerhalb eines definierbaren politischen Gebildes leben und sich damit auf ihre Abstammung reduzieren lassen. Zur Lage in der älteren Forschung schreibt Hansen 2009, 8: „Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, wurde Kultur traditionellerweise auf ethnische Kollektive bezogen, auf Stämme, Regionen, Völker und Nationen, bis dann durch die moderne Kulturwissenschaft auch andere Kollektive in diesen Genuss kamen (Unternehmenskultur, Subkultur, politische Kultur).“

9 Zur Sprache, die das Denken prägt Hansen 2009, 130-131.

10 Vgl. Hansen 2009, 58: „Gruppenurteile bergen zwei Gefahren: Entweder sind sie gänzlich falsch […] oder sie treffen auf eine Mehrheit zu, tun einer Minderheit aber Unrecht.“

existiert haben soll. Auch wenn die hellenische Identität nicht natürlich gewachsen, sondern das Ergebnis einer vielschichtigen Entwicklung sei, hätten die Griechen das Konzept der hellenischen Identität zumindest umschrieben.11 Das Postulat einer schon immer existierenden hellenischen Identität erübrigt dann eine Reflexion über Gruppenbezeichnungen und Zugehörigkeiten. Seit den neunziger Jahren bemühen sich aber einige Forscher, die Identität antiker Völker als soziales Konstrukt darzustellen und untersuchen hierzu die Selbstaussagen antiker Gruppen zu ihrer Identität. Dieser Ansatz wird zum Beispiel durch die Werke von J.

Hall deutlich, der in zwei großen Arbeiten und mehreren Aufsätzen die Identität der Griechen im antiken Griechenland untersuchte und auf den Konstruktcharakter hinwies.12 In der Erforschung der Kyrenaika fand eine derartige Diskussion noch nicht statt. Hier ist die hellenische Identität ein zentraler Bestandteil bei Untersuchungen, etwa bei der Interaktion zwischen Poleisbewohnern und Stämmen.13

Drittens hielten ethnozentristische Interpretationen in den archäologischen Disziplinen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als eine Abwehrhaltung gegenüber Historikern Einzug.

Nachdem einige Historiker bestrebt waren, die neu entstandenen archäologischen Disziplinen zu diskreditieren, waren die Archäologen bemüht, ebenfalls die Geschichte von Völkern mit rein archäologischen Befunden nachzuzeichnen.14 Dabei wird oft übersehen, dass es sich zum Beispiel bei Statuen um das Produkt von Werkstätten handelt und nicht um „griechische“ oder

„kyrenische“ Kunst. Und in diesen Werkstätten arbeiten möglicherweise Lehrlinge und Meister, die aus anderen Orten oder Regionen stammen oder sich zumindest von anderen Werken inspirieren lassen. In diesem Falle treten also regionale Verhaltensmuster zum Vorschein und nicht die eines bestimmten „Volkes“.

Viertens sind Archäologen bemüht, aus ihren Befunden (etwa Scherbenfunde, Kleinkunst und Grabbeigaben) und wenn möglich, mit Zuhilfenahme antiker Texte, die Herkunft ihrer Besitzer zu ermitteln und dabei Identitäten voneinander zu unterscheiden. Auch in der Kyrenaika sind in der Vergangenheit wiederholt Versuche unternommen worden, aus archäologischen Befunden die genaue Herkunft und Identität der Besitzer zu scheiden.

Alternative Gruppenzugehörigkeiten wurden dabei nicht erörtert. 15 Wie S. Brather zusammenfasste, sind die Verbindungen zwischen der materiellen Kultur und einer Gruppe jedoch derart vielfältig, dass sie nicht einzig mit einer ethnischen Identität verbunden werden könne. Die immer wieder in der Forschungsliteratur auftauchende Frage nach der Identität der Besitzer von zum Beispiel Gebrauchskeramik sei nicht aus dem archäologischen Befund abzuleiten.16 Aus den erörterten vier Punkten, die nicht notwendig bewusst, sondern unreflektiert geäußert werden, folgen Verallgemeinerungen, die einer Überprüfung oft nicht standhalten.

Wie sich in den nächsten beiden Kapiteln zeigen wird, fallen auch in der Erforschung der

11 Hall 1997, 34-40; 2002, 1-19, bes. 18.

12 Hall 1997; 2002 passim. Einen wichtigen theoretischen Beitrag liefert Barth 1969, 9-38. Identität hat in den letzten beiden Jahrzehnten auch in den Altertumswissenschaften zu einer großen Flut von wissenschaftlichen Publikationen geführt. Als Beispiele sind die Aufsätze und Monographien von Hall 1997; 2002; Gehrke 2001b;

Konstan 2001; Thomas 2001; Malkin 2002; Carter 2004; Hodos 2006; Stein-Hölkeskamp 2006; Dreher 2009;

Giangiulio 2010a; 2010b; Mertens 2010 zu nennen.

13 Dies trifft auch für andere, von den Griechen besiedelte Regionen zu. Vgl. Szamalek 2014, 53-80 zum Schwarzmeerraum; Shepherd 2014, 115-143 zu Sizilien.

14 Diese Prozesse skizziert Brather 2004, 2-3. Hierzu schreibt Jones 1997, 106-108, dass Völker sich auch durch Beziehungen von Untergruppen auszeichnen und ihre Praktiken ausdrücken. Völker sind Gruppen mit eigenem Selbstbewusstsein, Selbstdefinitionen, und basieren auf Vorstellungen von wirklichen oder angenommenen kulturellen Unterschieden.

15 Ein positives Beispiel ist Pugliese Uhlenbrok 1985, 297-303. Sie analysiert die Herkunftsorte von Weihgeschenken aus Kyrene nach ihrem Herkunftsort, bringt diese jedoch mit einem regen Handel in Verbindung. Die Kaufleute müssen nicht zwangsläufig aus den Herstellungsorten stammen und verfolgen Interessen, die nicht mit einem bestimmten Habitus entstammt. Ebenso wenig verneinen Vickers – Gill 1986, 106 bei ihrer Analyse der ältesten Scherbenfunde aus der Polis Euhesperides „political links between Euesperides and the rest of the Greek world“ zu Beginn der Siedlung. Vgl. Gill 2006, 10: „It is now accepted that pottery need not identify the origin of the traders.“

16 Brather 2004, 319. Vgl. Kelley 2012, 255: „Material culture is not an unchanging reflection of a single social identity and no one object should be thought to be indicative of a particular ethnicity.”

Kyrenaika ethnozentristische Interpretationen und Verallgemeinerungen vielfältig aus und finden im Allgemeinen Akzeptanz. Indessen wird bei einer näheren Betrachtung der Schriftquellen aber ersichtlich, dass unreflektierte Verallgemeinerungen die Sicht auf die Akteure verengen und alternative Gruppenzugehörigkeiten nicht genügend in Betracht gezogen werden. Dies ist insbesondere bei der Erforschung des Aufeinandertreffens von Siedlern mit fremden Gruppen zu beobachten. Dabei wurden in der Vergangenheit von mehreren Disziplinen kulturelle, regionale und lokale Identitäten vielfach als ein Ergebnis von Konstruktionsprozessen erkannt. Gänzlich falsch wäre es jedoch, die Abstammung völlig in den zu Hintergrund treten zu lassen, da bei historischen Ereignissen, wie zum Beispiel Kriegen, der Standpunkt, einer Abstammungsgemeinschaft anzugehören, immer wieder hervortritt und in den Quellen greifbar ist. Es lässt sich schlussfolgern, dass die Zugehörigkeit zu einem Volk in vielen Fällen nicht als vordergründiger Faktor des Zusammenhaltes fungiert und stattdessen Gruppen als Akteure eine bedeutende Rolle spielen können. Diese Gruppen sind in den antiken Texten und Inschriften zu ersehen und verfügen über ein Gruppenbewusstsein. Daher ist in dieser Arbeit erstens der bisher nicht gestellten Frage nach dem Gruppenbewusstsein ausgewählter Akteure in der Kyrenaika nachzugehen. Zweitens soll in dieser Arbeit zum ersten Mal der Frage nachgegangen werden, ob sich die Eliten in der Kyrenaika um eine kollektive Identität bemühten und welche Elemente diese Repräsentation umfasste. Mit den Eliten sind in dieser Arbeit überdurchschnittlich qualifizierte Individuen gemeint. Sie gehören in der Regel einer tonangebenden oder einflussreichen Minderheit an. Es sollen demnach zwei Forschungsfragen durch die vorliegende Dissertationsschrift beantwortet werden:

 Wie äußerte sich das Kollektivbewusstsein der in den Quellen belegten Gruppen in der Kyrenaika, und in welchen Punkten ist es nachweisbar?17

 Demonstrieren die Eliten in der Kyrenaika eine spezifische kollektive Identität? Und inwiefern unterscheidet sich diese postulierte kollektive Identität von der Realität der eigenen Region?

Die zweite Frage ist für eine alternative Betrachtungsweise von Gruppen in der Kyrenaika ebenso relevant. Denn bei der Erforschung anderer, von Griechen besiedelter Regionen wurde festgestellt, dass Eliten in neu gegründeten Apoikiai eine Repräsentationspolitik verfolgen, welche auf die Erhöhung ihrer Schicht, ihrer Polis oder ihrer Gemeinschaft abzielt, die sie durch eine (konstruierte) Blutsverwandtschaft verbunden wissen. Wie die beiden folgenden Kapitel über die Geschichte der Kyrenaika und die Grabungs- und Forschungsgeschichte zeigen, sind die vorhandenen Quellen hinsichtlich kollektiver Identitäten nicht systematisch mittels eines modernen Ansatzes untersucht worden. Diese Lücke zu schließen beabsichtigt die vorliegende Arbeit. In den nächsten Kapiteln folgt zunächst ein Abriss über die Geschichte dieser Region, dann ein Kapitel über den Forschungsstand, in der die Mannigfaltigkeit der Akteure und die Notwendigkeit einer Untersuchung ersichtlich werden.

17 In vielen Fällen ist die Unterstellung eines Gruppenbewusstseins unzulässig. Erinnert sei an das Motto der Occupy-Wall-Street-Bewegung „We are the 99 percent.“ Weder gibt es ein Bewusstsein unter den reichsten US-Amerikanern (1 %), zu dieser Gruppe zu gehören, noch unter den restlichen 99%, das sich in einer gemeinsamen Kommunikation oder Handlungen manifestiert.