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A. Einleitung

3. Forschungsstand

Dieses Kapitel behandelt zunächst die Ausgrabungsgeschichte und den Quellenbestand, anschließend folgt eine Diskussion über den Forschungsstand.105 Eine vollständige Übersicht der in den letzten Jahrzehnten erschienenen Publikationen ist nicht das Ziel, die hier ausgewählten Publikationen dienen lediglich dazu, die in der Einleitung beschriebene Problemstellung zu verdeutlichen.106 Am Ende wird die Notwendigkeit einer Untersuchung der Quellen mithilfe einer Theorie erkennbar, die die beiden eingangs formulierten Fragen nach der Äußerung eines Kollektivbewusstseins von Gruppen und der Darstellung einer kollektiven Identität der Bewohner der Kyrenaika beantworten kann. Obgleich die Kyrenaika durch Reisende im frühen 18. Jahrhundert für die Forschung wiederentdeckt wird,107 erfolgen erste ausgedehnte und systematische Grabungen erst in den Jahren 1860-1861. Im Auftrag des British Museum durchgeführt, entsteht durch die Ausgrabungen unter E. A. Porcher und Sir R.

M. Smith zum ersten Mal ein genaues Bild der Stadt. 108 Die nächste große Grabungskampagne, bei der man auch neue Stätten und Nekropolen erschließt, erfolgt erst 70 Jahre später (1909-1911) unter der Leitung von R. Norton.109 Nach fünf Monaten wird die Arbeit durch einen Mord überschattet und abgebrochen. Nach dem italienisch-türkischen Krieg 1911-1912 erbaut die italienische Armee erste militärische Anlagen und überlässt das Gebiet ab 1917 italienischen Archäologen. Diese führen beinahe ohne Beteiligung anderer Länder in den nächsten 25 Jahren Grabungen und Untersuchungen durch. In dieser Zeit werden neben Kyrene alle weiteren großen Orte ergraben (Apollonia, Ptolemais, Barka und Taucheira). Im Zweiten Weltkrieg ruhen die Arbeiten und werden Anfang der Fünfziger wieder aufgenommen.110 In der Folgezeit ergänzen französische, amerikanische111 und polnische112 Forschungen die immer noch dominierenden britischen und italienischen Grabungs- und Forschungstätigkeiten. 113 Die Leitung des neu geschaffenen Libyan Departement of Antiquities übernimmt zuerst R. G. Goodchild, einer der besten Kenner der römischen und spätantiken Kyrenaika. Er arbeitet bis zu seinem Tod 1968 eng mit dem Leiter der italienischen Mission, S. Stucchi, zusammen.

Die Erforschung des antiken Libyens differenzierte sich in den letzten Jahrzehnten weiter aus. Ein Teil untersucht die im Fezzan und in der Peripherie griechisch-römischer Städte lebenden libyschen Stämme. Das Fezzan-Projekt vereinte jüngst die Ergebnisse der von C. M.

Daniels zwischen 1958-1977 und von D. Mattingly 1997-2001 durchgeführten Grabungen und Surveys im Fezzan mit dem Ziel, diese Befunde zusammenzufassen und eine Geschichte der prähistorischen und antiken Periode des Fezzan zu zeichnen.114 Reges Interesse wecken auch die libyschen Stämme der prähistorischen beziehungsweise protohistorischen Periode, vor der Ankunft der Griechen.115 Aufgrund der ausbleibenden Schriftlichkeit unter den Stämmen berichten über sie nur griechische und römische Quellen, sodass alternative Gruppenzugehörigkeiten von Stammesmitgliedern nicht in Augenschein genommen werden

105 Vgl. Bernstein 2004, 171-222; Zimmermann 1999, 205-220 mitsamt den wichtigen Anmerkungsapparaten passim. Überholt ist das Buch von P. Romanelli, „La Cirenaica romana.“

106 Bezüglich der Vollständigkeit sei vor allem auf die fachwissenschaftlichen Zeitschriften Libyan Studies, Libya Antiqua und Quaderni di archeologia della Libia verwiesen.

107 Zu den frühen Reisen von Europäern Atkinson 1996, 73; Ruprechtsberger 2012, 11-12.

108 Das 1864 erschienene Buch von Smith – Porcher trägt den Titel „History of the recent discoveries at Cyrene:

made during an expedition to the Cyrenaica in 1860-61, under the auspices of Her Majesty’s Government.“

109 Fairbanks in Kelsey 1910, 46-47; Goodchild 1971, 59-60. Einen Nachbericht über die Tätigkieten des dieses Unternehmens liefern Santucci – Uhlenbrock 2013, 9-55. Zu den Nekropolen allgemein Cassels 1955, 1-43.

110 Einen Überblick über die Forschungen nach dem Zweiten Weltkrieg (bis 1958) gibt Sichtermann 1959, 239-348. Vgl. Goodchild 1971, 62-63; Ruprechtsberger 2012, 15-16.

111 Seit den späten sechziger Jahren befassen sich die Projekte der University of Pennsylvania mit dem Heiligtum der Demeter und Persephone in Kyrene. Hervorzuheben sind wichtigen Bände von White 1984; 1993; 2012.

112 2001 begannen polnische Grabungen in der Polis Ptolemais. s. Żelazowski et al. 2011.

113 Die Mitglieder der italienischen archäologischen Mission unter M. Luni (1996-2014) befassen sich voe allem mit Ausgrabungen und Forschungen in Kyrene. s. Luni 2006; 2010; Luni et al. 2010; Bagnulo et al. 2010.

114 Zur Publizierung der Aufzeichnungen von C. M. Daniels Edwards et al. 1999, 109-127; Mattingly et al. 2003-2013. Zu den Garamanten Ruprechtsberger 1997 passim.

115 s. die Übersichten bei Barker 1989, 31-41; Daniels 1989, 45-59; White 1994, 31-39. Vgl. Gosline 1995, 1-16.

können. Selbst nach dem Einsetzten der griechischen Geschichtsschreibung verweisen die Griechen die Stämme stets in den Hintergrund, wie M. Austin betont. 116 Unter Berücksichtigung der römisch-libyschen Beziehungen erschienen ebenfalls mehrere Beiträge zu Landwirtschafts- und Siedlungsstrukturen, nachdem die Randgebiete der Wüste aus der griechisch-römischen Periode intensiver ergraben wurden.117 Die Surveys und Grabungen belegen die einst dichtere Besiedlung der unwirtlichen Zonen in der Kyrenaika, zu der auch die für die Forschung interessanten, befestigten Gehöfte gehören. Sie heißen Gasr (pl. Gsur) und verteilen sich mehrheitlich nur über Libyen.118 Umstritten bleibt, wem diese Höfe gehörten, wer sie bewirtschaftete und wie das genaue Verhältnis zwischen Griechen, Römern und den von ihnen beeinflussten lokalen Gruppen zu bewerten ist.119 R. Smith untersucht das Fortleben der libyschen Stämme der Antike bis in das späte Mittelalter sowie die unterschiedlichen Klassifizierungssysteme und Kriterien bei antiken und mittelalterlichen Verfassern betreffend ihrer Identität.120 Es zeigt sich also, dass der Mangel an Schriftquellen die Wahrnehmung der libyschen Stämme als historische Akteure bestimmt und schließlich aus archäologischen Befunden der Versuch unternommen wird, die Geschichte dieser untergegangenen Stämme zu rekonstruieren. Dabei werden allzu oft alternative Gruppenzugehörigkeiten übersehen, in denen beispielsweise die Kategorien Landwirte, Militärs und Kaufleute eine bedeutende Rolle spielten.

Ein weiterer Teil der Forschung, zu dem Klassische Archäologen, Altphilologen und Historiker gehören, untersucht die antiken Stätten.121 In diesen Stätten – insbesondere in Kyrene – ermöglicht die bessere Quellenlage eine differenzierte Betrachtung, die jedoch nicht immer ausgeschöpft wird. Hier gehören zu den wichtigsten Quellen, neben den Berichten antiker Verfasser, die von Ausgräbern und Epigraphikern geborgenen Inschriften. Allein aus den vorchristlichen Jahrhunderten sind 800 Inschriften bekannt. Schon die ersten Reisenden, Diplomaten und Künstler sind neben ihrer Neugier an den antiken Ruinen auch daran interessiert, Inschriften zu kopieren und sogar mitzunehmen.122 Die vermehrten Berichte und Abschriften aus der Kyrenaika dienen J. Franz und A. Boeckh für eine erste Edition von Inschriften im dritten Band des „Corpus Inscriptionum Graecarum“ (CIG) von 1853.123 Die seitdem gefundenen Inschriften finden Eingang in den dritten Band der „Sammlung der griechischen Dialekt-Inschriften“ (SGDI) von H. Collitz und F. Bechtel (Nr. 4833-4870) und in E. Schwyzers „Dialectorum graecarum exempla epigraphica potiora“ (DGE) von 1923.124 Auch die amerikanischen Ausgrabungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bringen neue Inschriften zutage.125 Doch erst die systematischen Untersuchungen der Soprintendenza alle Antichità della Libia in den Jahren 1912-1942 bringen zahlreiche Neufunde an das Tageslicht.126 Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trägt J. J. E. Hondius im neunten Band der von ihm herausgegebenen Reihe Supplementum Epigraphicum Graecum (S.E.G.) alle damals bekannten Inschriften aus der Kyrenaika zusammen.127 Erst in den Jahren

116 Austin 2008, 208-209.

117 Zu diesen Randgebieten Barker 1996; Barker – Gilbertson 2000, 137-156.

118 Bennett – Buzaian 2006; Bennett et al. 2008, 117-130. Eine Pionierleistung erbrachte Goodchild 1950a; 1952, der die These aufstellte, dass die fruchtbaren Gebiete um die Poleis der Kyrenaika seit der Spätantike und in byzantinischer Zeit auch an der Küste von kleinen Festungen und Wehrtürmen geschützt wurden, um Barbaren innerhalb des römischen beziehungsweise byzantinischen Territoriums zu beobachten und zu kontrollieren.

119 Die Präsenz von Libyern ist durch epigraphische Zeugnisse belegt, zum Beispiel im römischen Wehrdorf Ghirza (250 km südlich von Tripolis).

120 Smith 2003, 459-500.

121 Hervorzuheben sind die Bände der Reihe Monografie di Archeologia Libica. Seit 1948 erscheinen fast 40 Bände mit kunsthistorischen, numismatischen, epigraphischen und historischen Arbeiten.

122 Laronde 1987, 18. Ruprechtsberger 2012, 11-12; Rosamilia 2014, 381-382.

123 CIG III Nr. 5129-5362b. Der vierte Band (1859) nimmt weitere Inschriftenfunde auf.

124 SGDI 3 Nr. 4833-4870.

125 Die Inschriften bei Robinson 1913, 157-200. Zum bisherigen Corpus kommen 115 neue Inschriften beziehungsweise Fragmente hinzu.

126 Die Inschriften erscheinen im „Notiziario Archeologico“ (1915-1927), der Serie „Africa Italiana“ (1927-1941) und in den beiden Bänden der „Documenti antichi dell'Africa italiana“ (erschienen 1932-1936). Ausführlich zu den Publikationen äußert sich Rosamilia 2014, 384-386.

127 S.E.G. Band 9 erscheint 1939, ein zweiter Band 1944. Die Bände beinhalten jedoch keine Abbildungen, weiter

1962 werden postum Inschriftensammlungen von G. Oliverio publiziert, die ebenfalls vor dem Krieg entstanden waren.128 Seit diesen Publikationen sind neue Inschriften hinzugekommen und werden an unterschiedlichen Orten veröffentlicht, bisher existiert leider keine umfassende Sammlung aller bereits publizierten Inschriften. Ihre Anzahl reicht jedoch aus, um den Dialekt und wesentliche Aspekte der Administration seit der klassischen Periode herauszuarbeiten.

Die stetig anwachsende Zahl an Inschriften gibt außerdem Aufschluss über den Grad der Integration von Römern und Libyern in die von Griechen dominierte Region.129

Die Arbeiten von Historikern befassen sich mit der Geschichte der Königsherrschaft und der Demokratie,130 den Beziehungen zu den Persern,131 der Einrichtung der Provinz,132 den Gründungsgeschichten,133 der Neueinteilung der Bevölkerung unter Demonax, dem Handel mit Innerafrika134 und dem Mittelmeerraum sowie mit dem Status der Poleis unter den Ptolemäern, Römern und Byzantinern.135 Nur einige Forscher betonen die Heterogenität gesellschaftlicher Gruppen. So untersuchten K.-J. Hölkeskamp und F. X. Ryan die Neuordnung der Bürgerschaft Kyrenes in Untereinheiten und insbesondere die Identität der Perioiken. Beide Forscher kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Hölkeskamp und Ryan stellten zu Recht eine außerordentliche Heterogenität der zugewanderten Siedlergruppen dar, ohne ein Kollektivbewusstsein zu ermitteln oder auf alternative Kollektivzugehörigkeiten hinzuweisen, die ebenfalls bestimmend sein könnten.136

1987/88 kann die französische Geschichtswissenschaft mit den von A. Laronde und D.

Roques publizierten Arbeiten zum ersten Mal eine Darstellung der antiken Kyrenaika seit der hellenistischen Epoche bis zur Herrschaft Justinians bereitstellen.137 Laronde war seit ihrer Gründung 1976 der Direktor der französischen archäologischen Mission in Libyen und neben Stucchi und Goodchild einer der größten Kenner der Kyrenaika. In seiner Eigenschaft als Historiker, Archäologe, Numismatiker, Epigraphiker und Geograph vermochte er es bis zu seinem Tod im Jahre 2011, alle Quellengattungen erschöpfend auszuwerten und in zahlreichen Aufsätzen und Büchern das antike Libyen darzustellen.138 Wie anhand seiner Arbeiten zu ersehen ist, sind die scheinbar von Völkern ausgetragenen Konflikte in Wirklichkeit das Ergebnis partikularer Interessen bestimmter Gruppen. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Karthagern etwa plädierte Laronde für die These eines Kampfes um die Kontrolle der Handelswege, die in das Innere Libyens führen. Auf den Routen entlang der Küste der unwirtlichen Syrte (Abb. 1), um die sich Karthager und Griechen streiten, seien

sind neue Lesungen hinzugekommen und müssen umständlich verglichen werden.

128 Oliverio stirbt 1956. Der erste Nachlass erscheint im vierten Band der Quaderni di archeologia della Libia (1961, 3-54). Den zweiten Nachlass publizieren G. Pugliese Carratelli und D. Morelli im darauffolgenden Jahr. s.

Oliverio – Pugliese Carratelli – Morelli 1963, 219-375.

129 C. Dobias-Lalou legt im Jahre 2000, nach vier Jahrzehnten ihrer Forschungen über der Kyrenaika, ihre Monographie zum dort gesprochenen Dialekt vor. s. zur Forschungsgeschichte auch das bei Dobias-Lalou 2000, 311-324 nach Sachthemen gegliederte Literaturverzeichnis.

130 Die architektonische Umgestaltung der Agora in der Demokratie untersuchen Bacchielli 1985, 1-14; Scott 2013, 22-29.

131 s. zu Beziehungen zwischen den Persern und Kyrenern Austin 1990, 297-298. 301-302; 2008, 211-213;

Mitchell 1966, 99-113; Mitchell 2000, 82-102; Wright – White 2005, 21-42.

132 Braund 1983, 16-21; 1985, 319-325; Harrison 1985, 365-374.

133 Zu den Funktionen der Gründungsgeschichten Giangiulio 2001, 116-133. Giangiulio betont an anderer Stelle (2010a, 121-131) die wichtige Rolle Delphis als integralen Bestandteil der Gründungsgeschichte Kyrenes. Diese Rolle habe sich erst im Entstehungsprozess der Traditionen entwickelt. Auch in spätarchaischer Zeit sei die Geschichte um Pheretime zugunsten partikularer Interessen umgemünzt worden. Dazu Giangiulio 2011, 705-716.

Malkin 2003, 157-159 betrachtet die Gründungsmythen als einen Teil des libyschen Logos Herodots und betont den Stolz der Einwohner Kyrenes auf ihre Vorfahren. Vgl. dazu Malkin 1994, 169-191; 2003, 153-170.

134 s. in Hinblick auf Handel mit Innerafrika die erläuterten Schriftquellen bei Huss 1989, 1-29. Die Kenntnisse der Römer und ihr Vordringen in den Fezzan behandelt Desanges 1989, 31-50.

135 Verwiesen sei auf die Zusammenstellungen bei Ruprechtsberger 2012, 288-306.

136 Hölkeskamp 1993, 404-421; Ryan 2001, 79-85. Nichtsdestoweniger folgt Hölkeskamp der These, anhand der Keramik die Kontakte der Kyrener mit anderen Orten des Mittelmeerraumes bestimmen zu können. Ebenso können Kaufleute Häfen angesteuert, verschiedenste Waren aufgenommen und gelöscht haben.

137 Laronde 1987; 1988; Roques 1987.

138 Vgl. die Bibliographie von Laronde in Dobias-Lalou – Maffre 2011, 352-359.

Luxusgüter und Sklaven transportiert worden, die das Interesse der höheren Schichten weckten.139 Ferner stellte Laronde fest, dass in der Kyrenaika sowohl sesshafte (oder nur saisonal umherziehende) libysche Landwirte als auch kyrenische Grundbesitzer einen gemeinsamen Feind besaßen, nämlich die aus der Peripherie eindringenden Nomaden.140 Auch diese Schlussfolgerungen entkräften ethnozentristische Interpretationen, in denen Griechen gegen Libyer kämpfen. Diese Interpretationen begegnen wiederum bei der Untersuchung der materiellen Kultur.

Bei der Analyse der materiellen Kultur konzentrieren sich Ausgräber, Klassische Archäologen und Kunsthistoriker auf alle Gattungen der Bildenden Kunst. Sie untersuchen ferner Nekropolen und Heiligtümer, Keramik, Münzen sowie die territoriale Ausdehnung der Poleis. Auch bei ihren Untersuchungen ist eine unzureichende Reflexion über ethnozentristische Interpretationen, Gruppenbezeichnungen und den Bedeutungsinhalt von materieller Kultur erkennbar, wie anhand der folgenden Beispiele zu ersehen ist. Zum Beispiel charakterisiert S. Wanis ein Relief aus späthellenistischer Zeit, auf dem Szenen mit einer libyschen Gottheit abgebildet sind, als einen Reflex der „good relations between the Greek and native populations of Cyrene.“ 141 Die beiden auf dem Relief dargestellten Frauengruppen, die laut Wanis den Demeterkult vollziehen, ein Kult der nur Frauen vorbehalten ist, treten bei der Interpretation in den Hintergrund. Hingegen lenkt S. Kane den Fokus auf soziale Gruppen. In ihrer Deutung der Statuenweihungen im Heiligtum der Demeter und Persephone agieren Frauengruppen aus Kyrene, dem Umland und der Peripherie. Durch die Gastgeberinnen und ihre Rituale sichert sich indirekt eine Elite an Landbesitzern die Macht, die laut S. Kane

„sustained many of their agrarian interests through the worship of Demeter and her daughter Persephone in the extra-mural Sanctuary in the Wadi bel Gadir, and who, through the rituals practiced within that Sanctuary, extended the authority of their polis over the surrounding region.“142

Bei seiner Interpretation hellenistischer Terrakottafiguren meint L. M. Burn „Cyrenaican types with south italian echoes“ zu erkennen und verbindet bestimmte Stilkonstanten und Formgebungen mit Kunstlandschaften, in denen bestimmte Völker leben. Die Darstellung eines Affen, der auf einer Harfe spielt sei „surely an Egyptian rather than a Greek habit.“143 Nach diesem Pauschalurteil erkennt Burn zu Recht den Einfluss von Importen, doch wären dann lokale Künstler und nicht Griechen beeinflusst worden. Ebenso könnte es sich um einen expliziten Auftrag eines Kyreners gehandelt haben, dem sein „Greek habit“ wohl nicht vertraut war. Denn in der Tat existiert kein ethnischer Habitus, sondern existieren Gewohnheiten, die in Gruppen praktiziert werden.144 Auf dieses Phänomen wird unten ausführlich eingegangen.

Deutlicher kommt die angedeutete Problematik um gegenseitige Einflüsse in der Diskussion um die Grabkultur in Kyrene zum Vorschein. In einer Reihe von Aufsätzen charakterisierte kürzlich L. Cherstich die Nekropolen von Kyrene in der hellenistischen Epoche. Obgleich unter den Ptolemäern sich der Einfluss der Grabkunst aus Alexandria (Abb.

1) auf die Gestaltung der kyrenischen Felsgräber bemerkbar mache, wären die Aristokraten in Kyrene ihren alten Traditionen treu geblieben.145 Seit der Einrichtung der Provinz aber sickern zunehmend komplexere Elemente aus der römischen Grabkunst ein. Verstärkt bemühen sich die Aristokraten in Kyrene nun um eine Adaption der im römischen Reich bekannten Kunststile. Die kyrenischen Aristokraten stellen, wie die Römer, Porträtbüsten auf und

139 Laronde 1987, 199-211. Dagegen ist Desanges 1989, 47-48. Desanges spricht sich explizit gegen die These von Laronde aus, dass die kyrenische Bürgerschaft das Gold für ihre Münzprägungen einem Sieg über Maken und Nasamonen zu verdanken hätte. In erster Linie werden die Nasamonen in antiken Quellen (Lucan. 4, 679; 9, 458) als mittellos (inops) und arm (pauper) beschrieben.

140 So die Schlussfolgerung von Laronde 1990, 176.

141 Wanis 1992, 41.

142 So die These von Kane 1998, 300.

143 Burn 1994, 150.

144 s. zur Kritik an der Übertragung des Kulturbegriffs auf Stämme, Regionen, Völker Hansen 2009, 8-10.

145 Zu den Unterschieden in der Ausgestaltung von Gräbern in Alexandria und Kyrene Cherstich 2008a, 129-142;

2008b, 73-93. Einen Überblick über die Nekropolen gibt Cassels 1955, 1-43.

versuchen Anschluss an die im römischen Reich geläufigen Gräbersitten zu gewinnen.146 Hierzu schreibt Cherstich:147

„All of this was part of a wider cultural process of Hellenization which encompassed fields other than the funerary one. Romans favoured the trend, testified by the attention given to the old historical centres of poleis like Cyrene, Athens and Ephesos. Furthermore, especially after Augustan times, the Hellenization (already begun in Hellenistic times) was an important part of the Romanization of the non-Greek Near East, in a wonderful mixture of identities and cultures.

In an old polis like Cyrene speaking of Hellenization is obviously inappropriate but it is clear that Roman rule enhanced the transformation started already in Ptolemaic times, importing further foreign customs.“

Die in diesem Textabschnitt gefallenen Begriffe veranschaulichen noch einmal die Problematik einer ethnozentristischen Sichtweise. Der von Cherstich bezeichnete „non-Greek Near East“ vermittelt ein scheinbares Bild einer kulturell homogenen Region. Der Nahe Osten läge den Reichen der Römer und Griechen nicht nur gegenüber, sondern verhalte sich gegensätzlich. Der als „Hellenization“ und „Romanization“ bezeichnete Prozess schildert die Aufnahme von Praktiken und Fähigkeiten, Wissen und den Vorstellungen eines anderen Volkes. Dabei werden jedoch die außerordentliche soziale und kulturelle Heterogenität dieser Gesellschaften, der Gebenden und Nehmenden, sowie die Mannigfaltigkeit an Gruppen verkannt. Denn wie die Forschung herausgearbeitet hat, ist etwa die Identität der Römer und Griechen ein soziales Konstrukt, Griechen und Römer bestehen selbst aus einer „wonderful mixture of identities and cultures.“ Für M. Weber stellt Identität ein entwicklungsfähiges soziales Konstrukt mit historischem Charakter dar. Nicht objektive Gemeinsamkeiten, sondern der subjektive Gemeinschaftsglaube sei ein entscheidendes Kriterium. Menschen, die einen subjektiv empfundenen Glauben an eine Abstammungsgesellschaft besitzen, fasst Weber zu ethnischen Gemeinschaften zusammen. Die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung erleichtere wiederum die Vergemeinschaftung, zu der insbesondere die politische gehöre.148 Gleichzeitig betont Weber das Wecken der Vorstellung an eine Abstammungsgesellschaft durch die politische Gemeinschaft. Auf der Basis dieser Vorstellung entstünde Weber zufolge aus dem „rationalen Gesellschaftshandeln“ ein „übergreifendes Gemeinschaftsbewusstsein.“ Der Mehrwert liege im Stolz, im Pathos und den damit verbundenen positiven Wertungen, zu einer (geglaubten) Gemeinschaft zu gehören.149 Die Auffassung, einer Abstammungsgesellschaft anzugehören, erfreue sich, wenn man Weber folgt, deshalb so großer Beliebtheit, weil er von jedem Individuum des jeweiligen Kollektivs, unabhängig von der Stellung in der Gesellschaft, in Anspruch genommen werden kann. In ihrem Selbstverständnis grenzen sich die Menschen durch eine Reihe von Kriterien von anderen Gruppen ab. A. D. Smith beispielsweise nennt als Kriterien einen Kollektivnamen, einen gemeinsamen Abstammungsmythos, eine gemeinsame Geschichte, eine bestimmte geteilte Kultur, eine Assoziation mit einem bestimmten Territorium und eine Solidarität untereinander.150

146 Für diese These plädieren Cherstich – Santucci 2010, 33-36; Cherstich 2011, 33-45. Vgl. Reynolds 2000, 555.

147 Cherstich 2008a, 137.

148 Weber 1922, 21: „Um Vergemeinschaftung handelt es sich, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. Vergesellschaftung soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- und zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.“ Vgl.

Weber 1922, 237.

149 Weber 1922, 244. Vgl. Weber 1922, 221: „In der Tat ist die Überzeugung von der Vortrefflichkeit der eigenen und der Minderwertigkeit fremder Sitten, durch welche die „ethnische Ehre“ gespeist wird, den

„ständischen“ Ehrbegriffen durchaus analog. Ethnische Ehre ist die spezifische Massenehre, weil sie jedem, der der subjektiv geglaubten Abstammungsgesellschaft angehört, zugänglich ist.“

150 s. die Aufzählungen bei Smith 1986, 22-30.