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Dorische Kolonisation? Das dorische Gemeinschaftsgefühl in der archaischen Epoche

C. Das Hellenentum – eine pankollektive Formation des 7-6. Jh. v. Chr.?

3. Dorische Kolonisation? Das dorische Gemeinschaftsgefühl in der archaischen Epoche

In diesem Kapitel wird auf das Entstehen des dorischen Gemeinschaftsgefühls eingegangen, denn die bedeutendste Polis in der Kyrenaika, Kyrene (Abb. 3), wird mehreren Quellen zufolge von den Bewohnern der dorischen Insel Thera gegründet.225 Die Siedler verstehen sich nicht nur als Griechen in der Kyrenaika, sondern als Dorier. Die Dorier sind im Altertum lose durch einige gemeinsame Merkmale (Phylenordnung, Dialekte, Monatsnamen, Institutionen und Feste) miteinander verbunden. Die Phylengliederung in den meisten dorischen Poleis geht auf die Hylleer (Ὑλλεῖς), Dymanes (Δυμᾶνες) und Pamphyloi (Παάμφυλοι) zurück.226 Die Hylleer und Dymanes wandern am Ende der mykenischen Zeit (11/10 Jh. v. Chr.) in Griechenland ein; die Hylleer bewohnten einst die adriatisch-illyrische Küste, die Dymanes stammen aus Nordwestgriechenland. Ὑλλεῖς und Δυμᾶνες sind Ethnika und verweisen auf sehr kleine Volkschaften, die mit anderen Gruppen die sogenannten „Seevölker“-Verbände bilden. 227 Die Hylleer und Dymanes treffen schließlich auf der Peloponnes auf eine einheimische Bevölkerung, die Pamphyloi (das „Allerweltsvolk“). Laut G. A. Lehmann fasst man diesen frühgeschichtlichen Bevölkerungsteil schlicht „durch einen rein appellativischen Sammelbegriff“ zusammen.228 Demnach handelt es sich bei den Hylleern und Dymanes zunächst um kleinere Volkschaften, zu der vornehmsten Phyle gehören die kampferfahrenen Hylleer. Die Phylengliederung (Ὑλλεῖς – Δυμᾶνες – Παάμφυλοι) findet sich in den (dorischen) Landschaften auf der Peloponnes, auf Kreta und der Dodekanes bis an die kleinasiatische Küste. Mit der Entstehung der Polis als dominierende Staatenform erfolgt im Laufe der archaischen Epoche eine vollständige Umgestaltung der Funktionen.229 Fortan existieren die φυλαὶ innerhalb der Poleis als Verwaltungseinheiten weiter. Die Archäologie kann die sogenannte dorische Wanderung nicht nachweisen. Die in die „Dunklen Jahrhunderte“ datierte materielle Kultur (Kistengräber, Gewandnadeln, Keramik) wurde vergeblich mit eingewanderten Gruppen in Verbindung gebracht.230 Im Falle einer Migration müsse es sich, aufgrund des fließenden Übergangs von der spätmykenischen zur protogeometrischen Epoche, um eine unkoordinierte Zuwanderung von Kleingruppen über einen längeren Zeitraum gehandelt haben.231 Von einer rein dorischen Kultur kann jedoch nicht gesprochen werden. Es

auch von Königen regiert werden, bleiben nicht ausgeschlossen, weil sich das Herrschergeschlecht der Aiakiden auf den Urahn Neoptolemos berufen, den Sohn des Achilleus. Dazu Lehmann 1997, 371.

225 s. vor allem Hdt. 4, 156-158. 161; Schol. Pind. P 4, 10a. = FGrHist 270 F 6 (Menekles von Barka).

226 s. zur Gliederung der Phylen und einigen Modifizierungen Jones 1980, 197-215.

227 Zum Folgenden Lehmann 1997, 366.367; 2011a, 83-84; 2011b, 156-157.

228 Das Zitat bei Lehmann 2011b, 156. Gemäß der mythischen Überlieferungen versuchen die Hylleer eine nachträglich über den Urkönig Aigimios Machtansprüche zu äußern. Die Dynamen aus der westlichen Lokris hätten sich den Doriern mitangeschlossen und ihnen die Peloponnes erobert, während eine Minderheit in der Lokris verblieb. Dazu Lehmann 2011b, 138. 156-157.

229 So skizziert Lehmann 2011b, 157 Anm. 139.

230 Siehe dazu Hall 2002, 75-76. 78-79 mit Literatur. Die Quellen, die über die Wanderung berichten, stammen aus sehr unterschiedlichen Zeitperioden und geben nicht zwangsläufig historische Ereignisse wieder.

231 Welwei 2011, 7-8. Bisher wurden keine Spuren des dorischen Dialekts in mykenischen Dokumenten gefunden.

Lehmann 2009, 13 vermutet einen Zug der Dorier nach Kreta und in die Dodekannes im 10/9. Jh. v. Chr.

existieren keine exklusiv dorischen kollektiven Praktiken, die alle Individuen, die sich dem

„Doriertum“ verbunden fühlen, regelmäßig kommunizieren und praktizieren. Unter den Doriern existiert auch keine politische Einheit oder ein homogener dorischer Dialekt, gleichfalls gibt es keine exklusiven Zusammenkünfte von Führern aller dorischen Staaten.

Obwohl die Dorier durch eng aufeinander bezogene Dialekte, ähnliche Institutionen, Monatsnamen und Feste miteinander verbunden sind, liegen beispielsweise die mächtigsten dorischen Staaten auf der Peloponnes, Argos und Sparta, ständig miteinander in Konflikt. Zum ersten Mal erwähnt werden die Dorier in der Odyssee (19, 172-177):232

Die Erwähnung der kretischen Dorier als eine Gemeinschaft unter vielen widerspricht den späteren mythischen Darstellungen hinsichtlich ihrer Migration auf die Peloponnes. In den homerischen Epen finden sich ferner keine Belege für die Sage von der Rückkehr der Herakliden auf die Peloponnes. Merkwürdig mutet in der Ilias auch die Abwesenheit der Dorier und der Landschaft Doris im Schiffskatalog an. Laut P. Vannicelli existieren aber Anspielungen auf die Dorier, die streng genommen jedoch nicht im homerischen Schiffskatalog erscheinen dürfen, weil der Katalog seiner Meinung nach die mykenische Epoche schildere, in der die Dorier nicht präsent sind. Die erste Anspielung ist die dreifach geordnete Einteilung der Insel Rhodos (Hom. Il. 668: τριχθὰ δὲ ᾤκηθεν καταφυλαδόν), die auf die Einteilung der Dorier in drei φυλαὶ hinweisen soll.233 Die zweite Anspielung betrifft Tlepolemos, den Sohn des Herakles. Er nimmt am ersten Zug der Herakliden teil, wird als einziger Heraklide in Argos aufgenommen (Diod. 4, 57, 3 - 4, 58, 5) und gründet auf Rhodos (Abb. 1) die Städte Lindos, Ialyssos und die weiße Kameiros.234 Die früheste Erwähnung der Dorier auf der Peloponnes findet sich erst Mitte des 7. Jh. v. Chr. in einem Fragment des Elegiendichters Tyrtaios (Tyrt. fr. 2 D/W). Er dichtet im dorischen Dialekt über die Rückkehr der Herakliden, welche den Ort Erineos in der Doris verlassen, um sich auf der Peloponnes anzusiedeln:235

Strittig ist die genaue Bedeutung von ἀφικόμεθα (wir kamen an). Entweder sind mit der Schaar, die mit den Nachfahren Herakles zieht, die Lakedaimonier/Spartaner gemeint oder die Dorier. Hätte Tyrtaios die Lakedaimonier/Spartaner im Sinn, wären seine Verse als Legitimierung der spartanischen Ansprüche auf die Peloponnes zu werten.236 Zur Peloponnes

232 Übers. A. Weiher.

233 Vannicelli 1989, 34-48, bes. 35. Hingegen sei laut Ulf 1996, 252 καταφυλαδόν „keineswegs zwingend mit einer politisch-sozialen Organisation der Phylen in Zusammenhang zu bringen.“ Ebenso ließe sich Δωριέες τριχάϊκες entweder mit „wehendem Haupthaar“ oder „dreigeteilt“ übersetzen. Kritik an den überlieferten üben vor allem Prinz 1979, 293; Malkin 1994, 38-43; Ulf 1996, 252-264; Hall 1997, 59-62 aus.

234 Hom. Il. 2, 655-656. 668-669. Dazu Paus. 3, 19, 10; Apollod. 2, 8, 2; Diod. 5, 59, 5.

235 Übers. Z. Franyo.

236 Ulf 1996, 257. Wie Ulf betont, verbindet Tyrtaios an keiner Stelle die Lakedaimonier/Spartaner mit den Κρήτη τις γαῖ' ἔστι μέσῳ ἐνὶ οἴνοπι πόντῳ,

καλὴ καὶ πίειρα, περίῤῥυτος· ἐν δ' ἄνθρωποι πολλοὶ ἀπειρέσιοι, καὶ ἐννήκοντα πόληες· - ἄλλη δ' ἄλλων γλῶσσα μεμιγμένη· ἐν μὲν Ἀχαιοί, ἐν δ' Ἐτεόκρητες μεγαλήτορες, ἐν δὲ Κύδωνες Δωριέες τε τριχάϊκες δῖοί τε Πελασγοί·

„Kreta ist ein Land inmitten des weinroten Meeres, schön und ertragreich und wellen-umflutet; es leben dort Menschen viele, ja grenzenlos viele in neunzig Städten, doch jede spricht eine andere Sprache. Es ist ein Gemisch; denn Achaier finden sich dort und hochbeherzte Eteokreter, Dorier mit fliegenden Haaren, Kydonen und hehre Pelasger.“

αὐτὸς γὰρ Κρονίων, καλλιστεφάνου πόσις / Ἥρης Ζεὺς Ἠρακλείδαις ἄστυ δέδωκε τόδε·

/ οἷσιν ἅμα προλιπόντες Ἐρινεὸν ἠνεμόεντα / εὐρεῖαν Πέλοποςνῆσον ἀφικόμεθα.

„Zeus war es selbst, der Kronide, der Gatte der kränzegeschmückten Hera, welcher die Stadt euch, Herakliden, geschenkt; als wir zusammen das windige Erineos verließen und auf der breiten Pelopsinsel ankamen.“

gehört auch die Landschaft Messenien im Südwesten der Peloponnes, gegen die die Spartaner zu Tyrtaios Lebzeiten zum zweiten Mal Krieg führen. C. Ulf vertritt in seiner Untersuchung zur Ethnogenese griechischer Identitäten daher die These einer „Dorianisierung“ der Herakliden-Sage im 6. Jh. v. Chr. als Reaktion auf die Bemühungen der Athener, aus ihrer konstruierten ionischen Identität politisches Kapital zu generieren. Laut Ulf orientieren sich die Spartaner bis in die spätarchaische Zeit hinein an den in den Epen geschilderten Mythen.

Sie bemühen sich daher an die Gebeine des Orestes zu gelangen, die in Tegea liegen (Hdt. 1, 67-68), sowie an die Gebeine seines Sohnes Teisamenos (Paus. 7, 1, 8).237 Erst in der zweiten Hälfte des 6. Jh. v. Chr. forcieren die Spartaner die Herakliden-Sage aus politischen Gründen.238 In diesem Zeitraum sind die meisten Poleis in der Kyrenaika bereits gegründet und alle fruchtbaren Plateaus eingenommen.

Aus derselben Zeit stammt ein weiteres Fragment aus dem Katalog der Frauen (M/W 10a, Z. 5-6). Es berichtet über Aigimios, den Sohn des Doros. In der Antike begründet man mittels dieses Mythos die Phylenordnung der peloponnesischen Dorier: „Und der mächtige speerberühmte König Aigimios / zeugte in seinen Hallen Dymas und Pamphylos […].“ Das Fragment nennt Aigimios, den mythischen Stammvater, Urkönig und Gesetzgeber der Dorier.

Seine Söhne Dymanes und Pamphylos werden von den Dichtern mit ihrem hier nicht genannten Bruder Hyllos zu den mythischen Stammvätern der drei dorischen φυλαὶ Hylleer, Dynames und Pamphyloi gemacht.239 Hall meint in diesen verfassten Genealogien die Ergebnisse aggregativer Prozesse der archaischen Epoche zu erkennen, in denen Eliten mittels Verknüpfungen von mythischen Stammvätern alle Griechen zu einem großen pankollektiven Dachverband zusammenführen wollen. Die Eponyme-Heroen wären so erst im Laufe des 6.

Jh. v. Chr. unter dem Stammvater Hellen subsumiert worden.

Die erste explizite Erwähnung der Spartaner als Dorier finde sich laut Ulf erst in den Oden Pindars (P. 1, V. 61-66; 5, V. 69-72) im frühen 5. Jh. v. Chr. Die Oden seien ebenfalls als Reaktion auf die politischen Verhältnisse zu verstehen, weil man noch im 5. Jh. v. Chr. die Landschaft Doris, die angebliche Heimat der Dorier, keiner bestimmten Region zuordnen könne.240 Zum einen verbindet nämlich Herodot mit der Doris die Metropolis der Dorier auf der Peloponnes (Hdt. 8, 31), zum anderen mit dem Herkunftsgebiet der Hermionen.

Thukydides hingegen nennt die Doris zweimal die Metropolis der Lakedaimonier (Thuk. 1, 107, 2; 3, 92, 3). Er bleibt jedoch der einzige Verfasser, der die Doris mit den Lakedaimoniern unmissverständlich in Verbindung bringt. Deshalb wertet Ulf die Doris als ein Konstrukt spartanischer Propaganda.241 Denn nachdem die Spartaner ihre Dominanz auf der Peloponnes durchsetzen, konkurrieren sie nun mit den Athenern und ihrer attisch-ionischen Propaganda.

Den athenischen Bemühungen setzten die Spartaner wiederum eigene Mythen entgegen. Und bereits einige Jahrzehnte später machen Verfasser – bedingt durch veränderte politische Verhältnisse und Bedürfnisse – nur noch ungenaue Angaben über die Doris. Augenscheinlich hatte das Konstrukt seine Funktion inzwischen eingebüßt. 242 Nichtsdestoweniger

Doriern. Malkin 1994, 3 zufolge muss es sich bei der Gruppe um „Dorian Spartans“ handeln.

237 Mit den Gebeinen des Orestes besitzen die Spartaner Reliquien, durch die sie ihrer Meinung nach befugt sind, die Peloponnes zu dominieren. Zur Lokalisierung der Gebeine Huxley 1979, 145-148.

238 Ulf 1996, 259-264. Zustimmend Eder 1996, Sp. 788, die die Sage als ein Instrument der Legitimierung bestehender Siedlungs- und Machtverhältnisse in der Peloponnes auffasst und an die Historizität der dorischen Wanderung glaubt.

239 Tyrtaios erwähnt in einem anderen Fragment (19/ W; Z. 7-10) die φυλαὶ der Pamphylier, Hylleer und Dynamen.

240 Ulf 1996, 258. Ulf vermutet, dass Dryopis der ältere Name der Doris gewesen ist. Laut Herodot (8, 43) hätten sich hier die Dryopen nach ihrer Vertreibung durch die Herakliden und Maliern zurückgezogen.

241 Ulf 1996, 275-276. Dagegen meint Hall, 2002, 85-89, dass das Tyrtaios-Fragment (fr. 2 D/W) nicht Versionen aus späterer Zeit widerspricht. Wenn diese Tradition erfunden sei, wäre es nach Hall sogar möglich, dass der Landschaftsname Doris seinen Namen durch die Dorier erhält und nicht umgekehrt.

242 Ulf 1996, 263. Selbst Strabon nennt die Doris nicht. Dagegen meint Hall, 2002, 85-89 dass das Fragment nicht Versionen aus späterer Zeit widerspricht. Wenn diese Tradition erfunden wird, wäre es nach Hall sogar möglich, dass der Landschaftsname Doris seinen Namen durch die Dorier erhält und nicht umgekehrt. Unterdessen spitzt sich im 6. Jh. v. Chr. auch die Dorier-Ionier-Antithese weiter zu und führt zwangsläufig zur Identifikation der Athener mit den Nachfahren der Ionier, die einst von den Doriern vertrieben worden sind. Zu dieser Antithese Ulf

argumentieren in der klassischen Epoche zahlreiche Orte wie Thera, Melos, Knidos, Kytheria, Gortyn, Kroton und Lokroi, in früheren Jahrhunderten von den Nachfahren Herakles' besiedelt worden zu sein. Auch die Kyrener sind überzeugt, mit den Spartanern verwandt zu sein. In den Geschichten, die sie Herodot erzählen (Hdt. 4, 147-158), wird ihre Metropolis (Thera) von den Lakedaimoniern besiedelt. Kyrene wiederum wird ihrer Ansicht nach von einer Gruppe aus jungen Theraiern besiedelt, die aus einer überschaubaren Polisgemeinschaft stammt. Aus jeder Familie mit mehr als einem Sohn wird ein Siedler ausgelost. Selbst wenn die Brüder ihr Bewusstsein, zu den Hellenen oder Doriern zu gehören, nicht gänzlich ausfüllt, existiert zumindest ein konkretes Bewusstsein, aus einer Polis mit einer dorischen Phylenordnung zu stammen.

4. Zusammenfassung

Den Quellen zufolge existiert im 8. Jh. v. Chr. während der großen griechischen Kolonisation ein schwach ausgeprägtes kollektives Bewusstsein, der großen pankollektiven Formation der Griechen anzugehören. Das Kollektivbewusstsein der Griechen entwickelt sich im Verlauf der archaischen Epoche weiter und ist noch am Ende des 7. Jh. v. Chr. nicht stark ausgeprägt, als Ἑλλάς zum ersten Mal ganz Griechenland bezeichnet. Die Dichter der homerischen Epen gehen von der Annahme aus, dass bestimmte Verbindungen zwischen den Bewohnern Griechenlands existierten.243 Die in den Epen enthaltenen Kollektivnamen tragen aber nur bedingt zur Verbreitung subjektiv empfundener Gemeinsamkeiten bei, da es sich bei ihnen um Fremdzuweisungen an Heere aus einer mythisch-heroischen Zeit handelt. Entscheidender sind die Fremd- und Selbstbezeichnungen in den von den Griechen besiedelten Gebieten, in denen sie fremden Völkern begegnen. Diese Vorstellung, einer pankollektiven Gemeinschaft anzugehören, rückt schon in den Vordergrund, bevor die Siedlungen in der Kyrenaika gegründet werden.

Von größerer Bedeutung sind die Belege einer bewussten Erweiterung mutmaßlicher Verwandtschaftsbeziehungen durch die Verknüpfung mythischer Stammväter. Die geglaubte gemeinsame Abstammung stimmt am Ende zwar nicht mit der Realität überein, schafft aber für die Mitglieder ein positives Zusammengehörigkeitsgefühl, das ein stabiles Kollektivbewusstsein nach sich zieht. Diese Vorstellung endet jedoch nicht mit einer kulturellen Homogenität oder einer politischen Einheit, da mit den Genealogien und anderen Ideologien bewusst politische, soziale und territoriale Ansprüche formuliert werden. Demnach sind Äußerungen zu Identitätsfragen seit der archaischen Epoche für die Integration zahlreicher Gemeinschaften und für die Durchsetzung von hegemonialen Ansprüchen ein wichtiger Faktor.

Aufgrund der eingesetzten Mittel, mit denen politische, soziale und territoriale Ansprüche formuliert werden, verdienen die Dichter und Rhetoren die gleiche Aufmerksamkeit wie die von ihnen dargestellten Kollektive. Durch ihre verfassten Epen, Gedichte, Vorträge, Schöpfungen und Verformungen von Mythen stiften sie Exklusion und Inklusion. Die von ihnen gestalteten Genealogien und Mythen knüpfen dabei an das vorhandene Wissen der Bevölkerung an, sodass überlieferte Traditionen nicht zwangsläufig als bloße Erfindungen anzusehen sind. Vielmehr existieren alte und neue Traditionen nebeneinander. Mögen die Siedler in der Kyrenaika über das Bewusstsein verfügen, Griechen zu sein und dem Stamm der Dorier anzugehören, lässt sich ihre Identität aufgrund der herrschenden Multikollektivität aber nicht auf die Vorstellung einer Person mit einer einzigen Identität reduzieren. Letztendlich sollte man die Volkszugehörigkeit als einen Faktor unter vielen ansehen, der zur Entstehung einer größeren Gemeinschaft beitragen kann.

1996, 261-262; Hall 1997, 51-65. Noch im 5. Jh. v. Chr. ist beispielsweise bei Thukydides (3, 86, 3; 4, 61, 2-4; 6, 6, 1; 6, 20, 3; 6, 80, 3) die Antithese Dorier-Ionier auf Sizilien klar zu fassen.

243 Die Dichter schaffen sich für ihre Epen eine im Altertum nie gesprochene Kunstsprache. Vgl. die Forschungsgeschichte bei Heubeck 1981, 65-80; Meier-Brügger 2003, 232-244. Sie betonen, dass die Sprache der Epen weder eine Umgangssprache, noch ein Dialekt ist. Im Text finden sich Archaismen, archaisierende Formen und Neologismen, die keiner Sprachentwicklung entstammen.