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Mischehen in der Kyrenaika?

H. Segmente

2. Die Libyer als Teil der Kyrenaika

2.2 Mischehen in der Kyrenaika?

Im letzten Kapitel wurde auf die Spannungen zwischen den Siedlerkontingenten und den bereits auf den Plateaus lebenden Stämmen eingegangen. Die Spannungen entladen sich zum ersten Mal nach einem massiven Zuzug weiterer Siedler in der ersten Hälfte des 6. Jh. v. Chr.

Die stark angewachsene Bevölkerung geht in der Folgezeit nicht zurück, nicht einmal der Verlust der bereits erwähnten 7.000 Hopliten (Hdt. 4, 160, 1-3) hat negative Auswirkungen auf die Machtverhältnisse in der Region. Dabei schildert keine andere Quelle aus der archaischen Epoche einen derartigen Verlust an Kämpfern. Die Aufrechterhaltung der relativ hohen Bevölkerungsdichte deutet auf Mischehen mit einheimischen Frauen hin, obgleich nur sehr wenige Quellen von Eheschließungen unter Siedlern und lokalen Gruppen berichten. Im Gegenteil befassen sich antike Texte weder mit der Abstammung von Frauen in Apoikien, noch berichten sie über Frauengruppen im Kontext von Siedlungsgründungen. Zum Beispiel benutzt Thukydides bei seiner Beschreibung der Siedler regelmäßig die maskuline Form.868 Ferner berichtet Herodot (1, 146, 2-3) über einen Auszug männlicher Ionier nach Milet. Sie töten die männliche karische Bevölkerung und heiraten ihre Frauen. Diese schwören, niemals

865 Diod. 18, 20, 3; Arrian FGrHist 156 F 9, 16-19. Iust. 13, 6, 8: „Auch hatte er [Ptolemaios] die Grenzen seines Befehlsbereiches durch den Hinzuerwerb der Stadt Kyrene ausgeweitet, und er war groß geworden, dass er bereits nicht mehr so den Feind zu fürchten hatte als selbst den Feinden furchterregend geworden.“ Übers. O.

Seel.

866 Dobias-Lalou 1987a, 85; Laronde 1990, 180.

867 Paus. 6, 12, 7: „Theochrestos aus Kyrene, nach Landessitte der Libyer ein Pferdezüchter, sowie sein gleichnamiger Großvater waren siegreich in Olympia im Pferderennen; der Vater des Theochrestos auf dem Isthmos, wie die Inschrift am Rennwagen besagt.“ Übers. E. Meyer. Ebenso sind in Sophokles' Elektra (Soph.

El. 702) die Libyer Meister der Steigbügel und auch der Kyrener Kallimachos (fr. 384 Pfeiffer) hört in seiner Ode an Sosibios die Radachsen der Streitwagen der Asbysten: ἔτι χνόον ἄξονος Ἀσβύστης ἵππος ἔναυλον ἔχει.

868 Thuk. 1, 27, 1; 1, 100, 3; 4, 102, 2-3; 3, 92, 5.

mit ihren neuen Männern zu essen oder deren Namen auszusprechen.869 Mehrfach übte Graham Kritik an dieser Nachricht aufgrund ihres ätiologischen Charakters, mit der im Altertum die Vermischung der Ionier mit anderen Stämmen erklärt werde.870 An einer anderen Stelle berichtet Herodot (4, 164-165) vom Auszug der Phokaier aus ihrer Heimatstadt und ihrer Reise nach Korsika, wobei auch die Frauen und Kinder mitziehen und auch Statuen und Weihgeschenke verladen werden.871 Auch diese Information ist kritisch zu hinterfragen, da Herodot die Evakuierung einer ganzen Stadtbevölkerung beschreibt und die Stadt den Persern menschenleer in die Hände fällt.872 Ferner informiert Polybios (12, 5, 6-8. 11) über die Oberschicht der kalabrischen Polis Lokroi Epizephyrioi, die aus der matrilinearen Linie abstammt. Wie van Compernolle jedoch argumentiert, ist die Quelle Polybios als Propaganda zu werten.873

Die These einer weitläufigen Vermählung von Siedlern mit einheimischen Frauen in den Apoikien findet nicht bei allen Forschern Anklang. Für Graham zum Beispiel ist für bestimmte Kulthandlungen, in erster Linie in Kulten, die Frauen vorbehalten sind, eine Gruppe griechischer Frauen vonnöten. Nur diese Frauen sind im Besitz des tradierten Wissens um rituelle Praktiken und ihre Abläufe, Formeln und Schwüre.874 Doch schließt diese Feststellung, wie Hodos entgegnet, nicht die Präsenz libyscher Frauen aus, denn selbst bei einer größeren Gruppe aus einheimischen Frauen hätte eine Priesterin ausgereicht, um bestimmte Rituale zu vollziehen. Indessen berichten zwei Quellen von der Teilnahme einer Priesterin an einer Siedlungsgründung.875 Auch S. Kane spricht sich implizit gegen eine Mehrheit von einheimischen Frauen in den Kulten aus. Für Kane sei eine größere Anzahl griechischer Frauen nämlich notwendig, um die Ansprüche des Poliskollektivs auf die fruchtbaren Plateaus zu vertreten. Kane zufolge hätten die kyrenischen Frauen insbesondere dem Thesmophorienfest, dem Fest zu Ehren der Demeter Thesmophoros, eine hohe Bedeutung zugesprochen. Zunächst ziehen die Frauen aus Kyrene zum Demeter-Heiligtum.

Dort weiten die Frauen aus den höchsten Schichten ihre Autorität über die einheimischen Frauen aus dem Umland aus, indem sie in ihrer Gegenwart demonstrativ Weihgeschenke darbringen und Festmähler ausrichten.876

Die archäologischen Befunde können die Frage nach dem Grad an Mischehen nicht erhellen. Denn wie bereits dargestellt, ist materielle Kultur nicht als Reflex einer einzigen stabilen Identität zu werten, da aufgrund der Multikollektivität kein Objekt auf eine bestimmte Identität des Besitzenden hinweisen kann.877 Die Frage, ob ein bestimmtes Objekt einem Griechen oder Nichtgriechen gehörte, ist damit hinfällig, denn sie suggeriert eine zu einfache binäre Sichtweise (Grieche – Nichtgrieche). Diese ethnozentrische Frage ist nicht aus dem Material abgeleitet. Ferner ist die Identität der Griechen während der großen griechischen Kolonisation schwächer ausgeprägt als in den nachfolgenden Jahrhunderten. Als Folge sinkt auch der Erkenntniswert der in einigen Siedlungen wie Pithekoussai und Kumae gefundenen Fibulae. In der Vergangenheit versuchte die Forschung, einen bestimmten Fibeltypus

869 Den gleichen Inhalt überliefert Pausanias (7, 2, 6), der sich möglicherweise auf Herodot bezieht: „Als nun damals die Ionier die alten Milesier überwältigt hatten, rotteten sie die männliche Bevölkerung aus, mit Ausnahme derer, die bei der Belagerung der Stadt entkommen waren. Die Frauen und Töchter heirateten sie.“ Übers. E. Meyer. Für Hodos 1999, 66 sei eine „normal practice for colonists to include women.“

870 Graham 1984, 295; 1995, 12. Ebenso zweifelnd Hodos 1999, 66. Hingegen akzeptiert Coldstream 1993, 96-98 die Nachricht kritiklos als Beleg für Mischehen.

871 Auch diese Stelle zeigt die Segmentierung der Bürgerschaft einer Polis, denn ein Teil der Bürgerschaft kehrt aus Heimweh in ihre alte Heimat zurück, obwohl Rückkehrende verflucht sind.

872 Van Compernolle 1983, 1039 spricht von einer Migration, nicht von einer Aussendung von Siedlern.

873 van Compernolle 1983, 1038-1039 mit Anm. 16.

874 So argumentiert Graham 1984, 304-314.

875 Hodos 1999, 66. Strab. 4, 1, 4 überliefert die Geschichte einer vornehmen Ephesierin, die im Traum von Artemis die Anweisung, die Phokaier bei ihrer Besiedlung Massalias zu begleiten. Dort macht man sie zur ersten Artemispriesterin. Pausanias (10, 28, 3) informiert über eine gewisse Κλεόβοια, die geheime Riten (ὄργια) aus dem Demeterkult von Paros nach Thasos überführt. Über Mischehen aus dieser Zeit ist nichts bekannt. Zu dieser Stelle Graham 1984, 295-296.

876 So die Thesen von Kane 1998, 290-295.

877 s. die Diskussion um den Aussagewert der materiellen Kultur auf S. 47-48.

entweder mit einheimischen oder griechischen Frauen in Verbindung zu bringen, bis in einigen reich ausgestatteten Männergräbern aus der Oberschicht gleiche Beigaben und Fibeln gefunden wurden.878 Zudem sind die Informationen über die verwendeten Fibeln in Euboia, der Heimat der ersten auswärtigen griechischen Kaufleute und Siedler in Mittelitalien, sehr lückenhaft. Und keine der in Euboia gefundenen Fibeln zeigt Ähnlichkeiten mit

„italischen“ Typen, die aber auch die Griechen verwenden.879 Weiter betonen Graham und Hodos den Wandel von Gewohnheiten und Moden. Die Frauen in den Apoikien hätten offenbar nicht den Wunsch gehabt, ihre gewohnten Ornamente und Moden beizubehalten.880 Dieser Meinung ist zuzustimmen, weil das Individuum zahlreichen Einflüssen ausgesetzt ist und keine Substanz ist, sondern ein Prozess.881

In Kyrene bietet die materielle Kultur keinen eindeutigen Anhaltspunkt.882 An der ursprünglichen Besiedlung von Kyrene, so berichten die antiken Texte, nehmen keine Frauen teil. Auch Inschriften mit ungriechisch anmutenden Namen liefern nur ungenügende Hinweise.

Sowohl in Kyrene als auch in kleineren Gemeinschaften (κῶμαι) nahe Ptolemais Barka und Taucheira (Abb. 2) wurden Inschriften dieser Art entdeckt. 883 Die Namen werden nachweislich über Jahrhunderte tradiert und ihr Auftreten mehrt sich in der römischen Periode.

Die Namen geben über den Grad an Mischehen aber keinen Aufschluss.884 Auf zwei in Kyrene gefundenen Marmorstelen (S.E.G. 9, 46-48; 50) aus dem 4. Jh. v. Chr. sind ebenfalls libysch anmutende Namen von Soldaten enthalten. Es herrscht aber kein Zweifel darüber, dass die Träger dieser Namen das volle kyrenische Bürgerrecht besitzen. Zudem wird jeder libysch anmutende Name mit einem griechisch klingenden Patronym begleitet, umgekehrt begleitet ein griechischer Name ein libysch klingendes Patronym.885

Im Gegenzug nehmen auf dem Land Griechen auch libysche Namen an, die im Wechsel mit griechischen Namen an die Nachkommen vererbt werden und ebenfalls die konkrete Abstammung des Trägers nicht offenbaren können.886 Belegt sind ferner Übernahmen griechischer und lateinischer Namen durch einige Libyer, wie erst 1995 publizierte Inschriften belegen.887 In der kleinen Ortschaft Χερὶς, 20 km westlich von Δάρνις (heute Derna), entdeckten Mitglieder des Departments of Antiquities grob behauene Grabstelen, auf denen griechische und gräzisierte lateinische Namen eingraviert wurden: Ἰάσων, Ζηνοῦ, [?Σε]κοῦνδος, …]ανδρος Sohn des Λουκίος, Σεκας, Ἁγίων. Andere Namen sind libyschen Ursprungs oder nicht mehr entzifferbar. Insgesamt reflektieren diese Inschriften aber nicht die

878 Die Belege bei Graham 1984, 301.

879 Coldstream 1993, 93. Vielversprechender scheint die Diskussion um Fertigungstechniken, Werkstätten und der aktiven und gegenseitigen Annahme kollektiver Praktiken (Statussymbole, Gräbersitten). Ein Beispiel für diese Herangehensweise gibt Kelley 2012, 245-256.

880 Diese Aspekte behandeln Graham 1984, 301; Hodos 1999, 64-65. 69.

881 Hansen 42011, 152.

882 White 1987, 79 mit Anm. 74 und Hodos 2006, 193-196 listen eine Reihe von Grabbüsten mit physiognomischen Besonderheiten auf. Jedoch definiert keine antike Quelle beispielsweise hohe Wangenknochen, einen Turban oder Schnurrbärte als Attribut(e) eines Libyers. Diese Merkmale sind lediglich Indizien, aber keine Beweise.

883 Die Namen bei Laronde 1987, 338-340; 1990, 180; Reynolds 1987, 380. Einen künstlerischen Einfluss belegen statuarische Darstellungen mit libyscher Kleidung und verehrte Gottheiten in der Chora. Dazu Fabbricotti 1987, 221-244; Laronde 1990, 180. Wie Laronde 1988, 1026-1027 spekuliert, übersehen die Edikte Augustus diese kleinen Ortschaften, da ihre Einwohner, auch wenn sie das Bürgerrecht besitzen, keinen Einfluss auf Politik in den Poleis nehmen können.

884 Masson 1976a, 49-62. Um nur einige von Masson erwähnte Namen zu nennen: Αιαλαν (S.E.G. 20, 741 Z.

40), Αιαμοναν (S.E.G. 9, 46, Z. 59), Αμυραν (S.E.G. 9, 459 Z. 9), Ανυσ(σ)αν (S.E.G. 9, 128 Z. 30), Αρταφαν (S.E.G. 9, 613 Z. 1; 709 Z. 17), Αφθαν (S.E.G. 9, 463 Z. 3), Γιλδαν (S.E.G. 9, 455 Z. 3), Ιγισαν (S.E.G. 20, 741a Z. 7), Ιταιαλαν (S.E.G. 9, 433 Z. 2), Ροκγαν (S.E.G. 9, 457 Z. 1), Ανθυμαλλας (S.E.G. Z. 9, 436 Z. 4), Ιτθαννυρας (S.E.G. 20, 740a Z. 9) (männliche Namen); Βελυδρια (S.E.G. 9, 176, Z. 33), Λαβραμεα (S.E.G. 9, 181 Z. 4), Καλαμερα (S.E.G. 9, 647 Z. 2-4) (weibliche Namen).

885 Beispiele listet Lazzarini 1987, 172 auf: Αἰαμονὰν, Ἀννικέρις, Αμαισιννας, Γίλων, Σεμηρος. Lazzarini schlussfolgert, dass in der Vergangenheit griechische Männer Verbindungen mit libyschen Frauen eingingen.

886 Laronde 1990, 178-179. Reynolds 1987, 379-380 identifiziert in zwei in das 1. Jh. v. Chr. datierte Inschriften aus Taucheira (S.E.G. 26, 1817 Z. 12) die Libyer mit den ὄχλοι. Im Umland von Kyrene bezeichnet man sie als τὰ κατὰ τὰν χώραν ἔθνεα (S.E.G. 20, 729 Z. 4).

887 Diese Inschrift publizieren Mohamed – Reynolds 1995, 73-78.

wahren Beziehungen zwischen Griechen und Libyern. Oftmals geben die Stifter von Inschriften einen Text in einer exzellenten Ausdrucksweise in Auftrag. Die Inschriftentexte nähern sich dann der offiziellen Sprache stark an und verfälschen Hinweise auf Mischehen.

Einige – wenn auch nicht stichhaltige – Hinweise auf Mischehen finden sich bei Pindar.

Pindar endet seine neunte pythische Ode mit der Beschreibung des Zusammenkommens eines gewissen Griechen namens Alexidamos mit der Tochter eines namenlosen Libyers (P. 9. V.

103-111). Zahlreiche Griechen und Fremde kommen nach Irasa, um die (ebenfalls) namenlose Frau zu heiraten:888

Die Lesung dieser Verse folgt der Interpretation von F. Chamoux. Chamoux nimmt entgegen den meisten Lesungen an, dass ein Komma zwischen πόλιν und Ἀνταίου überflüssig ist und sich πόλιν nicht auf Irasa bezieht, sondern auf Antaios. Antaios ist nicht der Brautvater, sondern ein Namenloser, den Pindar schlicht „Vater“ oder „Libyer“ nennt. Die nachfolgenden Verse erzählen, wie der namenlose Brautvater in Irasa Danaos nachahmt, dieser richtete einst Wettkämpfe aus und versprach den Siegern seine Töchter als Preis. Wie Danaos stellt der Brautvater seine Tochter als Preis an die Ziellinie, sie gehört dem Sieger des Wettlaufs. Als erster berührt Alexidamos ihr Kleid und führt sie durch eine Schar libyscher Reiter, das Paar wird von ihnen mit Zweigen und Kränzen beworfen. Pindars Verse sind als Analogie der Verbindungen zwischen Siedlern und libyschen Frauen zu werten. Doch während die Eheschließungen in der Familie Danaos auf gewaltsame Weise zustande kommen, finden bei Pindar Griechen und Libyerinnen friedlich zueinander.889 Augenscheinlich reflektiert Pindar lokale Begebenheiten, die im kollektiven Bewusstsein der Bewohner der Kyrenaika präsent sind.

Der Name Antaios steht in einem anderen Kontext ebenfalls mit der Kyrenaika im Zusammenhang. In der sogenannten Bibliotheke des Apollodor (2, 5, 11) aus dem 1. Jh. n.

Chr. erzählt der Verfasser über die elfte Tat des Herakles. Eurystheus, der König von Mykene, trägt Herakles auf, die goldenen Äpfel der Hesperiden zu rauben. Dabei lokalisiert der Verfasser die Geschehnisse nicht in Libyen, sondern im Westen, wo die Hyperboreer leben (ἐπὶ τοῦ Ἄτλαντος ἐν Ὑπερβορέοις).890 Das Land wird von Antaios beherrscht, dem Sohn Poseidons, der Vorbeiziehende tötet, indem er sie zum Ringkampf herausfordert. Solange er auf seiner Mutter Erde (Γῆ) steht, die ihn mit Kraft versorgt, ist Antaios unbesiegbar.

Herakles aber hebt Antaios in die Luft und erdrückt ihn. Gleichfalls berichtet im 2. Jh. n. Chr.

Hyginus (Fab. 31), dass Herakles den erdgeborenen und stets kampfeslustigen Antaios in Libyen im Ringkampf besiegt.891 Sinnbildlich bricht Herakles die wilde und rohe lybische Kraft, die sich aus der Erde speist. Das Land Libyen ist unterworfen, sein Wille gebrochen und für die Besiedlung und Kultivierung durch die Griechen bereit. Für die Besiedlung der einst barbarischen Ländereien sind Frauen vonnöten, sie finden sich auch unter der

888 Gefolgt wird der Lesung von Chamoux 1953, 283-284.

889 Diese Meinung vertreten Dougherty 1993a, 152; Marshall 2007, 415-416. Athanassaki 2003, 100 zufolge datiert die Erzählung um Alexidamos in die Zeit nach der Gründung Kyrenes, wobei Alexidamos in Irasa als xenos auftritt.

890 Mit den griechischen Siedlungen wandert der Mythos zwangsläufig in den unbekannteren Westen. Die Geschichte dieser Diskussion beleuchtet1994, 181-182.

891 Hyginus (Fab. 31) schreibt: Antaeum terrae filium in Libya occidit. Hic cogebat hospites secum luctari et delassatos interficiebat; hunc luctando necavit.

ἐμὲ δ᾽ ὦν τις ἀοιδᾶν

δίψαν ἀκειόμενον πράσσει χρέος αὖτις ἐγεῖραι καὶ παλαιὰν δόξαν ἑῶν προγόνων·

οἷοι Λιβύσσας ἀμφὶ γυναικὸς ἔβαν

Ἴρασα πρὸς πόλιν Ἀνταίου μετὰ καλλίκομον μναστῆρες ἀγακλέα κούραν

τὰν μάλα πολλοὶ ἀριστῆες ἀνδρῶν αἴτεον σύγγονοι, πολλοὶ δὲ καὶ ξείνων.

„Aber während ich meinen Durst nach Gesängen fülle, fordert von mir eine Bringschuld, eine ruhmreiche Tat deiner alten Vorfahren wieder vor Augen zu führen, wie sie einer libyschen Frau wegen nach Irasa gingen, zur Stadt des Antaois, als Freier um die schöne Tochter mit dem wundervollen Haar. Viele Edelmänner warben um sie, auch viele Fremde.“

einheimischen Bevölkerung. Jedoch ist über Mischehen in den Städten wenig bekannt.

Bekanntlich erwähnt Herodot (4, 186, 2), dass die Libyer Kuhfleisch ebenso wenig essen wie die Ägypter und auch keine Schweine halten. Hierauf schreibt er:892

Eine Reihe von Forschern hält diese Nachricht als Bestätigung für ihre These, dass die Siedler ihre Frauen unter den Einheimischen finden.893 Jedoch ist nicht bekannt, ob Herodot mit den Frauen Griechinnen, Libyerinnen oder die Nachfahren aus Mischehen meint. Gegen die Annahme von Mischehen sprechen die Funde im Heiligtum der Demeter und Kore in Kyrene.

Hier finden Ausgräber die Knochen von geopferten und verzehrten Schweinen und Ferkeln.

Die Funde datieren in alle Phasen des Heiligtums.894 Die Schnitte an vorderen Gliedmaßen und die separate Anhäufung von bestimmten Körperteilen schließt auf einen bewussten Umgang mit geschlachteten Tieren während gemeinsamer Male, Opfer und Rituale ein.895 Wenn im selben Zeitraum, in dem sich Herodot in Kyrene aufhält, Frauen im Kyrener Heiligtum Schweinefleisch verzehren, verliert die Nachricht Herodots an Gewicht.

Darüber hinaus ist nach den zahlreichen Kollektivzugehörigkeiten zu fragen, welche die Diskussion um eine Abstammung bestimmter Personen in den Hintergrund verweisen. Wie bereits am Beispiel der Beludria abgehandelt, sind Frauen – wie Männer – in Kyrene in zahlreichen Kollektiven Mitglied und gehen unterschiedlichen Neigungen und Interessen nach.896 Ihre Persönlichkeit erschöpft sich in zahlreichen Kollektiven, sie können sich als Priesterinnen, Näherinnen, Mütter, Gemahlinnen empfinden oder aber als Mitglied eines Vereins. Möglich ist der Eintritt durch den „Überschuss des Individuellen“, der eine Mitgliedschaft in zahlreichen Kollektiven möglich macht.897 Daher ist die Frage nach der Abstammung der Ehefrauen von Polisbürgern zwar angemessen, sie engt jedoch die Diskussion um die Rolle der Frauen in den Apoikiai stark ein.

Der Dichter Kallimachos jedenfalls, der im letzten Viertel des 4. Jh. v. Chr. in Kyrene geboren wird, aber in Alexandria am Hof der Ptolemäer aufwächst, verbindet in seinem Apollonhymnos (V. 85-87) die Eheschließungen zwischen beiden Gruppen mit der Gründung Kyrenes:898 „Gewaltig freute sich damals Phoibos, als die Männer, die sich schon für Enyo gegürtet hatten, tanzten mit den blonden Libyerfrauen, als wenn für sie schon die festgesetzte Zeit des Karneenfestes gekommen wäre.“ Bei Kallimachos treffen Siedler und Libyer auf dem Karneenfest aufeinander. Obgleich der Dichter nicht explizit Vermählungen erwähnt, assoziiert er (wie Pindar) die Gründung Kyrenes mit der Zusammenführung von Siedlern mit

892 Übers. K. Brodersen.

893 Chamoux 1953, 129; van Compernolle 1983, 1044; Graham 1984, 297; White 1987, 80-81; Laronde 1990, 178; Marshall 2007, 413. Vielleicht ist auch das Königshaus mit einer libyschen Familie verwandt, nachdem Arkesilaos III. eine Tochter des libyschen Königs Alazeir heiratet (4, 164, 4). Da aus archaischer Zeit einige Namen libyscher Könige belegt sind, spekuliert Mitchell 2000, 98 über eine Heirat des Battos I. mit einer libyschen Prinzessin. Chamoux 1953, 151 und Masson 1976a, 53 nehmen an, der Barkaierkönig Alazeir sei ein Grieche, der einem libyschen Namen trage. Für Applebaum 1979, 26, Anm. 114 ist er ein Libyer. Wie zahlreiche philologische Untersuchungen jedoch zeigen, suggeriert ein bestimmter Name aber keine bestimmte Volkszugehörigkeit. Dazu Zimmermann 1996, 365-367.

894 White 1984, 20-22.

895 Diese These vertritt Hodos 2006, 180 mit Literatur.

896 Zur Multikollektivität schreibt Hansen 42011: „Der mit jeder Mitgliedschaft bleibende Überschuss kann in der Theorie unendlich oft angezapft werden, stößt in der Praxis aber bald an bestimmte Grenzen, etwa wenn das Individuum für weitere Mitgliedschaften kein Geld und keine Zeit hat. Aus der jeweiligen Gesamtmenge der Kollektivzugehörigkeiten, die sich immer wieder ändert, ergibt sich der Hauptteil der additiven Identität.“

897 Das Zitat bei Hansen 42011.

898 Übers. M. Asper.

βοῶν μέν νυν θηλέων οὐδ᾽ αἱ Κυρηναίων γυναῖκες δικαιοῦσι πατέεσθαι διὰ τὴν ἐν Αἰγύπτῳ Ἶσιν, ἀλλὰ καὶ νηστηίας αὐτῇ καὶ ὁρτὰς ἐπιτελέουσι. αἱ δὲ τῶν Βαρκαίων γυναῖκες οὐδὲ ὑῶν πρὸς τῇσι βουσὶ γεύονται.

„Fleisch von der Kuh zu essen halten auch die Frauen der Kyrener nicht für recht, und zwar wegen der ägyptischen Isis; auch Fasten halten sie ein und feiern Feste. Die Frauen der Barkaier essen weder Schweine- noch Kuhfleisch. Dies also verhält sich so.“

Libyerinnen. In diesem Zusammenhang wertet R. Nicolai das Karneenfest als Abschluss eines Initiationsrituals: „I Karneia sembrano dunque rappresentare sul piano festivo la conclusione dell’ἀγωγή.“ Die von Kallimachos als „gegürtete Männer“ bezeichneten jungen Männer aus der Zeit der Siedlungsgründung sind nach der Initiation Krieger und vollwertige Bürger des Poliskollektivs.899 Den Abschluss des Festes bildet nach Nicolai die Eheschließung zwischen den Erstsiedlern und den Libyerinnen, erst dieses Kollektiv wird Kyrene aufbauen.900 Kallimachos und Pindar schöpfen aus lokalen Traditionen, beide reflektieren die Vorstellungen ihres Publikums über die frühe Periode der Besiedlung. Demnach herrschte im kollektiven Bewusstsein der Kyrener die Vorstellung an friedlich zustande gekommenen Mischehen. Diese Ehen hatten schon die ersten Siedler geschlossen. Auf einer historisch nachprüfbaren Grundlage stehen diese Vorstellungen jedoch nicht. Weitläufige Mischehen deutet das bereits besprochene ptolemäische Diagramma (S.E.G. 9, 1, Z. 2-6) aus den Jahren nach 322/321 Chr. an. Die den Kyrenern von Ptolemaios I. aufgezwungene Verfassung verfügt, dass auch Nachkommen das Bürgerrecht erhalten, wenn die Mutter eine Libyerin ist:

[Πολ]ῖται ἔσονται ο[ἱ ἄνδ]ρες ἐκ πα[τρ]ὸς | Κ[υρη]ναίου καὶ γυναικὸς Κυρηναίας καὶ ο[ἱ | ἐκ τ]ῶν Λιβυσσῶν τῶν ἐντὸς τοῦ Καταβαθμοῦ Αὐ‹τ›αμάλακος καὶ οἱ ἐκ τῶν ἐ[π|οίκ]ων τῶν ἐκ πόλεων τῶν ἐπέκεινα τῆς Θιν{ιν}ός, οὓς Κυρην‹α›ῖοι ἀπώικισαν κ[αὶ ||5 οὓς ἂ]ν Πτολεμαῖος καταστήσηι καὶ οὓς τὸ πολίτευμα δέξ‹η›ται, ὡς ἂν ἐν τοῖς νόμοις τοῖσδ[ε].

„Bürger sollen die Männer sein, die von einem kyrenaischen Vater und einer kyrenaischen Mutter und sowie einer der Libyerinnen (Λιβυσσῶν) abstammen, (aus dem Gebiet) zwischen Katakambos und Automalax. Und die Beiwohner der Städte jenseits von Thinis, soweit die Kyrenaier jene dort angesiedelt haben und jene Ptolemaios ernannt hat und diejenigen welche vom Bürgerverband das Recht gegeben wurde, soweit dies nach den Gesetzen geschieht.“

Im Diagramma erhalten das Bürgerrecht alle freien Männer in der Kyrenaika, wenn sie Söhne aus einer rechtmäßigen Ehe zwischen einem Griechen und einer Griechin oder einer Libyerin sind. Explizit wird auch denjenigen das Bürgerrecht gewährt, die von einer libyschen Mutter abstammen. Das Diagramma informiert nicht über Verbindungen zwischen griechischen Frauen und libyschen Männern. Diese Ehen sind nicht rechtskräftig, da libysche Männer nicht das Bürgerrecht erhalten können. Im Allgemeinen nimmt die Forschung an, es handele sich bei den Λίβυσσαι um libysche Frauen aus der Peripherie der Poleis beziehungsweise des Einflussgebietes der Stämme, mit denen die Griechen verkehren. 901 Für Taeger ist Verleihung des Bürgerrechts an Kinder mit einer libyschen Mutter befremdlich, denn in anderen Regionen gelten Kinder aus Ehen mit nicht-griechischen Frauen als νόθοι (Bastarde). Anders als die oben behandelten Schriftquellen führt Taeger die Mischehen auf die demokratische Verfassung des 5. Jh. v. Chr. zurück, als man auch untere Schichten und Kinder in die Bürgerschaft aufnimmt, deren Eltern nur zum Teil das Bürgerrecht besitzen.902 Lediglich L.

Morretti deutet die Libyerinnen als Griechinnen, die nicht in der Kyrenaika geboren wurden.903 Letztlich ist anzunehmen, dass durch den massiven Zuzug weiterer Siedler im 6.

Jh. v. Chr. auch eine beachtliche Zahl griechischer Frauen nach Kyrene strömt, diese Zahl

Jh. v. Chr. auch eine beachtliche Zahl griechischer Frauen nach Kyrene strömt, diese Zahl