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Historischer Abriss über die Kyrenaika

A. Einleitung

2. Historischer Abriss über die Kyrenaika

Die Ansiedlungen in der Kyrenaika erfolgen etwa 200 Jahre, nachdem die Euboier Handelsniederlassungen gegründet und eine Reihe weiterer Poleis das westliche Mittelmeer und das Schwarze Meer besiedelt hatten. In der Zeit der sogenannten großen griechischen Kolonisation suchen Gruppen aus Griechenland seit dem 8. Jh. v. Chr. zunehmend die Küsten des Mittelmeerraumes und Schwarzen Meeres auf, um Handel zu treiben und Ackerbausiedlungen zu gründen. Die Gründe für die Unternehmungen sind mannigfaltig und können an dieser Stelle nicht erörtert werden.18 Anzunehmen sind jedoch mehrere Ursachen, die sich gegenseitig beeinflussen und verstärken. Unter den Griechen stechen die Euboier hervor, die seit dem 9. Jh. v. Chr. Beziehungen zur Levante pflegen. Im frühen 8. Jh. v. Chr.

entstehen bei Tell Sukas und Al Mina an der Mündung des Orontes euboische Handelsplätze.

Eine weitere bedeutende Gründung erfolgt eine Generation später mit, nämlich die Gründung eines dauerhaften Handelsplatzes auf der Insel Pithekoussai im Golf von Neapel. Ab der Mitte des 8. Jh. v. Chr. setzen weitere Siedlungsgründungen der Euboier ein, die auf eine planmäßig Verknüpfung der frühesten griechischen Siedlungen im westlichen Mittelmeer hindeuten. Wie entlang einer Kette gründen die Euboier Rhegion und Zankle in der Meerenge zwischen Süditalien und Sizilien sowie Naxos, Katane und Leontinoi im Osten Siziliens. Diese Orte verbinden die Küsten Italiens und Siziliens mit der griechischen Westküste, da Korkyra zunächst eine Gründung der Euboier ist.

Der Terminus Kolonisation wird in dieser Arbeit als Konvention sehr sparsam verwendet.

Seit den neunziger Jahren mehrt sich die Kritik an den gebräuchlichen Termini „Kolonie“ und

„Kolonisation“, weil diese mit einer historischen und möglicherweise ideologischen Konnotation(en) überfrachtet sind.19 Der Vorschlag von F. de Angelis etwa,20 das Phänomen als Kulturkontakt zu bezeichnen, impliziert das Aufeinandertreffen von ethnisch und kulturell homogenen Einheiten, die als solche nicht existieren. Aus pragmatischen Gründen wird den Begriffen „Siedler“ und „Siedlung“ der Vorzug gegeben, da in der Antike griechische Siedlungen außerhalb Griechenlands – sie machen ein Drittel aller griechischen Ortschaften in der Antike aus – in der Regel Ackerbausiedlungen sind.21 Aber auch der Terminus

„Besiedlung“ ist nicht zufriedenstellend, weil die Kyrenaika vor der Ankunft der Siedler bereits durch libysche Stämme dünn bevölkert ist.

Die Stämme durchstreifen die Kyrenaika als Halbnomaden und erbauen keine Siedlungen.22 Saisonal betreiben sie Ackerbau und Viehzucht und nutzen dabei Zelte, Höhlen und Gehöfte als Quartiere.23 Auch ein kürzlich durchgeführter Survey an der Küste von Apollonia in Richtung ägyptischer Grenze kann die These von libyschen Siedlungen oder Handelskontakten in der Bronzezeit nicht erhärten.24 Lediglich in Marsa Matruh (Abb. 1) existiert eine ägyptische Siedlung in der Amarnazeit (SH III A2 / um 1350 v. Chr.), in der

18 Beispiele geben Murray 1982, 143-145; Cawkwell 1992, 289-303. Eine umfassende Darstellung über die Deutungen der Forschung gibt Bernstein 2004, 17-42. In der Mehrzahl entstehen in der Antike durch Emigration Ackerbausiedlungen. Handel und die Einrichtung von Handelsplätzen (Emporion) können den Zuzug von Siedlern und die Gründung einer Apoikia begünstigen, doch sollte jede Gründung einzeln betrachtet werden.

19 Zur Kritik an der Terminologie Osborne 1998, 251-252; De Angelis 2010, 18-22; Sommer 2011, 183-193. Vgl.

A. J. Grahams programmatischen Buchtitel „Colony and Mother City in Ancient Greece“ aus dem Jahre 1964.

20 De Angelis 2010, 20-21.

21 Sommer 2011, 190. Sommer bemerkt (ebd. S. 185), dass Griechen wie Römer den Terminus „colonia“ nicht im heutigen Sinne gebrauchen. Und zur nicht einheitlichen Verwendung von griechischen Termini bei Herodot schreibt Malkin 1994, 172: „As we have seen, the Therans were told to establish an ἀποικίη, to inhabit (οἰκέειν), to co-inhabit (συνοικήσοντας, συνκτιζουσι), and to share the land (ἐπὶ γῆς ἀναδασμῷ). The verbs denoting

‘foundation’ are seemingly interchangeable – κτίζειν ἀποικίζειν – and Battos himself is designated οἰκιστῆρ.“

22 Nur die Garamanten im Fezzan erbauen Städte, Bewässerungssysteme und zeichnen sich durch staatliche Strukturen und einen ausgedehnten Handel mit innerafrikanischen Regionen aus. Zu den Garamanten Ruprechtsberger 1997 passim. Es handelt sich laut Daniels 1989, 45 um einen Sammelnamen, mit dem eine Konföderation aus Stämmen gemeint ist.

23 Goodchild 1971, 15; Laronde 1990, 174-175; White 1994, 31-41. Die Forschungsgeschichte der Jahre 1969-1989 fasst Barker 1969-1989, 31-41 zusammen. Zur neolithischen Epoche Ruprechtsberger 2012, 17-18.

24 White – White 1996, 15-16.

hauptsächlich ägyptische und levantinische Keramik gefunden wird.25 Einige der nur schwer zu lokalisierbaren Stämme (Libu und Mešweš) begegnen bereits im 2. Jahrtausend in ägyptischen Quellen. Nachweislich führen während der Herrschaft von Pharao Merenptah (1213-1204 v. Chr.) und Ramses III. (Reg. 1187-1156 v. Chr.) einige libysche Stämme, zu denen die Libu und Mešweš gehören, mit einigen „Seevölker“-Verbänden Angriffe gegen die Westgrenze Ägyptens durch.26

Aufgrund der Unkenntnis über die frühen Beheimatungen der Libyer liefern Untersuchungen in der Kyrenaika bis heute keine schlüssigen Ergebnisse über die Siedlungsstrukturen vor der Ankunft der Siedler.27 Insofern ist der vorläufigen Interpretation von B. D. Shaw zuzustimmen, nach der die Kyrenaika und der Maghreb von den Bewohnern der Levante und Ägäis in der Eisenzeit für den Export von Agrarerzeugnissen noch entdeckt werden müssen. Auch in der Umgebung von Kyrene finden Archäologen keine Spuren einer früheren Besiedlung.28 In den nachfolgenden Jahrhunderten leben die Stämme, wie die antiken Verfasser belegen, in der Peripherie der Poleis und am Rande der Kyrenaika, vor allem im Süden und Osten. Ihre beständige Anwesenheit in der Region bezeugen hauptsächlich ausgegrabene Gräber, Keramikscherben und kleine Heiligtümer.29 Südlich und östlich der Kyrenaika leben sie als Nomaden und betreiben keinen Ackerbau.30 Es ist also zwischen Nomaden und sesshafteren Gruppen zu unterscheiden.31 Mitte des 7. Jh. v. Chr. siedeln Gruppen von Griechen an den Küsten der Kyrenaika sowie einer vorgelagerten Insel. Laut Herodot (4, 153) handelt es sich bei den Erstsiedlern um eine Gruppe von Männern aus allen Bezirken Theras. Unklar ist der Wissenstand der Siedler zu Beginn ihrer Reise, Libyen erscheint noch in den homerischen Epen als eine stark verklärte Region.32

Die Kyrenaika ist vor der Ankunft der Griechen kein fester Bestandteil der Mittelmeerwirtschaft beziehungsweise nur ungenügend in diese integriert. Der Zugang zu Gütern aus dem östlichen Mittelmeer ist sehr begrenzt.33 Daher stellen sich wirtschaftliche und soziale Veränderungen nach der Entdeckungs- und Besiedlungsphase durch die Griechen sehr ein.34 In den Jahrzehnten nach der ersten Landnahme gründet man mehrere Ortschaften (Abb.

2): Kyrene, Taucheira, Euhesperides und Apollonia, ein kleiner Hafen 12 km nördlich von Kyrene. Der Hafen besitzt in den ersten Jahren wohl keinen eigenen Namen, erst in hellenistischer Zeit ist der Hafen unter dem Namen Apollonia bekannt und in

25 Bates 1927, 125-197; White 1990, 1-4; 2001, 214-216; Snape 2003, 1-8. Snape meint anhand einer Inschrift feststellen zu können, die autarke Festung befinde sich im Land der Tjemehu und sei von ihrem Wohlwollen abhängig. Die Festung richte sich seiner These nach aber nicht gegen die umliegenden Tjemehu und Tjehenu, sondern gegen eine Bedrohung der Handelsrouten durch Mešweš und Libu.

26 s. zu den Quellen über diese Ereignisse Lehmann 2011a, 79-80; 2011b, 142-143. 146.

27 In Hinblick auf diese Strukturen O’Connor 1990, 66; White 1990, 13; 1994, 39. Hodos 2006, 169 erwähnt einige kurvenförmige Häuser in Taucheira aus dem frühen 6. Jh. v. Chr., die von rechteckigen Bauten ab der zweiten Jahrhunderthälfte verdrängt werden.

28 Goodchild 1971, 17 mit Anm. 3. Einzig prähistorische Zeichnungen in einer Höhle wurden gefunden.

29 Applebaum 1979, 8; Baldassarre 1987, 17-24; Barker 1989, 39-40; Hodos 2006, 158-199.

30 Zwischen der Kyrenaika und Ägypten leben die Marmaridai. Nach Pseudo-Skylax (108) erstreckt sich ihr Siedlungsgebiet von Apis in Ägypten aus westwärts. Ptolemaios (4, 5, 1-3) hingegen schreibt, dass sich die Marmarike (die er als Nomos bezeichnet) von Darnis (dem heutigen Darna in Libyen) im Westen weiter bis Petra Megale (nahe der heutigen ägyptisch-libyschen Grenze) im Osten erstreckt.

31 Vgl. die Unterscheidung zwischen Nomaden und sesshafteren Gruppen bei Hdt. 4, 187, 1-2; Laronde 1990, 175-177.

32 Hom. Od. 4, 85-89. Vgl. Hom. Od. 14, 294-296: „Als die Jahreszeiten wiederkamen, nahm er mich mit an Bord seines Schiffes, ich sollte mit nach Libyen fahren, denn er log, um mich mit der Fracht zu verkaufen.“ Vgl. aber Diodor 20, 40-42, 3, der Libyen als durch ein großes und schwer zu überquerendes Meer abgeschottetes Land beschreibt, getrennt vom karthagischen Machtbereich durch unwirtliche Berge und trockene Steppen. Diese Steppen bewohnen wilde Tiere. Strabon 17, 3, 20 beschreibt die gefährliche Überquerung der großen und kleinen Sirte. Plutarch im Cato Minor 56 überliefert die schwierige Verfolgung Pompeius durch Cato. Shaw 2005, 99 zufolge hätten sich die Griechen aus diesem Grund in der Kyrenaika angesiedelt, doch belegen die Quellen gerade die Unkenntnis dieser Region.

33 Rowe 1954, 486; Wainwright 1962, 93-97. Nach Sherratt – Sherratt 1993, 367 seien im 8. Jh. v. Chr.

Handelsrouten der Phönizier von Ägypten nach Tunesien entlang der nordafrikanischen Küste anachronistisch.

34 Shaw 2005, 104-105. Paradoxerweise entdecken die Phönizier die Bucht von Tunis und die Landzunge von Tanger im Westen bereits zwei Jahrhunderte vor der Besiedelung der Kyrenaika.

späthellenistischer Zeit, nach einer Phase der Vergrößerung, eine autonome Polis.35 Sowohl das genaue Gründungsdatum als auch die Umstände der Gründung des Hafens bleiben ungeklärt. Jedoch ist die Lage für einen Hafen sehr günstig, weil die unwirtliche und von Stürmen geplagte Küste durch vorgelagerte Inseln, Riffe, nebst einem Vorgebirge vor den Stürmen geschützt ist.36 In späterer Zeit gründet man weitere Städte sowie kleine verstreute Ortschaften. Die Nachfahren der Siedler sowie Zugewanderte bewohnen die Kyrenaika bis zur arabischen Eroberung.37

Schon bald betreiben die Siedler Land- und Viehwirtschaft auf den Plateaus. Mehrmals ist in den Quellen zu lesen, Libyen sei reich an Herden (μηλοτρόφος).38 Anhand von Surveys und Grabungen wird festgestellt, dass den größten Bestand an Nutztieren in allen Zeitperioden in der Kyrenaika Schafe und Ziegen stellen (zumindest die Hälfte des Bestandes). Einen ähnlich großen Anteil haben Schweine und Rinder.39 Berühmt ist Kyrene auch wegen seiner Pferde.

Die Polis sei rossereich (εὐίππος),40 laut Strabon (17, 3, 21) die Beste der Pferdehalter (ἱπποτρόφος ἐστὶν ἀρίστη), laut Priscianus (197) die ruhmvolle Mutter der Rosse (clarorum mater equorum) und nach Oppianos (kyn. 2, 253) Rosse nährend (ἱπποόβατος). Noch im 4. Jh.

n. Chr. lobt Synesios (epist. 130) den reichen Viehbestand. Im Getreideanbau können die Landwirte besonders auf den Plateaus um Kyrene große Mengen an Getreide ernten. Surveys unweit der Poleis bestätigen zahlreiche Wasserkanäle, Staudämme, Zisternen und Befestigungen zum Anlegen von Terrassen.41 Die antiken Dichter, Ethnographen, Geographen und Historiker belegen den Boden mit zahlreichen Beinamen: sie sei laut Pindar (P. 4. V. 6.; P.

9. V. 58) fruchttragend (καρπόφορος), weizentragend (I. 4. 53: πθροφόρος) sowie reich an fruchtbringenden Pflanzen und Tieren (P. 4. V. 58). Herodot schildert, in sicherlich übertreibender Manier, die acht Monate anhaltende Erntezeit und das fruchtbare Land bei Euhesperides (Abb. 2), das in guten Erntejahren hundertfältige Frucht trägt (4, 198-199).

Unter der Herrschaft des persischen Königs Dareios, der mit seiner Armee im späten 6. Jh. v.

Chr. Ägypten und die Marmarike (Abb. 1) beherrscht, zahlen Kyrene und Barka 120.000 Scheffel Getreide an die Perser (Hdt. 4, 198, 3). Der Getreideexport entwickelt sich aber erst während der klassischen Epoche, als erster berichtet Theophrast (h. plant. 8, 4) über Getreidelieferungen nach Athen. Theophrast informiert ferner über den schnell wachsenden Weizen mit seinem kräftigen Halm, der einen guten Boden braucht (h. plant. 4, 3; c. plant. 3, 21, 2) und Kallimachos (h. Apoll. V. 65) über tieferdige (βαθύγεινος) Land. Strabon beschreibt die Küstenregion als fruchtbar (καλλίκαρπος),42 die sich besonders für die Landwirtschaft eigne (Strab. 2, 5, 33; 16, 3, 21). Laut Plinius (nat. 18, 21) brauche der Weizen während des Wachstums keine Pflege. Erst auf einer Stele des 5. Jh. v. Chr. wird Wein mit Oliven und

35 Die früheste Erwähnung findet sich laut Reynolds 1962, 99 auf einer fragmentierten Inschrift aus Apollonia (τῆς πόλεως τῆς Ἀπολλωνιάτων). Südlich von Apollonia wird Anfang der sechziger Jahre ein Grenzstein aus der Regierungszeit Kaiser Vespasians gefunden, der den Ort als autonome „Civitas Apolloniatarum“ bezeichnet.

Dazu Reynolds – Goodchild 1965, 103-107. Heute heißt der Ort Marsa Susa.

36 s. zur Beschaffenheit der Landschaft Goodchild 1971, 177; Laronde 1985, 94-116; 1990b, 75-81. Später wird der natürliche Schutz durch ein künstliches Becken ergänzt.

37 Zur spätantiken Periode allgemein Goodchild 1967, 114-124; 1971, 51-53; Roques 1987 passim.

38 Hdt. 4, 155; 3; 157, 2. Vgl. Hdt. 4, 186; Athen. 1, 49, 10. Arr. Ind. 43, 13: „Aber Kyrene, das in den wüstenreichen Gegenden liegt, ist grün und fruchtbar und wasserreich; es birgt aller Art Früchte und Tiere bis zur Region, wo das Silphion wächst, dahinter ist es wüst und sandig.“ Übertrieben mutet die Aussage von Menelaos an, das Vieh in Libyen bekomme mehrmals pro Jahr Junge (Hom. Od. 4, 85-89).

39 Barker 1985, 122. Laut Barker lässt sich dieses Größenverhältnis in Berenike vom 2. – 7. Jh. n. Chr. (mit Ausnahme des frühen 3. Jh. n. Chr.) nachweisen. Im Durchschnitt erfolgt die Schlachtung der Rinder im Alter von zwei Jahren, ebenso wird mit Schweinen verfahren. Darüber hinaus finden sich Spuren auf den Verzehr von Schnecken und Muscheln.

40 Pind. P. 4. V. 2. Vgl. Pind P. 9. V. 2. Strab. 17, 3, 21 (= Kall. fr. 716 Pfeiffer): Καλλίστη τὸ πάροιθε͵ τὸ δ᾽

ὕστερον οὔνομα Θήρη / μήτηρ εὐίππου πατρίδος ἡμετέρης. – Kalliste in der Vorzeit, doch später Thera mit Namen / Mutter unserer Heimat mit den guten Pferden. Übers. S. Radt.

41 Zu diesen Anlagen Goodchild 1952-1953, 70-80. Weiter belegen Surveys im Umkreis von Berenike den Anbau von Gerste in der römischen Periode, den man aufgrund des säurehaltigen Bodens in der Stadt zunächst aufbereitet. Dazu Barker 1982, 31.

42 Strab. 17, 3, 21: […] und auch edle Pferde nährend (ἱπποτρόφος) und früchtereich (καλλίκαρπος).

Feigen vermerkt.43

Nach den Siedlungsgründungen führen die Siedler eine Reihe von Sitten und Gebräuchen (νόμιμα), Kulte und religiöse Praktiken aus ihrer Heimat ein. Die schlechte Quellenlage erlaubt keine Rekonstruktion dieser Prozesse, zumal im 7. Jh. v. Chr. die Ausbildung der Polisstrukturen und selbst der griechischen Religion noch nicht vollständig abgeschlossen ist.

Es ist anzunehmen, dass die adeligen Familien, die in der Ausgestaltung der institutionalisierten Sitten und Gebräuche tonangebend sind, zahlreiche νόμιμα aus ihrem Heimatort überführen.44 Dabei ist auch zu bedenken, dass Siedler aus verschiedenen Orten Griechenlands in die Kyrenaika einwandern und ihre Sitten und Gebräuche ebenfalls überführen. Und wie die außerordentliche Stellung des Oikisten und seiner Nachfahren in Kyrene zeigen, werden einige Institutionen modifiziert. Es bildet sich ein kyrenischer Dialekt, der bis in die römische Periode hinein greifbar ist. R. G. Goodchild schätzt, dass in der gesamten Geschichte Kyrenes nie mehr als 30.000 Menschen in der Stadt leben und in der Kyrenaika nicht mehr als eine Viertelmillion.45 Laut S. Applebaum leben im 5. Jh. v. Chr. in Kyrene 60.000 Bürger, 15.000 Metoiken und 10.000 Sklaven.46 Anzunehmen sind Mischehen zwischen griechischen Männern und libyschen Frauen, doch der Grad an Mischehen lässt sich anhand der Quellen nur schwer bestimmen.47

Über die Geschichte Kyrenes und der Kyrenaika berichten eine Reihe antiker Autoren aus unterschiedlichen Epochen.48 Einige Quellen liefern eindeutige Belege für eine intentionale Geschichtsschreibung. Die ausführlichste Darstellung der ersten beiden Jahrhunderte stammt von Herodot. Er überliefert die Erzählungen der Theraier und Kyrener über die Gründung von Kyrene und eine acht Generationen andauernde Königsherrschaft, in der die Könige abwechselnd Battos und Arkesilaos heißen und eine außerordentliche Vorrangstellung einnehmen. Der erste König heißt Battos I., der vom delphischen Orakel als Oikist auserkoren wird, eine Siedlergruppe anzuführen (Hdt. 4, 156-158), nach seinem Tod wird er kultisch verehrt (Pind. P. 5. V. 89-98). Nach Battos wird das Herrscherhaus (Battiaden) benannt, die Könige herrschen fast 200 Jahre über Kyrene und den Großteil der Region.49 Über den zweiten König, Arkesilaos I., ist bis auf die Dauer seiner Herrschaft (16 Jahre) nichts bekannt. In dieser Zeit bauen die Kyrener am Abhang eines Hügels, außerhalb der späteren Stadtmauern und in der Nähe einer Quelle, ein Heiligtum für Demeter und Kore.50 Der dritte König Battos II. mit dem Beinamen „der Glückliche“ ruft mit der Unterstützung des delphischen Orakels weitere Siedler in die Kyrenaika. Durch die Besiedlungen kommt es zum Konflikt mit den umwohnenden Libyern, die Pharao Apries um Hilfe ersuchen. 51 Das vom Pharao ausgeschickte Heer wird vernichtet und Apries durch Amasis gestürzt (Hdt. 4, 159, 2-6).

In der ersten Hälfte des 6. Jh. v. Chr. versuchen die Könige, ihre Herrschaft durch eine

43 Oliverio 1933b, Nr. 10-14. Pseudo-Skylax (108, 4) und Diodor (3, 50, 1) berichten über die Weinbaugebiete.

Insgesamt wird dem Wein aus der Kyrenaika aber eine mittelmäßige Qualität bescheinigt. Vgl. Strab. 17, 1, 14:

„Dieses ganze Gebiet hat keinen guten Wein; die Krüge enthalten mehr Meerwasser als Wein, den man Libyschen nennt – daher trinkt die große Menge der Alexandriner auch Bier.“ Übers. S. Radt.

44 Allgemeine Überlegungen zum Transfer von νόμιμα stellt Reichert-Südbeck 2000, 2-3 an. Ebenso können in der Frühzeit einer Apoikia gänzlich neue Kulte gegründet werden.

45 Goodchild 1971, 15. Wie Goodchild zugibt, lässt sich die genaue Zahl nicht abschätzen.

46 Applebaum 1979, 102. Laronde 1999, 83-84 schätzt die Einwohnerschaft auf 100.000 Menschen und in der Kyrenaika auf 500.000-600.000.

47 Vgl. die Information bei Herodot (4, 186, 4), dass Frauen in Kyrene und Barka nicht Kuhfleisch essen. Die barkaischen Frauen verzichten ferner auf Schweinefleich.

48 Zu den Autoren gehören in erster Linie Herodot, Diodor, Strabon, Pindar (samt Scholien) und Flavius Josephus. Informationen sind ferner bei Pausanias, Thukydides, Plinius, Plutarch, Kallimachos, Synesios, Menekles von Barka, Aristoteles und Polyainos enthalten. Eine Reihe weiterer Verfasser macht sporadische Bemerkungen.

49 Das Wort Βαττιάδαι kommt im Gegensatz zur Forschung bei Herodot nur einmal vor (4, 202, 2). F. Chamoux wird durch den Namen inspiriert und nennt sein Werk „Cyrène sous la monarchie des Battiades.“

50 Zum Heiligtum und seiner Funktion Goodchild 1971, 156-164; Kane 1998, 290-295.

51 Bezüglich des Seehandels mit Ägypten gibt es keine Unstimmigkeiten, die Quellen konstatieren einen einseitigen Strom von Waren in die Kyrenaika. Bereits in den ersten Jahrzehnten erreichen ägyptische Skarabäen Kyrene und Taucheira (Abb. 2), die auch im ägyptischen Naukratis gefunden werden. s. dazu Boardman – Hayes 1966; White 1976, 177. Vgl. die Thesen zum frühen Handel bei Schaus 1979, 102-106.

konstruierte Verwandtschaft mit mythischen Figuren und durch eine nachträgliche Sanktionierung durch das delphische Orakel zu legitimieren.52 Unter Pharao Amasis (570-526 v. Chr.) schließen die Kyrener ein Freundschafts- und Schutzbündnis mit Ägypten ab (Hdt. 2, 181, 1). Über den Handel mit Ägypten berichtet als erster Herodot, die Handelsrouten erstrecken sich über weite Teile Nordafrikas, wobei Oasen als Umschlagplätze dienen.

Herodots Angaben stimmen mit den historischen Daten und archäologischen Befunden überein, die eine Phase der Prosperität entlang der nordafrikanischen Handelsrouten belegen:

die Gründung des Ammonions im 6. Jh. v. Chr. unter Pharao Amasis in der Oase Siwa,53 die erste Blüte Garamas, dem Zentrum des Garamantenreiches im Fezzan (Abb. 1),54 und die Konsolidierung der Poleis unter den Königen. Spätestens seit der Herrschaft des Amasis existieren Handelsniederlassungen der Griechen in Ägypten, die einen Handel mit der Kyrenaika begünstigen. 55 Reisen von Kaufleuten, die Waren bis in die Kyrenaika transportieren wollen, beginnen wohl in Theben.56 Die erste Station auf dem Weg in den Westen ist die Oase Bahariyya, ca. 190 Kilometer westlich des Nils gelegen (Abb. 1), ein Ort der seit mehreren Jahrhunderten unter thebanischen Einfluss steht. In der 26. Dynastie, zur Zeit des Pharao Amasis (Reg. 570–526 v. Chr.), erlebt die Oase Bahariyya eine ihrer Blüten.

Anschließend ziehen die Kaufleute zur Oase Siwa, die das berühmte Orakel des Ammonion beherbergt, eine Außenstelle der Priesterschaft in Theben. Siwa liegt ca. 560 Kilometer westlich des Nils. Von Siwa aus ziehen sie entweder in die Kyrenaika oder weiter zur Oase von Augila, ca. 460 Kilometer westlich von Siwa (Abb. 1).57 Diese Oase wird, wie Herodot berichtet (4, 172), im Sommer von den Nasamonen aufgesucht, um Datteln zu ernten, während sie ihre Herden an der Küste zurücklassen.58 Die Stationen Theben – Siwa – Augila sind laut Herodot (4, 181-182) zehn Tagesreisen entfernt. Arabische Quellen aus dem Mittelalter stützen diese Angaben.59 Deshalb ist im 6. Jh. v. Chr. zumindest die Existenz einer Handelsroute durch Teile der Sahara anzunehmen,60 an dem die Kyrener zunächst nicht partizipieren. Sie besitzen keine Vorstellung von der Sahara und nennen sie schlicht ἡ ἔρημος, ἡ ἐρήμη (manchmal ergänzt mit χώρα) oder ἡ ἐρημία.61

Der vierte König, Arkesilaos II., genannt „der Grausame“ regiert autoritär und veranlasst seine Brüder, aus Kyrene fortzugehen und 100 Kilometer westlich die Polis Barka zu gründen.

Die Brüder ermutigen die umwohnenden Libyer zum Aufstand gegen Arkesilaos II. In einer Schlacht bei Leukon (der Ort ist nicht identifiziert) besiegt man die Aufständischen, es sterben dabei 7000 Hopliten. Kurz darauf erkrankt Arkesilaos II. und wird ermordet (Hdt. 4, 160).

52 In dieser Arbeit ist der Mythos eine Erzählung, die mündlich, schriftlich oder bildlich in einem Kollektiv durch Hören, Sehen und bildliche Darstellungen vermittelt und über einen längeren Zeitraum tradiert wird. Vgl. zu dieser Definition Scheer 1993, 16.

53 Fakhry 1973, 79; Kuhlmann 1988, 43-48.

54 Fakhry 1973, 34-35; Mattingly 1997, 20-22.

55 Herodot zufolge gibt Amasis den Griechen Naukratis (2, 178, 1: ἔδωκε Ναύκρατιν πόλιν), sodass die Einrichtung von der früheren Forschung in die Jahre nach 570 v. Chr. datiert wird. Die archäologischen Befunde aber belegen die Präsenz von Griechen bereits im letzten Drittel des 7. Jh. v. Chr. Bereits Psammetichos I.

ermöglicht den Griechen erste Handelskontakte, nachdem er bereits in der Vergangenheit ionische und karische Söldner angeworben hatte (Hdt. 2, 152, 4: Ἴωνάς τε καὶ Κᾶρας ἄνδρας), um seine Macht zu stützen.

ermöglicht den Griechen erste Handelskontakte, nachdem er bereits in der Vergangenheit ionische und karische Söldner angeworben hatte (Hdt. 2, 152, 4: Ἴωνάς τε καὶ Κᾶρας ἄνδρας), um seine Macht zu stützen.