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Die frühen Funde in Kyrene und ihr Aussagewert

D. Die Entstehung von Kollektiven in der Kyrenaika

3. Die frühen Funde in Kyrene und ihr Aussagewert

Die Siedlung Kyrene (Abb. 3) wird auf einem großen Hügel mit zwei Anhöhen gegründet. Im Norden und Süden bilden zwei Wadis, ausgetrocknete Flussläufe mit steilen Ufern, eine natürliche Verteidigung. Die vier Zentren der Polis bestehen aus der Akropolis auf der westlichen Anhöhe (1), dem urbanen Zentrum mit der Agora östlich der Akropolis (2), der Terrasse nördlich der Akropolis mit der Quelle und dem Heiligtum des Apollon (3) sowie aus dem östlichen Hügel, auf dem der Zeustempel errichtet wird (4). Aus der Frühzeit Kyrenes haben die Archäologen nur wenig freilegen können. Da sich Funde erst ab hellenistischer Zeit, häufen ist bis heute beispielsweise ungeklärt, ob die Akropolis jemals als Herrschersitz diente, da anscheinend keine öffentlichen Bauten auf ihr errichtet wurden.271 Herodot hält sich in seinen Angaben vage, äußert sich lediglich zu den Jahreszeiten und den Ernten (4, 199) und erwähnt schließlich den Hügel im Osten, auf dem ein Tempel des Zeus Lykaios stand (4, 203, 2). Die Scherbenfunde aus den ersten Jahrzehnten nach der Gründung Kyrenes verteilen sich auf einen ca. halben Quadratkilometer auf dem hohen Plateau östlich der Akropolis.272 Hier befinden sich heute die Überreste der Agora, des Caesareums, Stoen, kleinere Tempel, Wohnhäuser sowie die Doppel-Insula des Jason Magnus.

Während die Entwicklung der Agora in klassischer und hellenistischer Zeit gut nachzuvollziehen ist,273 identifizieren Archäologen lediglich drei Bauten und etwas Keramik aus der frühesten Stadtgeschichte. 1962 stoßen Archäologen während ihrer Ausgrabungen auf der Agora auf Keramik, die zu den ältesten Exemplaren in Kyrene gehört. 274 Die Scherbenfunde sollen von 17 Gefäßen stammen und wurden in einem Zeitraum von ca. 100 Jahren gefertigt: Neun Gefäße werden im letzten Viertel des 7. Jh. v. Chr. hergestellt, während die jüngste Scherbe von einem um 530 v. Chr. in Athen gefertigten Gefäß stammt.

Diese Befunde liefern keine stichhaltigen Belege, welchem Kollektiv sich die Besitzer dieser Gefäße verbunden fühlen. Demnach repräsentieren die gefundenen Scherben nicht zwangsläufig ein Bekenntnis zum Griechentum. Bekenntnisse dieser Art äußern sich, wie bereits gesagt, in Diskursen und Schriften, in denen subjektiven Kriterien ein bestimmter Wert zugesprochen wird. Sichtbar wird die Kultur eines Kollektivs aber anhand der kollektiven Praktiken, aber auch von Ideen, Vorstellungen und Haltungen. Die gefundenen Gefäße aber sind lediglich das Produkt dieser Kultur, ohne selbst Kultur zu sein.275 Folglich ist die Archäologie, folgt man einer Kulturdefinition, welche die gelebten Praktiken der Mehrheit eines Kollektivs in den Vordergrund stellt, nicht in der Lage, aus importierter Keramik die soziale oder ethnische Identität ihrer Produzenten und Besitzer zu erschließen. Keramikfunde können höchstens als Indizien für eine Migration oder Handelsaktivitäten in einem bestimmten Zeitraum gelten.276

271 Dagegen verorten Chamoux 1953, 260 und Goodchild 1971, 104 den Herrschersitz der Könige und der ptolemäischen Herrscher auf der Akropolis.

272 Büsing 1978, 70 bezweifelt eine Ausdehnung in den ersten Jahren der Siedlung bis zum 600 Meter entfernten Platz des späteren Apollon-Heiligtums. Dieses wird erst in der Mitte des 6. Jh. v. Chr. errichtet. Die durch Hieronymus überlieferte lateinische Übersetzung der Chronik des Eusebius gibt für Kyrene drei Gründungsdaten an: 1336 v. Chr., 762 v. Chr. und 632 v. Chr. (Helm 21956, 52, 87, 96). Während das erste Datum sicherlich die Gründung Kyrenes in die mythische Zeit transferieren will, ist das zweite Datum möglicherweise eine Berechnung anhand einer Generationenzählung. s. dazu Burn 1935, 140; Chamoux 1953, 70-71. Obwohl Eusebius bei dem dritten Datum auf Ol. 37, 1 verweist, hat sich seit der Angabe bei Chamoux 1953, 121 das Gründungsdatum 631 v. Chr. durchgesetzt.

273 Zur Entwicklung der Agora Büsing 1978, 66-75.

274 Stucchi 1965b, 37-44; Büsing 1978, 68; Mei 2006, 491-494. Laut Stucchi 1965b, 37-38 stammt die älteste Scherbe von einem Skyphos spätgeometrischen Stils aus attischer oder lakonischer Produktion. Im Falle der Herkunft aus Attika müsse der Skyphos in das beginnende 7. Jh. datieren, im Falle einer lakonischen Herkunft nach Snodgrass 1971, 143 in die Mitte des 7. Jh. v. Chr. Stucchi 1965b, 38 datiert sogar in die Jahre 650-620 v.

Chr. und nähert sich damit dem traditionellen Gründungsdatum Kyrenes an.

275 So Hall 2002, 17. Und Hansen 42011, 138 schreibt: „Die materielle Kultur ist zwar das Produkt von Standardisierungen, aber selbst keine solche. Eine Kathedrale gibt sich als materieller Ausdruck eines bestimmten christlichen Geistes zu erkennen, ist aber nicht dieser Geist.“

276 Vgl. Hall 2008, 395: „[…] the archaeological evidence is seldom conclusive, so the decision to either invoke or to refute the equation of ‘pots and people’ is all too often guided by literary evidence which has itself already been selected and filtered by modern assumptions.“

Bei zahlreichen Archäologen stoßen diese Darlegungen auf Widerstand, da Kleidung, Essgewohnheiten, Kunststile und selbst Keramikformen und ihre Dekoration keine Berücksichtigung mehr finden, um die Identität bestimmter Personengruppen zu bestimmen.

Es sind vielmehr die Praktiken, auf die die Funde Rückschluss geben. Zudem wird den Schriftquellen ihrer Meinung nach eine viel höhere Bedeutung zugeschrieben, selbst wenn diese nur einen sehr fragmentarischen Diskurs bilden.277 Die Privilegierung der Schriftquellen jedoch hat die Archäologie oft in die Irre geführt und wurde in den letzten Jahren vermehrt kritisiert.278 Einige Archäologen argumentieren, dass materielle Kultur durchaus eine ethnische Identität repräsentieren könne. Dabei forme die materielle Kultur, ganz unabhängig von den in den Schriftquellen enthaltenen Kriterien, einen alternativen, materiellen Diskurs.279 Dieser Diskurs reflektiere nicht zwangsläufig einen bestimmten, gesprochenen oder gar in den Schriftquellen erhaltenen Diskurs. Falls der materielle Diskurs die zunächst angenommenen Grenzen negiere oder anfechte, dürfe er nicht unberücksichtigt bleiben.

Laut C. Antonaccio und U. Sommer zeuge gerade die Hartnäckigkeit, mit der Töpfer bestimmte Keramikformen und Dekorstile über viele Generationen im Umfeld anderer Formen und Stile produzieren, für einen bewussten Umgang mit materieller Kultur. Diese Keramik werde mit einer bestimmten Bedeutung versehen, um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Identität auszudrücken. Hinter einer beständigen lokalen Produktion verberge sich das kollektive Gleichverhalten einer bestimmten Gruppe von Menschen. Aufgrund der Tradierung dieses Gleichverhaltens an bestimmten Orten erfülle zum Beispiel die lokal gefertigte Keramik Siziliens und Süditaliens sogar die von Hall verfochtenen Kriterien für ein Volk: die Abstammung und ein gemeinsames ursprüngliches Territorium. Darum dürfe man durchaus zum Schluss kommen, dass Objekte gleichzeitig als Dinge, Handlungen und Ideen aufzufassen seien und materielle Kultur für die Identitätsforschung eine in Betracht zu ziehende Quellengattung darstellt.280

Im Hinblick auf die frühen Befunde in Kyrene treffen diese Argumente jedoch nicht zu.

Denn gerade die Vielfalt der Vasenformen, ihres Dekors und ihrer Provenienz beweist, dass Keramik nicht als ein Marker benutzt wird. Diese Vielfalt wurde kürzlich durch neue Grabungen wiederholt bestätigt.281 Die Scherben sind weder der Beleg für eine bereits existierende kollektive Identität der Erstsiedler, noch ein Indiz für ihre Zugehörigkeit zum Griechentum. Die Keramik wird nicht mit einer bestimmten Bedeutung versehen und als Marker verwendet. Ihre Form und das Dekor belegen lediglich eine neu entstandene Ansiedlung auf einem der Plateaus. Auch der früh praktizierte Grabkult auf der Agora und der Tumulus, auf den noch an anderer Stelle näher eingegangen wird, können nur bedingt als Marker gelten, denn auch bei den umwohnenden Stämmen existieren Grabhügel und Grabkulte mit reichen Beigaben. Die Gräber ähneln jenen auf der Agora in Kyrene (Abb. 6) und sind somit kein eindeutiges Kriterium.282

277 So argumentiert Antonaccio 2001, 115; 2010, 34-37.

278 Bezüglich dieser Kritik Papadopoulos 1997, 191-219; Yntema 2000, 1-49; Stein-Hölkeskamp 2006, 311-327.

279 Für diese These spricht vor allem Antonaccio 2010, 34 aus.

280 Antonaccio 2010, 47-48. Sommer 2003, 218-221 zeigt anhand des Motivspektrums der postbandkeramischen Keramik eine bewusste Verengung der Motive, die auf eine Abgrenzung gegenüber anderer Keramik und somit ihren Trägern hindeuten könne. Vgl. die lokalen Formen und Dekorstile Siziliens und Süditaliens bei Jentoft-Nilsen 1988; 1990; Trendal 1990.

281 Bagnulo et al. 2010, 37-65. Zu den Funden gehört Keramik im „Wild Goat Style“ und „Bird Bowls.“

282 Zu den Gräbern der Garamanten Ruprechtsberger 1997, 55-56. 65-67.

4. Zusammenfassung

In den letzten Kapiteln wurde die Kollektivitätstheorie exemplarisch auf die bei Herodot überlieferte Gründungsgeschichte angewendet. Die in der Erzählung Herodots agierenden Theraier bilden die konkreten Kollektive der Brüder, Ruderer und Siedler. Es sind Kollektive ersten Grades, welche durch ihre Übersichtlichkeit gegenüber Poliskollektiven deutlich auffallen. Aufgrund der stets herrschenden Multikollektivität sind diese Personen gleichzeitig Mitglieder in mehreren Kollektiven. Auf der Überfahrt entsteht schließlich aus Ungewissheit und Frustration ein Rückkehrerkollektiv, das die zuvor nur oberflächlich verinnerlichten Ziele und Anweisungen des delphischen Orakels in kurzer Zeit verwirft. Dabei sind drei Faktoren vonnöten, um die jeweilige Kultur am Leben zu erhalten: Das Gleichverhalten der Mitglieder, eine beständige Kommunikation und regelmäßige Zusammenkünfte.283 Durch diese Faktoren äußerte sich das Kollektivbewusstsein. Erneut zeigte sich auch, dass Kollektive keine Einheit bilden, Individuen nur partiell Mitglied in einem Kollektiv sind und sich ihre Persönlichkeit nicht in einer einzigen Zugehörigkeit erschöpft. Durch die äußeren und inneren Bedingungen sind die ausgelosten Brüder zuerst nicht im Stande, die ihnen auferlegten Ziele zu erfüllen und erreichen erst in einem zweiten Versuch die Insel Platea. Die Hinzunahme der ältesten Befunde in Kyrene als Hinweis für eine bestimmte Selbstdarstellung der Siedler erscheint methodologisch nicht schlüssig, weil die Siedler ihre Auswahl nicht auf bestimmte Formen oder einen Dekor beschränken. Es erschien ihnen nicht wichtig, zudem waren ihre Gräbersitten auch den umwohnenden Libyern bekannt.

Aus den ersten beschriebenen Kollektiven lässt sich erahnen, welches innovative Potential im Kollektivbegriff enthalten ist, wenn man den Angaben Herodots Vertrauen schenkt. Den Erstsiedlern in der Kyrenaika sind zunächst zahlreiche Zugehörigkeiten vorgegeben, wobei die Bereitschaft, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen und neue Verhaltensweisen zu internalisieren oder sich ihren zu verweigern, von Individuum zu Individuum schwankt.284 Die Erstsiedler stehen miteinander im persönlichen Kontakt, sind demnach eine überschaubare Gemeinschaft, die eine hohe Gruppendynamik entstehen lässt. Diese Dynamik kann durch fortwährende gemeinsame Aktionen das Kollektiv stabilisieren, verändern oder aber die Ursache für seinen Untergang sein. Keineswegs ist also von einer Gemeinschaft mit gleichen Verhaltensweisen und Gedankenmustern oder gar von einem „hellenischen“ Verhaltensmuster auszugehen. Die Vielfalt an Kollektiven und Kollektivzugehörigkeiten, die aus rechtlichen, sozialen und kultischen Kategorien bestehen, kann nur von einer Vielfalt an Regelungen verwaltet werden, die bei den Siedlern Anerkennung und Akzeptanz finden. Diese aus Griechenland stammenden Regelungen vermögen es, eine soziale und kulturelle Homogenität zu stiften und den Zusammenhalt zu sichern. Auf diese Regelungen gehen die nächsten Abschnitte ein.

283 Dazu schreibt Hansen 42011, 32-33: „Das Phänomen Kultur setzt sich aus drei Faktoren zusammen, aus Standardisierung, Kommunikation und Kollektivität. Alle geistigen und materiellen Leistungen einer Kultur, die früher gerne zu ihrer Definition benutzt wurden, alle künstlerischen und technischen Errungenschaften lassen sich auf diese Elemente zurückführen.“

284 Zum Grad der Verinnerlichung schreibt Hansen 42011, 148, dass Praktiken unterschiedlich tief verinnerlicht werden, denn die „[…] Internalisierungsbereitschaft und Internalisierungsverweigerung [steht] nicht ein für alle Mal fest, zum anderen müssen wir von unterschiedlichen Internalisierungstiefen ausgehen.“