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F. Homogenisierung durch gestiftete Traditionen

1. Intentionale Geschichte

Der Begriff intentionale Geschichte wurde in der Alten Geschichte von Hans-Joachim Gehrke geprägt. Gehrke entnimmt das intentionale aus der Ethnosoziologie in Anlehnung an die Forschungen von W. E. Mühlmann521 und versteht unter intentionaler Geschichte die „für die Identität einer Gruppe bedeutsame Geschichte im Selbstverständnis“522 Mit der intentionalen Geschichte bezeichnen einige Forscher die Versuche im Altertum, den Verlauf vergangener Ereignisse durch Berufung auf mythische Diskurse umzudeuten. Hierzu projiziere man die für die kollektive Identität relevante Selbstzurechnung regelmäßig in die Vergangenheit zurück.523 Selbst wenn Mythen erst durch Quellen aus späteren Epochen überliefert werden, suggerieren sie, dass sie traditionelle, gegebene und „fester Bestandteil des mémoire collective“ seien.524 Die intentionale Geschichte sei die für das reale Leben und das politische Verhalten erhebliche, nicht selten von entscheidender Bedeutung, geglaubte Geschichte. Die Identität des Kollektivs sei durch subjektive und kollektive Selbstkategorisierungen bestimmt, die Individuen fühlen sich bestimmten Kollektiven zugehörig.525 Geschichte wäre dann „als Geschichte, die wesentliches Element von Selbstvergewisserung, Ortsbestimmung und Identitätsstiftung und -wahrung ist“, aufzufassen.526

Dabei grenzt Gehrke die intentionale Geschichte von der echten Geschichte ab, die Historiker zu erforschen trachten.527 Die scheinbar stattgefundenen Ereignisse werden durch regelmäßig stattfindende Feste und Rezitationen von Epik und Lyrik laufend bestätigt. Man bettet mythische und historische Ereignisse und Gestalten in einen festen Traditionszusammenhang ein, dessen Wirksamkeit durch Erinnerungspflege garantiert ist. Die Vergangenheit werde von der Gegenwart nicht getrennt. Für das Selbstverständnis der Griechen, so Gehrke, sei es charakteristisch, dass die intentionale Geschichte vornehmlich von Dichtern und Historikern produziert und tradiert wird, wobei die Historiker die Dichter als Quelle ansehen und benutzen. Die Intention der Historiker ist folglich nicht die genaue Recherche und kritische Wahrheitssuche, sondern die erzielte Wirkung in der Gegenwart. Die Darstellung von vergangenen Ereignissen und Zuständen, gerade auch von mythischen, die ursprünglich Dichter und Sängern aufgreifen, werde verändert. Und da Mythos und Geschichte in der intentionalen Geschichte nicht kategorial geschieden sind, wird sie aus der Phantasie von Dichtern und Sängern gespeist. Die Rezipienten nehmen die Schöpfungen als historisches Faktum an.528

Das Konzept der intentionalen Geschichte wurde jüngst kritisiert, dem Funktionalismus

more ways than one.“

520 Für Hansen 2009, 159 „bildet Geschichte kein reines Überbauphänomen, sondern gehört ebenso zur Basis und steht damit zwischen Homogenität und Heterogenität. Im Augenblick seiner Virulenz wirkt das historische Ereignis auf die Polykollektivität der Basis ein, indem es dem einen Kollektiv nützt und dem anderen schadet.“

521 Mühlmann 1938, 108-112. 124-160. Darüber hinaus finden auch Edmund Husserl, Maurice Halbwachs, Aleida und Jan Assmann, Thomas Luckmann und Peter Berger Eingang in das Konzept. Zur Geschichte der traditionellen und modernen Homogenitätsvorstellungen Hansen 2009, 81-100.

522 Zitat bei Gehrke 2001a, 10. Ferner schreibt Gehrke 2000a, 10: „Intentionale Geschichte wäre dann Geschichte im Selbstverständnis einer Gruppe, insbesondere soweit sie für deren Konsistenz und Identität bedeutsam ist […].“

523 Gehrke 2000b, 10.

524 Zitat bei Gehrke 2000a, 10. Zum kulturellen Gedächtnis Assmann 62007 passim.

525 Gehrke 1994, 247; 2010, 16.

526 Zitat bei Gehrke 1994, 257.

527 Gehrke 1994, 251.

528 Gehrke 1994, 245; 2000, 4.

erlegen zu sein. Mythen gehen laut A. Kühr keineswegs in politisch-sozialen Diskursen auf, sondern besitzen eine wesentlich komplexere Natur. Gehrke verenge mit seiner Definition den Sachverhalt auf eine bewusste Funktionalisierung von Vergangenheit und impliziere einen ausschließlich bewussten und rationalen Umgang mit Vergangenheit, auch wenn die Entstehungszeit vergessen wird. 529 Somit erscheinen Mythen stets als zweckdienliche Mittel, die legitimieren sollen. Außer Acht gelassen werde jedoch die lange Geschichte dieser Mythen. Die intentionale Geschichte impliziere eine Überprivilegierung des Verstandes und eine Verengung auf den willkürlichen Akt der Vergangenheitsdeutung und deren Instrumentalisierung.530 Weiter sei die intentionale Geschichte nicht in der Lage, die Termini

„Mythos“ und „Gründungsmythos“ zu ersetzen. Der Kritik an der rein funktionalistischen Interpretation ist zuzustimmen, denn die Versuche, konstruktivistische Ansätze auf die überlieferten Quellen anzuwenden, greifen in einigen Fällen zu kurz. Die genaue Funktion einer über Jahrhunderte überlieferten Information innerhalb einer Gründungsgeschichte kann durchaus verloren gehen, wenn das Zeichen zwar überliefert ist, nicht jedoch dessen Bedeutung.

Im Folgenden wird die verloren gegangene Bedeutung einer Information an einem Beispiel aus der durch Herodot überlieferten Gründungsgeschichte erörtert. Zunächst aber wird auf das Zeichen eingegangen. Es ist die große Leistung des Sprachwissenschaftlers F. de Saussure die zwei grundlegenden Elemente, aus denen das sprachliche Zeichen besteht, als erster erforscht zu haben.531 Das Zeichen setzt sich aus zwei Teilen zusammen, dem Bedeutungsträger und der Bedeutung. Beide Teile stehen in keinem logischen oder kausalen Zusammenhang.532 Stattdessen konstituiert sich das Zeichen durch eine willkürliche Zuordnung einer Bedeutung mit einem Bedeutungsträger. Für Saussure sind Bedeutung und Bedeutungsträger miteinander durch Konventionen und Setzungen verbunden. Die Setzungen müssen bekannt sein, damit sich beispielsweise ein Mensch unter dem Wort equus ein Pferd vorstellen kann. Er muss die Bedeutung des lateinischen Wortes kennen. Wenn, nach Saussure, die Bedeutung der überlieferten Information aber unbekannt ist, verknüpft man den Bedeutungsträger willkürlich (im frz. Original arbitraire) mit zur Verfügung stehenden Bedeutungen. Den mannigfaltigen Verknüpfungen sind dabei keine Grenzen gesetzt. Beherrscht der Mensch zum Beispiel kein Latein, verknüpft er equus mit unterschiedlichen Bedeutungen und versucht möglicherweise, die Bedeutung des Wortes aus dem Kontext heraus zu ermitteln. Das bedeutet, dass alle Zeichen aufgrund ihrer Willkürlichkeit erst gelernt werden müssen.533 Diese Überlegung lässt sich ebenso auf überlieferte Informationen aus der Antike übertragen, deren Sinngehalt unbekannt ist. Dieser Umstand erschwert dann die Frage nach dem Kern, nach einer Wahrheit in der mythischen Erzählung und lässt die Frage sinnlos erscheinen. Der Diskurs um den Sinngehalt eines eingeschobenen Abschnitts, eines Mythos oder einer erzählten Geschichte macht aber diese Geschichte für die Forschung erst interessant.

Ein kurzes Beispiel soll verdeutlichen, dass nicht alle überlieferten Informationen zwangsläufig einer bestimmten Funktion zuzuordnen sind. Wie im geschichtlichen Abriss erörtert, referiert Herodot in seinem libyschen Logos über zwei unterschiedliche Erzählungen über die Gründung von Kyrene, die er jeweils den „Theraiern“ und „Kyrenern“ entnimmt (4, 150-159). In der Erzählung der Theraier findet sich ein Einschub, der die Geschichte des Samiers und Schiffseigners Kolaios und seiner Mannschaft behandelt (Hdt. 4, 152). Herodot berichtet über die Kontaktaufnahme der Theraier mit dem kretischen Purpurfischer Korobios, damit dieser die Siedler nach Libyen führe. Nachdem die Theraier die vorgelagerte Insel Platea erreichen, lassen sie Korobios auf der Insel zurück. Ihn finden Samier, die sich auf dem Weg nach Ägypten befinden, versorgen ihn mit Lebensmitteln und segeln anschließend weiter.

529 Kühr 2006, 28-30.

530 Gehrke 1994, 239-245 möchte die intentionale Geschichte als „Geschichte als Argument“ betiteln.

531 de Saussure 21967, 76-93.

532 Vgl. zum Aspekt des Zeichens auch Hansen 42011, 38-40.

533 Vgl. Hansen 42011, 40: „Aus der willkürlichen Verbindung zwischen Bedeutungsträger und Bedeutung ergibt sich die Notwendigkeit, die Verbindung innerhalb der Benutzergemeinschaft zu verabreden; eine solche Verabredung, die, wie wir noch sehen werden, oft genug unterschwellig und unbewusst erfolgt […].“

Vom Ostwind abgetrieben, kommen die Samier bis nach Tartessos, wo sie durch Handel reich geworden, den Zehnten ihres Gewinnes in Form eines argolischen Kraters im Heraion von Samos stiften.

Für einige Forscher ist dieser Einschub, die Rettung des Korobios durch die Samier, kein Bestandteil der Gründungsgeschichte Kyrenes.534 Es sei fraglich, was dieser Einschub bedeute und warum die Theraier diesen Einschub über 200 Jahre lang tradiert hätten. Der Einschub wird von der Forschung verschieden gedeutet. Einige Forscher vermuten in überlieferten Gründungsgeschichten einen historischen „Kern“, den es zu extrahieren gilt,535 andere sind skeptischer und deuten auf sinnentstellende Faktoren und den engen Bereich der Verifizierung hin.536 Ein drittes Lager vermutet schließlich Stereotypen, poetische Konstrukte oder symbolische Erzählungen, die lehren, wie Menschen im Altertum denken. Von Fakten könne man nicht sprechen.537 Die Verfechter eines historischen Kerns haben sich am häufigsten mit dieser Stelle auseinandergesetzt, daher wird auf sie im Folgenden näher eingegangen. Die Forscher vermuten in diesem Einschub einen Hinweis auf die Verbindung zwischen Samiern und Theraiern. Denn das Ende des Einschubes besagt, dass seit der Rettung des Korobios durch die Samier die Theraier und Kyrener mit den Samiern befreundet sind (Hdt. 4, 152, 5).538 Diese Stelle wiederum zog für die Forschung insofern Konsequenzen nach sich, als dass willkürlich Schlussfolgerungen aus der angeblichen, schon immer existierenden Freundschaft zwischen Samos, Thera und Kyrene gezogen wurden. Man verband diese Freundschaft mit weiteren Textquellen und Befunden, um eine Geschichte zu (re-)konstruieren.539 So dient der Einschub als Indiz für einen frühen Handel zwischen Samos und Thera,540 als Indiz für die Beteiligung der Ostgriechen an der Besiedlung der Kyrenaika,541 aber auch als Beleg für einen frühen Handel zwischen Samos und Ägypten,542 mit libyschen Stämmen543 oder Spanien,544 für die seit archaischer Zeit existierenden Handelsbeziehungen zwischen Samos und den Poleis in der Kyrenaika545 und als Hintergrund für die militärische Unterstützung Arkesilaos III. nach seiner Vertreibung.546 Es bleibt letztendlich unklar, warum die Theraier ausgerechnet den Bericht von der Reise des Kolaios überliefern und darüber Herodot unterrichten.

Wie dieses Beispiel zeigte, lässt sich nicht jede überlieferte Information mit einer Bedeutung oder Intention verknüpfen. Die Beziehung zwischen dem Bedeutungsträger (Kolaios, Samos) und der Bedeutung (Handel, politisches Bündnis) ist und bleibt willkürlich, weil das Zeichen nicht vorher erlernt wurde. Kolaios und seine samischen Matrosen fungieren als Bedeutungsträger für ein Zeichen, dessen Bedeutung nicht bekannt ist. Insofern besitzt der Einschub keinen unmittelbaren „historischen Kern“, den es lediglich zu extrahieren gilt. Trotz des wohlmöglich überzogenen Anspruches, alle überlieferten Gründungsgeschichten mitsamt ihren Details mit einer Funktion zu verbinden,547 bleibt die intentionale Geschichte ein

534 Täckholm, 1974/75, 53-57; Ehrhardt 1990, 25-26; Osborne 1996, 13; Bernstein 2004, 175 Anm. 12.

535 So argumentieren Chamoux 1953, 92-159; Leschhorn 1984, 60-72; Cawkwell 1992, 290-292. Graham 1982, 83 schreibt dazu: „[…] one might say that the literary sources for the Archaic Period present real historical evidence, even though they are partly contaminated by legendary elements, whereas those for the migratory period are all legend, even if a kernel of truth is concealed somewhere within them.“

536 Davies 1984, 92-95; Osborne 1996, 12-17; 1998, 251-269.

537 Zu diesen Vertretern gehören zum Beispiel Dougherty 1993a und Calame 1996. Zur Kritik an der unzureichenden Kenntnisnahme oder Ablehnung materieller Kultur Bäbler Nesselrath 2011, 113-115.

538 Mitchell 1966, 102; Austin 1990, 302; Schweizer 2007, 308.

539 Der Überschuss datiert folglich in die Mitte des 7. Jh. v. Chr. s. zur Datierung Carpenter 1958, 49; Freyer-Schauenburg 1966, 89-90; Kreuzer 1994, 112 (indirekt); Yntema 2000, 4; Stahl 2003, 157; Schweizer 2007, 308.

540 Schaus 1985b, 397; Osborne 1996, 13. Selbst Osborne, der diese Stelle aufgrund ihrer Deplatziertheit kritisiert, schreibt auf derselben Seite, dass man aufgrund der auf Thera gefunden sub-geometrischen Keramik frühe Kontakte zwischen Samos und Thera bezeugen könne.

541 Gill 2006, 10.

542 Boardman 1994, 139; Bowden 1996, 36.

543 Applebaum 1979, 11.

544 Carpenter 1958, 49.

545 Jeffery – Cartledge 1982, 249; Kreuzer 1994, 112. Vgl. Austin 1990, 302 für den die Geschichte ein Beleg für die seitdem bestehenden engen Verbindungen zwischen Kyrenern und Samiern ist.

546 Kreuzer 1994, 112 mit Hdt. 4, 162-163.

547 So schreibt jedoch Hall 2008, 394: „Rather, the point is that the only reason why variant traditions have

wichtiges Instrument, um die Entstehung einer Zusammengehörigkeit in einem größeren Kollektiv zu erklären. Denn ist eine Geschichte einmal erzählt und akzeptiert, werden bestimmte Bestandteile als essentiell wichtig angesehen, verfestigt und überliefert.

Wie in den nächsten Kapiteln zu ersehen ist, zirkulieren auch in der Kyrenaika nach den Siedlungsgründungen unterschiedliche Erzählungen, in den Augen der Griechen behandeln sie ihre Frühgeschichte. Die Erzählungen behandeln die Heirat der Nymphe Kyrene mit Apollon, die Durchquerung Libyens durch die Argonauten, die Ankunft des homerischen Helden Menelaos in Libyen, das Treffen der Kyrener mit den Antenoriden und die Abstammung der Königsfamilie von Odysseus. Man unternimmt seit dem 6. Jh. v. Chr. – wie im selben Zeitraum die Hellenen in anderen Regionen – Versuche, die Kyrenaika als Teil der griechischen Welt zu präsentieren und bedient sich der Umformung und Anknüpfung an bereits kursierende Erzählungen. Der Volkszugehörigkeit wird keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil auch in der Kyrenaika die Zugehörigkeit zu einer Polis- und Schicksalsgemeinschaft einen weitaus höheren Stellenwert besitzt. Wie bereits erörtert, ist das hellenische Kollektivbewusstsein in der geometrischen Epoche eher schwach ausgeprägt. Die im Mittelmeerraum kursierenden Epen enthalten als pankollektive Elemente aber Gemeinsamkeiten, die – insbesondere bei ihrer Mobilisierung und Objektivierung durch Dichter und Denker – auch die Entstehung eines pankollektiven Bewusstseins unter den Griechen begünstigen. Dabei scheinen Abstammungsmythen, die Bindung an ein Territorium und die Wahrnehmung einer gemeinsamen Geschichte auch in Kyrene bedeutende Kriterien für die Zugehörigkeit zum Poliskollektiv und zum Griechentum gewesen seien.