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Die überlieferten Traditionen über die Gründung von Kyrene

F. Homogenisierung durch gestiftete Traditionen

4. Die überlieferten Traditionen über die Gründung von Kyrene

Dieses Kapitel geht auf die überlieferten Gründungsgeschichten von Kyrene ein. Wie in anderen von Griechen bewohnten Regionen fußt auch in der Kyrenaika das Ansehen eines Poliskollektivs auf besonderen Kriterien.605 Dazu gehören etwa die Sanktionierung der Siedlungsgründung durch einen Orakelspruch und das Wohlwollen des delphischen Apollon, die Verehrung des Oikisten als Heros und die Anbindung der Stadt an alte und in der griechischen Welt bekannte Mythen. Nach außen legitimieren die politischen Führer von Kyrene etwa die Landnahme und ihren Anspruch auf die Vormachtstellung Kyrenes in der Region, indem sie die Geschichte des ersten Siedlerkollektivs als die Geschichte aller Bewohner der Kyrenaika präsentieren. In Kyrene selbst beschwören die Erzählungen über Battos und sein Gefolge die edle Abstammung der Einwohnerschaft von den Theraiern. Der Oikist wird nach seinem Tod als Heros verehrt und bleibt tief im kollektiven Gedächtnis verankert.606 Dennoch sind Erzählungen nicht einzig als staatstragendes Element zu verstehen, denn stets scheinen in Kyrene – und nicht nur bei einer Minderheit – unterschiedliche Versionen zu kursieren.607 Nicht alle Bürger verinnerlichen die ihnen gemachten Vorgaben.

Sie sind zur selben Zeit Mitglied in anderen, unterschiedlichen Kollektiven, die Zugehörigkeit zum Poliskollektiv füllt sie nur partiell aus. Streng genau genommen konstituiert sich das Poliskollektiv also nur durch eine partielle Gemeinsamkeit der ihnen zugerechneten Individuen. Letztlich steigert die Präsentation einer von einem Gott und einem Orakel sanktionierte Gründung das Prestige und das Kollektivbewusstsein aller Einwohner. In ihren Bemühungen um Selbstvergewisserung und einer gemeinsamen Identität unterscheiden sich diese Akteure nicht von anderen griechischen Gemeinschaften in Griechenland und den Apoikiai. Denn auch dort kann sich keine Einzelperson, kein Kollektiv der Wirkungsmacht der Mythen entziehen. Bereits als Kinder werden die Griechen von den Erzählungen ihres Umfeldes beeinflusst, wobei Mythen nicht nur unterhalten, sondern auch eine erzieherische Funktion besitzen.608

Wie bereits geschrieben, lässt sich die Gründung Kyrenes anhand der archäologischen Befunde in die Jahre um 630 v. Chr. datieren, ferner entstehen Jahre später, entlang der Küste, weitere Siedlungen. Die neuen Grabungen widerlegen die über Jahrhunderte tradierten Erzählungen, nach der eine kleine Gruppe von Siedlern aus Thera zunächst eine einzige Stadt gegründet hätte. Da aus dieser Zeit epigraphische Zeugnisse fehlen und Schriftquellen keine weiteren frühen Gründungen in der Kyrenaika erwähnen, lassen sich die Herkunft der Siedler und ihre Beweggründe nicht ermitteln. Auch die hohe Konzentration an korinthischer Keramik im archäologischen Befund verunmöglicht eine genaue Identifizierung der Siedler beziehungsweise ihre Herkunft.609 Sie selbst definieren ihre Identität nicht über den Gebrauch

605 Wenn hier von einem Poliskollektiv gesprochen wird, sind damit alle Einwohner gemeint, nicht nur die Bürger. Vgl. die Aussage bei Thuk. 7, 77, 7 dass Männer eine Stadt formen, nicht Mauern oder Schiffe. Diese enge Verzahnung betont Walter 1993, 23.

606 Das Motiv der Ktisis ist der Gründung ist zum ersten Mal in der Ilias (2, 661-669) belegt. Der mythische Held Tlepolemos, der von Herakles abstammt, verlässt Argos mit seiner Frau und Gefährten und besiedelt Rhodos.

Dort gründet die Städte Lindos, Ialyssos und die weiße Kameiros. Das Motiv begegnet in den nachfolgenden Jahrhunderten als narratives Element in unterschiedlichen literarischen Gattungen, insbesondere aber in der archaischen Epoche. Die Quellen über Tlepolemos sammelt Dougherty 1993b, 189-192.

607 Kürzlich sprach sich Malkin 2003, 168-169 gegen eine, allein auf die politischen Verhältnisse schauende Erklärungsweise aus. Herodot selbst habe Traditionen, von denen er gehört hatte, ausgewählt und beabsichtigte nicht, eine Gründungsgeschichte zu schreiben. In der sogenannten lex sacra, datiert in das erste Drittel des 4. Jh.

v. Chr., wird das Grab des Battos erwähnt, möglicherweise auch ein dazugehöriges Orakel. Dazu schreibt Malkin ebd. S. 169: „So we see that Battos really did not become such an embarrassment in democratic, fourth century Cyrene. Politics is not everything; people walked around the founder’s tomb, celebrated and dedicated, consulted it as an oracle, and may have addressed prayers to Battos who was remembered each time a sacred festival procession took place along the road Battos hat laid out.“

608 s. zum erzieherischen Wert der Mythen Scheer 1993, 28. Wie Strabon (1, 2, 8) Aufschluss gibt, begleitet die Menschen des Altertums ihre Vorliebe für Fabeln ihr ganzes Leben. Man erfreut sich an neuen und unbekannten Stoffen. Bereits im Kindesalter dienen Fabeln zur Anregung und Abschreckung, im Erwachsenenalter haben sich die Denkstrukturen verfestigt. Die Menschen seien daher nicht durch Vernunft, Frömmigkeit und Redlichkeit zu leiten, es bedarf der Gottesfurcht, die durch Fabeln und Sagen zu erregen ist.

609 Die Quantität der Keramikfunde bei Boardmann 1994, 144-145. Bezüglich der Befunde aus dem 6. Jh. v. Chr.

bestimmter Vasenformen oder einer Bemalung. Erst die einsetzenden Inschriften lassen keinen Zweifel an der Besiedlung der Region durch Siedler aus Thera, den übrigen dorischsprachigen Inseln und der Peloponnes. Die Inschriften, aus denen dialektale Färbungen erkennbar sind, stammen aber aus einer Zeit, nachdem sich weitere Siedlerkontingente in der Kyrenaika niedergelassen haben. Demnach belegen die archäologischen Befunde lediglich einen Strom von Siedlern aus Griechenland, die sich ab dem letzten Drittel des 7. Jh. v. Chr.

aus nicht bekannten Gründen an den Küsten der Kyrenaika (bei Aziris, in Kyrene, Taucheira, Euhesperides, Ptolemais) niederlassen. Um 600 v. Chr. wird auf der Agora in Kyrene (Abb. 6) ein Grabmal errichtet, das von der Forschung – in Verbindung mit einer Pindar-Stelle (P. 5. V.

69-81) – als Heroengrab von Battos I. interpretiert wird. Diesen simplen Feststellungen über den Zeitraum von ca. 640 – 600 v. Chr. stehen die überlieferten Erzählungen gegenüber, auf die nun eingegangen wird. Die beiden ausführlichsten Erzählungen über die Gründung Kyrenes überliefert Herodot (4, 145-159). Wie er selbst schreibt, gibt er die Versionen der Kyrener und Theraier wieder:610

Zunächst gibt Herodot einen Bericht über die Besiedlung Theras wieder, der gleichermaßen von Lakedaimoniern und Theraiern erzählt wird. Die von den Pelasgern vertriebenen Nachkommen der Argonauten verlassen Lemnos und siedeln sich in Lakedaimon an. Sie teilen den Lakedaimoniern mit, Minyer zu sein, die Nachkommen der Argonauten. Die Lakedaimonier nehmen sie auf und teilen ihnen Land zu, beide Gruppen heiraten untereinander. Nach kurzer Zeit steigen die Ansprüche der Minyer und die Lakedaimonier beschließen sie zu töten. Die Minyer können durch eine List fliehen, ein Teil von ihnen wird vom Aristokraten Theras zur Insel Kalliste geführt. Theras entstammt aus dem Geschlecht der Kadmeer und erhebt zuvor erfolglos Anspruch auf die spartanische Königsherrschaft. Mit drei Dreißigruderern fahren Theras und die Minyer nach Kalliste, die bald nach ihrer Besiedlung den Namen Thera erhält.

Unterdessen bleibt Theras' Sohn, Oiolykos, in Sparta und zeugt Aigeus, nach dem das Geschlecht der Aigiden benannt ist.

Herodot bezieht sich dann auf die Version der Theraier: Der theraische König Grinnos konsultiert in Delphi das Orakel, ein Grund wird nicht genannt (χρεωμένῳ...περὶ ἄλλων). Er bekommt von der Pythia die Antwort, in Libyen eine Polis zu gründen. Grinnos antwortet, er sei zu alt und verweist auf Battos. Nachdem das Orakel nicht befolgt wurde, erlebt Thera eine siebenjährige Dürre, bei der die Vegetation schwer in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach einer Anfrage in Delphi erinnert die Pythia abermals an das Orakel, eine Siedlung in Libyen zu gründen. Die Theraier holen folglich den Rat des kretischen Purpurfischers Korobios ein, der eine kleine Gruppe auf die vorgelagerte Insel Platea führt. Sie lassen Korobios mit Proviant zurück, der jedoch nicht ausreicht. Scheinbar zufällig wird er von einem samischen Schiff unter dem Befehl des Kolaios gerettet, der ursprünglich nach Ägypten segeln will. Inzwischen melden die heimgekehrten Theraier, dass sie eine Insel an der Küste Libyens besetzt halten.

Anschließend stellen die Theraier ein Kontingent aus Auswanderern zusammen. Aus alle sieben Regionen der Insel soll stets einer von zwei Brüdern ausgelost werden. Insgesamt bemannen sie zwei Fünfzigruderer.

Daraufhin überliefert Herodot die Version der Bewohner der Kyrenaika: Der verwitwete Etearchos, König von Oaxos auf Kreta, heiratet erneut eine Frau, die jedoch in Konflikt mit Etearchos Tochter Phronime gerät. Als Resultat einer Intrige soll ein theraischer Händler namens Themison Phronime ins Meer werfen, doch dieser rettet sie mittels einer List. Auf Thera macht sie der angesehene Polymnestos zu einer Konkubine, dem sie einen Sohn namens Battos zur Welt bringt. Battos leidet an einer Sprachstörung und wendet sich an das Orakel in Delphi, das ihm jedoch als Antwort den Spruch gibt, Libyen zu besiedeln.Er befolgt nicht das Orakel und in der Folge ergeht es ihm und den Theraiern schlecht. Auf eine erneute Anfrage antwortet die Pythia, dass sie eine bessere Zukunft erwartet, wenn sie in Libyen siedeln. Darauf entsenden

aus Taucheira schreibt Boardman (ebd. S. 144): „Corinthian imports declined slightly while Attic increased, which is the general pattern for Mediterranean trade in the most popular decorated wares.“

610 Obgleich die Versionen mit mythischen Elementen durchdrungen sind, äußert sich Herodot nicht dazu. Im Gegenteil vermeidet er den Terminus μῦθος. Nur im zweiten Buch kritisiert an zwei Stellen (Hdt. 2, 23, 1; 2, 45, 1) seine Quellen aufgrund ihrer mangelnden Glaubwürdigkeit. Ebenso äußert sich Thukydides (1, 21, 1; 1, 22, 4), abfällig über die unkritische Herangehensweise bei Dichtern und Historikern, weil sie je nach Ideal, Gunst und Gedächtnis Ereignisse darstellen. Daher seien einige Ereignisse nur schlecht zu belegen.

die Theraier Battos mit zwei Fünfzigruderern und verhindern gewaltsam eine Rückkehr. Die Auswanderer besiedeln schließlich die Insel Platea an der libyschen Küste. Als sich die Verhältnisse nicht bessern, konsultieren sie wiederholt das Orakel, das sie auf das Festland verweist. Die neue Heimat wird die Landschaft Aziris, die von schönen Tälern und einem Fluss umschlossen wird.

Im siebten Jahr führen sie die Libyer an einen besseren Platz, vorbei an der schönsten Gegend, die sich die Libyer selbst vorbehalten. An einer Quelle, die Apollon heilig sein soll und

„der Himmel offen steht“, sollen sie siedeln.611 Zu Lebzeiten Battos I. und seines Sohnes Arkesilaos I. bleibt die Zahl der Siedler konstant, bis das Orakel in Delphi Nachzügler durch einen Orakelspruch dazu bewegt, sich den ersten Siedlern anzuschließen. Die starke Konzentration an neuen Siedlern hat zu Folge, dass den benachbarten libyschen Stämmen mit ihrem König Adikran Land weggenommen wird. Die Libyer wenden sich an den ägyptischen König Apries, doch die mit den Griechen noch nie im Kriegszustand gewesenen Ägypter werden in der Landschaft Irasa vernichtend geschlagen und fallen aufgrund der Niederlage von ihrem König ab. Hierauf erzählt Herodot von der Königsherrschaft in Kyrene (Hdt. 4, 160-167).

Zunächst wird auf die möglichen Quellen Herodots eingegangen, dann auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den bei Herodot überlieferten Versionen und den Angaben bei Pindar. Wie die Forschung oftmals betont hat, ist Herodot mehr ein

„Historiker von Traditionen“ als ein „Ausgräber von Fakten“, darüber hinaus gibt er die Traditionen nicht nur wieder, sondern interpretiert das Gesagte.612 An zwei Stellen nennt Herodot seine Quellen. 613 Den Logos über die Besiedlung von Thera erzählen die Lakedaimonier und Theraier übereinstimmend, die Theraier und Kyrener berichten dann über die Gründung Kyrenes, wobei sie in ihrem Bericht übereinstimmen, jedoch nicht in den Details über Battos. Stets gebraucht Herodot bei seiner Angaben das Verb λέγω, das man, wie H. Erbse meint, auch mit glauben oder denken übersetzen könne.614 Das bedeutet, dass ein bestimmtes Kollektiv lediglich glaubt, etwas zu wissen, beispielsweise den genauen Verlauf eines Tathergangs. Herodot, der das lokale Wissen der Theraier und Kyrener überliefert, berichtet nicht, wie er an diese Informationen gekommen ist, noch zitiert er Personen oder explizite Personengruppen. Die Aussagen der „Einheimischen“ (ἐπιχώριοι) implizieren folglich, dass das Poliskollektiv keine offiziellen Erzählungen unterbreitet, die man sorgfältig überliefert. Sie stehen unter keiner öffentlichen Kontrolle. Folglich gehört das Wissen um die Gründung der Stadt keiner bestimmten Elite, die nicht vollends für das gesamte Poliskollektiv sprechen kann. Im Gegenteil scheinen in Kyrene unterschiedliche Versionen zu kursieren, sie durchdringen alle Kollektive, denn diese stehen untereinander durch Kommunikation und Interaktion in Kontakt.

Laut M. Giangiulio setzet sich die Version der Gründungsgeschichte, die in der Kyrenaika kursiert, aus unterschiedlichen Quellen zusammen. Dazu gehören mündliche Überlieferungen, Mythen betreffend Apollon und der Nymphe Kyrene, Genealogien und Orakeltexte, die man vielleicht während der Königsherrschaft sammelt. 615 Diese Quellen, mündliche wie

611 Die antiken Texte, die mit dieser Quelle zusammenhängen sind bei Vitali 1932, 59-67. 107-113 gesammelt.

612 Zitat nach Burkert 1985, 15. Das vollständige Zitat lautet: „Herodot als Historiker von Traditionen, nicht als Ausgräber von Fakten zu verstehen, ist eine Aufgabe, an der Historiker wie Philologen noch zu arbeiten haben.“

613 Hdt. 4, 150, 1: Μέχρι μέν νυν τούτου τοῦ λόγου Λακεδαιμόνιοι Θηραίοισι κατὰ ταὐτὰ λέγουσι, τὸ δὲ ἀπὸ τούτου μοῦνοι Θηραῖοι ὧδε γενέσθαι λέγουσι; 4, 154, 1: Ταῦτα δὲ Θηραῖοι λέγουσι, τὰ δ᾽ ἐπίλοιπα τοῦ λόγου συμφέρονται ἤδη Θηραῖοι Κυρηναίοισι· Κυρηναῖοι γὰρ τὰ περὶ Βάττον οὐδαμῶς ὁμολογέουσι Θηραίοισι.

614 Erbse 1992, 76 Anm. 6: „Der irreführende (da) mehrdeutige Ausdruck „Quellenangabe“, ein terminologisches Amalgam, sollte in der Herodotforschung vermieden werden […] Man sollte sich auch daran erinnern, daß λέγειν (wie φάναι) in archaischer Zeit nicht nur „Sagen“ bedeutet, sondern auch bloßes „Meinen“ oder

„Deuten“ ausdrücken kann.“

615 Giangiulio 2001, 120-125. Eine mythische Genealogie wird in Hdt. 4, 147, 1 sichtbar: „Um dieselbe Zeit schickte Theras, der Sohn des Autesion, des Sohnes des Teisamenos, des Sohnes des Thersandros, des Sohnes dcs Polyneikes, eine apoikia aus Lakedaimon fort.“ Ferner (4, 147, 5) schreibt Herodot über die frühen Bewohner von Thera: „Diese bewohnten jene Kalliste genannte Insel schon acht Generationen lang bis zur Ankunft des Theras aus Lakedaimon.“ Zum Orakel-Archiv den Peisitratiden scheibt er (5, 90, 2): „Kleomenes hatte die Weissagungen von der Athener Akropolis erhalten. Früher gehörten sie den Peisistratiden, die sie bei ihrer Vertreibung dagelassen hatten. Die hinterlassenen Weissagungen hatte Kleomenes in die Hände

schriftliche, zirkulieren in Kyrene Seite an Seite und befruchten sich gegenseitig. Sie ergänzen einander und man bildet sie um, um Erfordernissen in der Gegenwart gerecht zu werden.616 Man müsse letzten Endes, so Giangiulio, von einem nicht einfachen Verhältnis zwischen Texten und mündlichen Traditionen ausgehen sowie einer halb-mündlichen Tradition.617 Herodot habe in Kyrene, das im Zeitraum seiner Reisen bereits eine frühdemokratische Verfassung besitzt, keine einzelne mündliche Tradition vorgefunden, die als offizielle Geschichte das Wissen und die Haltung der Könige oder der gesamten Gemeinschaft gegenüber dem Erzählstoff repräsentiert. Darüber hinaus habe Herodot selbst eine Zusammenfassung gegeben, da er mit einer Fülle von Elementen konfrontiert war.618 Den Thesen Giangiulios ist zuzustimmen, denn in vielen Kollektiven, zum Beispiel Familien oder politischen Parteien, bestehen Traditionen, die über Jahrhunderte tradiert werden und sich von anderen Versionen unterscheiden.619 Die Durchmengung von Traditionen mit Elementen aus anderen Versionen zeigt, dass die Kollektive, in denen unterschiedliche Auffassungen von der Gründung Kyrenes existieren, nicht voneinander abgeschottet sind, sondern vernetzt sind. Sie durchdringen, wie der Dialekt, die gesamte Stadt. Die Fülle an Elementen und Versionen ist für Herodot keine Besonderheit, so spricht sich B. Patzek dafür aus, dass Herodot im Allgemeinen auf eine Vielfalt aus Erzählungen Bezug nimmt und Übersetzungen sowie Hilfsmittel (Karten, Listen, Chronologien) heranzieht. Laut Cobet hätte Herodot seine Historien aus vielen Quellen zusammengefügt, denn er habe viele Orte und Länder der Griechen und Nicht-Griechen bereist. Das Umfeld, mit dem Herodot in Kontakt stand und ihm als Quellen für seinen Erzählstoff diente, ließe sich nicht genau bestimmen.620 Die Versionen der „Theraier“ und der Bewohner der Kyrenaika weisen nur einige Gemeinsamkeiten auf, sie stimmen erst bei der Besiedlung von Platea völlig überein. Dabei vermengt Herodot Informationen aus beiden Versionen, sodass eine scharfe Trennung nicht möglich ist. Herodot beginnt zunächst (4, 150-154) mit der theraischen Erzählung und meint dann (4, 154,1), dass beide Erzählungen im Folgenden übereinstimmen, bis auf die Details um Battos.621 Herodot fährt also fort, einige Informationen aus dem theraischen Bericht miteinzubeziehen. Ein wenig später argumentiert Herodot schließlich (4, 155, 1-2) gegen (s)eine Kombination der beiden Versionen, denn er hat bezüglich der Herkunft der Battos-Namens eine von den Theraiern und Kyrenern abweichende, eigene Meinung:622

bekommen.“ Zu den spartanischen Orakeln schreibt er (Hdt. 6, 57, 3-4): „Sie (die Könige) verwahren die Orakelsprüche, die erteilt werden, in ihrer Obhut. Neben ihnen sind nur die Pythier eingeweiht.“ Übers. J. Feix.

Vgl. Clem. Alex. 1, 21, 133: „Man sagt dass Battos der Kyrener ein <Buch> namens „Die Prophezeihung“ des Mopsos verfasste […].“

616 Vgl. Malkin 2003, 155: „Tradition is of its essence selective. Stories are handed down because the teller thinks they are worth telling, and they remain worth as long as they can make some impact on the understanding of the present. Present conditions determine what is remembered of the past, and how much is remembered.“

617 Giangiulio 2001, 127-129.

618 Giangiulio 2001, 136-137. Zum Aufenthalt Herodots in der Kyrenaika schreibt Malkin 2003, 157, dass Herodot unzählige Informanten gehabt haben muss, um seinen Bericht zu erstellen; dazu gehörten auch sich überschneidende und divergierende Erzählungen, von denen er am Ende einige ausließ.

619 Auch McGlew 1993, 24 spricht sich dafür aus, dass die Geschichte des Oikisten abhängig von den Tradierenden ist, da die Bürgerschaft ihren Anspruch wahrnahm, über ihre Geschichte zu urteilen.

620 Cobet 1988, 230; Patzek 2002, 9. Patzek zufolge (ebd. S. 26) könne Herodot auch Schriftquellen als

„mündliche Situationen“ präsentiert haben.

621 So auch Malkin 2003, 158. Schon Graham 1960, 97 betont die fortlaufende Übereinstimmung.

622 Übers. K. Brodersen. Letztendlich ist Βάττος ein Beiname, bereits Pindar (P. 5. V. 87) erwähnt den ursprünglichen Namen: Ἀριστοτέλης. Vgl. Diod. 8, 29: Ἀριστοτέλης ὁ καὶ Βάττος und Herakl. Pont. FGH 2, 212: Κυρήνην ᾤκισε Βάττος ὃς ἐκαλεῖτο πρότερον Ἀριστοτέλης. Weitere Stellen bei Chamoux 1953, 97. Wie Masson 1976b, 84-91 anführt, finden sich in libyschen Inschriften keine Belege, dass Battos mit „König“ zu übersetzten sei. Vielmehr heiße König bei den Libyern GLD (Vgl. S.E.G. 9, 455: Γιλδάν).

χρόνου δὲ περιιόντος ἐξεγένετό οἱ παῖς ἰσχόφωνος καὶ τραυλός, τῷ οὔνομα ἐτέθη Βάττος, ὡς Θηραῖοι τε καὶ Κυρηναῖοι λέγουσι· ὡς μέντοι ἐγὼ δοκέω, ἄλλο τι, Βάττος δὲ

„Nachdem einige Zeit vergangen war, wurde ihm [Polymnestos] ein stotternder und stammelnder Sohn geboren, dem der Name Battos („Stotterer“) gegeben wurde, wie die Theraier und Kyrener sagen, wie ich jedoch meine, irgendein anderer:

Diese Stelle lässt vermuten, dass Herodot auch an anderen Stellen die tradierten Versionen kritisch sieht und Änderungen vornimmt, ohne sich explizit zu äußern. Ein wesentlicher Unterschied in den Versionen liegt insbesondere in der Bedeutung Battos' für die Gründung Kyrenes. In der Version der Theraier rät das delphische Orakel König Grinnos, der eigentlich

„über andere Dinge“ ein Orakel erbat, zur Gründung einer Polis in Libyen (Hdt. 4, 150, 3).

Dieses Orakel wird aber ignoriert, da auf Thera nicht bekannt ist, wo Libyen liegt. Erst nach der siebenjährigen Dürre und einem weiteren Orakel, dessen Wortlaut Herodot nicht überliefert, finden die Theraier einen Fischer, der ihnen den Weg nach Libyen zeigen kann.

Erst jetzt wird eine Siedlergruppe unter Battos ausgesendet. In der theraischen Version ist also Apollon der Akteur, der die Theraier zur Aussendung nötigt. Die kyrenische Version hingegen legt den Fokus auf den Gründer Battos, dessen Abstammung und das spontan gegebene Orakel. Mit der Erhöhung und Herabsetzung des Oikisten sowie der Metropolis werden auch die Bemühungen um die politische Unabhängigkeit der Apoikia sichtbar.

Der Versuch, den Oikisten Battos zu erhöhen oder abzuwerten, tritt bei einem Vergleich zwischen Pindar und der kyrenischen Version bei Herodot deutlicher vor Augen.623 So fehlt in der kyrenischen Version die Betonung der königlichen Abkunft des Battos, die noch bei Pindar stark hervortritt (P. 4. V. 44-59).624 Weder wird Battos als Heros dargestellt, der dazu bestimmt ist, die alten Prophezeiungen zu erfüllen, wie Pindar dichtet (P. 4. V. 4-8. 50-57). In der kyrenischen Version ist Battos kein Euphemide, wie in der theraischen (Hdt. 4, 150, 2), sondern der Sohn einer kretischen Prinzessin. Es fehlen sämtliche Verknüpfungen Battos' mit den Argonauten und Minyern. Während Pindar die Initiative des delphischen Apollon herausstellt (P. 4. V. 4-8. 54-61. 258-259), agiert Battos in der kyrenischen Version selbstständiger. Er ist nicht eine Person im Gefolge Grinnos, sondern bemüht sich, seinem

Der Versuch, den Oikisten Battos zu erhöhen oder abzuwerten, tritt bei einem Vergleich zwischen Pindar und der kyrenischen Version bei Herodot deutlicher vor Augen.623 So fehlt in der kyrenischen Version die Betonung der königlichen Abkunft des Battos, die noch bei Pindar stark hervortritt (P. 4. V. 44-59).624 Weder wird Battos als Heros dargestellt, der dazu bestimmt ist, die alten Prophezeiungen zu erfüllen, wie Pindar dichtet (P. 4. V. 4-8. 50-57). In der kyrenischen Version ist Battos kein Euphemide, wie in der theraischen (Hdt. 4, 150, 2), sondern der Sohn einer kretischen Prinzessin. Es fehlen sämtliche Verknüpfungen Battos' mit den Argonauten und Minyern. Während Pindar die Initiative des delphischen Apollon herausstellt (P. 4. V. 4-8. 54-61. 258-259), agiert Battos in der kyrenischen Version selbstständiger. Er ist nicht eine Person im Gefolge Grinnos, sondern bemüht sich, seinem