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Κυραναῖοι und Λίβυες: Kollektivbezeichnungen

E. Homogenisierung durch Kommunikation und Institutionen

2. Κυραναῖοι und Λίβυες: Kollektivbezeichnungen

Dieses Kapitel behandelt die in den antiken Quellen belegten Begriffe Λιβύη, Λίβυες, Κυρεναία sowie Κυραναῖοι und beleuchtet den Sinngehalt dieser Termini. Wie bereits gesagt, können Kollektivnamen die Existenz bestimmter Gruppen suggerieren. Die älteste griechische Quelle (Hom. Od. 4, 85-89) nennt zunächst nur das Toponym „Libyen“ und gibt keine Hinweise auf die Einwohner der Region. Der Ursprung des Toponyms gilt bereits in der Antike als Rätsel:315

In diesen Versen, die drei Generationen vor den Siedlungsgründungen entstehen, weisen die Dichter ihr Publikum auf eine fruchtbare Region mit einer bemerkenswerten Flora und Fauna hin. Über die Herkunft dieser Informationen ist nichts bekannt. Entweder liegen dieser Beschreibung Erinnerungen an frühere Kontakte zugrunde316 oder sie generiert in der Zeit der

312 Dobias-Lalou 1994a, 250 belegt diese These mit dem Namen Ἡρακλείδας, Sohn des Ἡρακλείδα, der außer der Kyrenaika (SB 1, 5926, Z. 2) noch in Ägypten (Vgl. SGDI 2 Nr. 1740, Z. 6; P. Mil. 1, 2 21, Z. 1; P. Oxy. 2, 271, Z. 3; P. Hamb. 1, 33, Col. 3 Z. 27), aber äußerst selten in Griechenland anzutreffen ist.

313 s. zum Dialekt in Euhesperides die Ehreninschrift S.E.G. 18, 772. Dazu Fraser 1951, 133 mit Erläuterungen.

314 Diese Unterscheidung betont Dobias-Lalou 1994a, 246.

315 Übers. A. Weiher. Vgl. auch die Quellen im Überblick auf S. 10.

316 Bezüglich der libyschen Substrate und der wechselseitigen Beeinflussungen gibt es aufgrund unzureichender Kenntnisse über die antiken libyschen Sprachen keine gänzlich befriedigende Lösung. Es existieren zwei Deutungen für bestimmte Funde. Zum einen lassen sich Ähnlichkeiten mit heutigen Berbersprachen feststellen,

καὶ Λιβύην, ἵνα τ' ἄρνες ἄφαρ κεραοὶ τελέθουσι.

τρὶς γὰρ τίκτει μῆλα τελεσφόρον εἰς ἐνιαυτόν·

ἔνθα μὲν οὔτε ἄναξ ἐπιδευὴς οὔτε τι ποιμὴν τυροῦ καὶ κρειῶν οὐδὲ γλυκεροῖο γάλακτος, ἀλλ' αἰεὶ παρέχουσιν ἐπηετανὸν γάλα θῆσθαι.

„Libyen sah ich: dort werden die Böcke mit Hörnern geboren; / Dreimal wirft in der Zeit eines einzigen Jahres das Kleinvieh. / Keinen gibt es, der Mangel dort hätte, kein Herrscher, kein Hirte; / stets gibt Milch, als wärs für ein Jahr, beim Melken das Kleinvieh.“

sogenannten großen griechischen Kolonisation ein bestimmtes Wunschbild. Libyen bleibt bis zur zweiten Hälfte des 7. Jh. v. Chr. eine mythologisch verklärte Region.317 Aber auch in den folgenden Jahrhunderten sind die Äußerungen antiker Texte zum Toponym

„Libyen“ widersprüchlich, selbst die heutige Forschung besitzt keine allgemeingültige Definition. Jüngst untersuchten K. Zimmermann und C. Dobias-Lalou die Aussagen antiker Quellen. Die Mehrzahl der Verfasser stammt nicht aus der Kyrenaika und hat die Region, wenn überhaupt, nur kurz besucht. Die antiken Autoren fassen Libyen vor allem als „Teil der Erde“ auf (ἤπειρος / μέρος / μόριον), untersuchen topographische Grenzen und bemühen sich um die Einordnung Libyens in zeitgenössische Diskurse.318 Zimmermann kommt nach einer intensiven Quellendiskussion zu einem negativen Urteil. Es existiere keine „allgemein anerkannte Definition“, Libyen sei im Altertum kein einheitlicher Begriff. Die Region werde vor allem als Pendant zu Europa und Asien als Erdhälfte oder kleine Region positioniert.319 Als einer der Ersten umschreibt Pindar die Kyrenaika als die dritte Wurzel der Welt (P. 9. V.

7: ίζα ἀπείρου τρίτη) in seiner Ode an den siegreichen Telesikrates.320 Bei Pindar und Herodot erscheint „Libye“ auch zum ersten Mal als personifizierte Herrscherin. Nach Herodot sei Libyen nach der mythologischen Figur, der Libye benannt „wie viele Griechen meinen“ (Hdt.

4, 45, 3: λέγεται ὑπὸ τῶν πολλῶν Ἑλλήνων). Es sei zunächst der Name einer einheimischen Frau (γυναικὸς αὐτόχθονος) gewesen.321 Diese Stelle könnte ein Hinweis sein, dass auch die Bewohner der Kyrenaika bereits wenige Generationen nach den Siedlungsgründungen über das Toponym nur Vermutungen anstellen können.

Die Quellen aus der Kyrenaika selbst bezeichnen „Libyen“ lediglich als eine von Griechen besiedelte Region. Zimmermann zufolge verhindern jedoch kursierende Mythen, unter anderem die Personifikation der Region in einer mythischen Figur und Diskurse über die Beschaffenheit der Erde, eine konsequente Grenzziehung.322 In den ältesten Inschriften aus der Kyrenaika, in denen das Wort Libyen vorkommt, tritt die Region als Λεβύα in Erscheinung, zum Beispiel in der sogenannten lex sacra (S.E.G. 9, 72, Z. 3: τὰν Λεβύαν οἰκέν). Die Inschrift datiert in das erste Drittel des 4. Jh. v. Chr. und beinhaltet kultische Verfügungen.323 In diesem Zeitraum ist i ist so offen wie das lateinische und wird von den Bewohnern der Kyrenaika mit ε wiedergegeben.324 Der Einfluss der Libyer ist nicht zwingend.325 Die

um etwa Anthroponyme oder Ortsnamen zu untersuchen. Zum anderen erklärt man Unvereinbarkeiten mit Vermischungen. Die These hinsichtlich libyscher Substrate muss jedoch hypothetisch bleiben. Dobias-Lalou, 1987a, 91 vermutet einen libyschen Ursprung in den Ortsnamen Αζιρις, Βαρκα, Ιρασα und Ταυχειρα.

317 Dies spiegelt auch die Unkenntnis der Theraier über die Region bei Herodot (4, 150, 4; 151, 2-3) wieder.

318 Zimmermann 1999, 23-97. Die gleiche Meinung vertritt Dobias-Lalou 2000, 257-261.

319 Zimmermann 1999, 132-133. Ähnlich urteilt Malkin 1994, 169: „In Cyrenaican terms Libya meant something like neither Carthage nor Egypt, but the area between the two. It was apparently conceived of not as a well-defined territory, but as a region with open frontiers.“

320 Die Vorstellung, die dritte Wurzel zu verkörpern, ist noch in der zweiten Hälfte 2. Jh. n. Chr. vorhanden. Ein gewisser Karpos weiht als Dank für die ihm zu Teil gewordene Gastfreundschaft ein Relief. Das Relief zeigt eine von Libye bekränzte Kyrene, die einen Löwen bezwingt. Das Epigramm (S.E.G. 37, 1675) darunter lautet:

„Karpos weiht (dieses Relief), weil er sich der großen Gastfreundschaft (der Kyrener) rühmt und platziert über dem Architraven Kyrene, die Mutter vieler Poleis und Löwentöterin, bekränzt durch Libya selbst, welche die Ehre hat der dritte Kontinent zu sein.“

321 Pind. P. 9. V. 56: „Nun wird Libya, die Herrscherin über ausgedehnte Fluren, die berühmte junge Frau, freudig im goldenen Palast empfangen […].“ Vgl. Pind. P. 9, V. 69: „Im goldreichen Zimmer Libyas vereinigten sie sich.“ Neben der Nymphe Kyrene und Apollon tritt Libye als Lokalgottheit noch im 2. Jh. n. Chr. auf. s.

Zimmermann 1999, 141 Αnm. 576 mit Belegen. Zur Ikonographie der Gottheit Libya Catani 1987, 385-401.

322 Zimmermann 1999, 142. Diesbezüglich merkt Zimmermann an, dass die im Diagramma genannten Grenzorte, Katabathmos Megas und Automalax, auf keine rechtlich fixierten Grenzen hindeuten. Dem wäre hinzuzufügen, dass ausgerechnet die einzige Quelle, in der zwei Orte die Grenze der Kyrenaika markieren, ihre Existenz makedonischen Beamten verdankt.

323 Ferner begegnet diese Variante in einem Ehrengedicht 20, 716 in Z. 33 ([Λ]εβύστρα[το-]), in einem nicht publiziertem Fragment bei Dobias-Lalou 1987a, 98 (Λ]έβυς/Λ]εβυς[---) und bei Ibykos fr. 334 Page (Λεβυαφιγενής).

324 Kretschmer 1930, 211-212; 1937-38, 57-58.

325 Dobias-Lalou 1987a, 88 führt das Schwanken zwischen Λεβύα/Λιβύα auf den „d’origine indigène“ des Wortes zurück. Später sei das aus dem Libyschen stammende Λεβύα gewichen und durch das griechische Λιβύα neutralisiert worden. Für Zimmermann 1996, 352-353 Anm. 16 ist die Abweichung eine „Sonderform des

Abweichung in der Vokalisierung entfaltet jedoch nicht die erforderliche Virulenz und setzt sich nicht durch. Bereits in einer weiteren bedeutenden Inschrift aus dem ersten Drittel des 4.

Jh. v. Chr., dem sogenannte Siedlereid, wird die Region viermal Λιβύη genannt.326 Im selben Zeitraum widmet der aus „Libyen“ verbannte Aristippos von Kyrene dem Tyrannen von Syrakus Dionysios I. eine dreibändige „Geschichte Libyens.“327 Einige Verfasser grenzen in ihren Werken Kyrene von Libyen ab, wie der hellenistische Autor Akesandros, der seine Darstellung in Περὶ Κυρήνης und Περὶ Λιβύης unterteilt.328 Andere Quellen hingegen setzen

„Libyen“ mit Kyrene beziehungsweise der Kyrenaika gleich. So dichtet Kallimachos von Kyrene in seinem Apollonhymnos (V. 65-68) über die Besiedlung Libyens.329 Wie zwei Scholien belegen, behandeln zwei weitere hellenistische Verfasser aus Kyrene, Theochrestos und Agroitas, die Gründung von Kyrene als zentrales Ereignis in der Geschichte der Kyrenaika.330 Und im 2. Jh. v. Chr. schildert Menekles von Barka, dessen Werke nur in wenigen Fragmenten erhalten sind, in seinen λιβυκαὶ ἱστορίαι in Wahrheit die Gründung Kyrenes und die spätere Geschichte der Stadt. Dabei nimmt Menekles eine kritische Position gegenüber den überlieferten Traditionen ein.

Außenstehende betrachten „Libyen“ auch im staatrechtlichen Sinne. Zu erkennen ist diese Auffassung in der Terminologie der Ptolemäer, die die Kyrenaika ab 323 v. Chr.

beherrschen.331 Im sogenannten „Diagramma“, einer von Ptolemaios I. der kyrenischen Bürgerschaft aufgezwungenen Verfassung, steht Libyen für die von Ptolemaios und seinen Truppen kontrollierte Region. Erwähnt wird dort ein „nicht-libyscher Krieg.“ Libyen ist die von den Griechen bewohnte Region, der Krieg zielt auf die Konflikte mit den libyschen Stämmen aus der Peripherie ab.332 Die Bevollmächtigten der Ptolemäer tragen den Titel eines Λιβυάρχης oder einer στρατηγὸς τῶν τόπων τῶν κατὰ Λιβύην, wie L. Moretti in einem Ehrendekret (S.E.G. 39, 1718) ergänzt. 333 Ferner erblickt Moretti in einer weiteren Ehreninschrift aus Ptolemais (S.E.G. 9, 359), datiert in das späte 2. Jh. oder frühe 1. Jh. v.

Chr., einen στρατηγὸς. Der Zuständigkeitsbereich des Beamten erstrecke sich nicht wie bisher angenommen, über Kyrene, sondern über Libyen.334 Die Funktion des Λεβύστρατος ist nicht eindeutig ergründet. Laut Zimmermann weist der Beamtenname nicht unweigerlich auf Konflikte mit den Stämmen hin, nach Dobias-Lalou sei der Λεβύστρατος ein Münzmeister.335

kyrenaischen Dialekts.“

326 s. S.E.G. 9, 3 Z. 26; 32; 43; 50.

327 Die Nachricht ist bei Diog. Laert. 2, 83 (= FGrHist 759 T 1) enthalten: Τοῦ δὲ Κυρηναϊκοῦ φιλοσόφου φέρεται βιβλία τρία μὲν ἱστορίας τῶν κατὰ Λιβύην, ἀπεσταλμένα Διονυσίῳ. Zu seiner Person Zimmermann 1999, 138.

328 FGrHist 469 F 3 (= Schol. Apoll. Rhod. 4, 1561c Wendel): Ἀκέσανδρος δὲ ἐν Περὶ Κυρήνης μετ’ αὐτον (sc.

Εὐρύπυλον) βασιλεῦσαί φησι Λιβύης Κυρήνην τὴν Ὑψέως; F 4 (= Schol. Apoll. Rhod. 2, 498-527a Wendel):

Ἀκέσανδρος δὲ ἐν τοῖς Περὶ Κυρήνης ἱστορεῖ, ἐπ’ Εὐρυπύλου βασιλεύοντος ἐν Λιβύῃ ὡς ὑπὸ Ἀπολλωνος διακομισθείη ἡ Κυρήνη […]. Die Lebenszeit Akesandros ist umstritten s. Zimmermann 1999, 139 mit Anm. 560.

329 Kall. h. Apoll. 65-75: „Phoibos auch wies meine Heimatstadt, die tieferdige, dem Battos, und er führte in Rabengestalt die Schar, als sie Libyen betreten hatte, glückverheißend dem Gründer.“ Übers. M. Asper. Der Hymnus wird in der Forschung als Lobpreisung an die Ptolemäer gewertet. s. dazu Laronde 1987, 362.

330 FGrHist 761 F 1 (= Schol. Apoll. Rhod. 4, 1750-1757 Wendel): Εὄφημος ᾤικει τὴν Λακωνικὴν παρὰ τὸν αἰγιαλόν. εἷς δέ τις αὐτοῦ τῶν ἀπογόνων Σάμος ᾤκησεν Θήραν, οὗ ἀπόγονος γέγονεν Ἀριστοτέλης, ὃς τῆς περὶ Κυρήνην ἀποικίας ἡγήσατο. FGrHist 469 F 5a: ἱστορεῖται ταῦτα παρὰ παρὰ Θεοχρήστωι ἐν ᾱ Λιβυκῶν καὶ παρὰ Ἀκεσάνδρῳ ἐν ᾱ περὶ Κυρήνης. FGrHist 762 F 1 (= Schol. Apoll. Rhod. 2, 498-527a Wendel): Ἀγροίτας δὲ ἐν ᾱ Λιβυκῶν ὑπὸ Ἀπόλλωνος εἰς Κρήτην αὐτὴν (= Κυρήνην) κομισθῆναι, ἐκεῖθεν εἰς Λιβύην.

331 s. zur Annexion der Kyrenaika in das Ptolemäerreich den Überblick auf S. 14-16.

332 Im Falle eines nicht-libyschen Krieges ist die Neuwahl des Strategenkollegiums möglich (S.E.G. 9, 1 Z. 28-31).

333 Moretti 1989, 240. Polybios (15, 25, 12) erwähnt einen Λιβυάρχης τῶν κατὰ Κυρήνην τόπων. Die Inschrift S.E.G. 39, 1718 ist stark fragmentiert. Das 1919 auf der Agora gefundene Ehrendekret auf einer Statuenbasis datiert in das Jahr 108 v. Chr. Das Dekret ehrt Ptolemaios IX Soter II. seine Frau Kleopatra Selene und ihren Sohn Ptolemaios: [Βασιλέα Πτολεμαῖον κ]αὶ βασίλισσαν Κλεοπ[άτραν τὴν ἀδελφὴν Θε|λοὺς Σωτῆρας καὶ τὸν υἱ]ὸν αὐτον Πτολεμαῖον [---] | [---] | [---κ]ατὰ Λιβύην αἵ τε π[---] | [ἀρετῆς ἕνεκα κ]αὶ εὐεργεσίας τ[ῆς εἰς αὑτοὺς ἀνέθηκαν].

334 Moretti 1989, 240. Die in Ptolemais gefundene Inschrift S.E.G. 9, 359 ist ebenfalls stark fragmentiert: [Τὸν δεῖνα τοῦ --]νους Κυρηναῖον, | [-- σ]τρατηγὸν τῶν κατὰ | [--]ν Ἵππις Ἵππιος τῶν | [-- θε]οῖς [π]ᾶσιν ἀνέθηκεν.

335 Dobias-Lalou 2000, 261; Zimmermann 1996, 353; 1999, 141 Anm. 576.

Insgesamt besitzen die antiken Verfasser keine homogene Vorstellung von Libyen, daher ist auch Libyen nicht unweigerlich mit dem Land der Libyer gleichzusetzten.

Wie das Toponym ist auch der Kollektivname „Libyer“ mit unterschiedlichen Bedeutungen konnotiert. Wie bereits gesagt, müssen Kollektivnamen nicht zwangsläufig als Ethnika in Erscheinung treten und auch die „Libyer“ sind in der Antike kein kulturell homogenes „Volk“.

Schon die Ägypter verbinden mit den „Libyern“ eine Reihe von Stämmen (Tjemehu, Tjehenu, Mešweš, Rbw). Der Name Libu begegnet in den Hieroglyphentexten als lbw oder rbw.336 Der Name rbw entstammt einer Berbersprache, dessen Laut mit dem griechischen Wortstamm λιβυ-/λεβυ übereinstimmt.337 Die rbw lokalisiert man in der Kyrenaika oder der Marmarike.338 Für eine (ursprüngliche) Lokalisierung der Libu in relativer Küstennähe zeugen die Berichte über die großen Invasionen des 13. und 12. Jh. v. Chr. Wenn die Libu während der Regierung des Merenptah (1213-1204 v. Chr.) zusammen mit den Seevölkern in das Nildelta eindringen, müssen sie bereits untereinander in Kontakt stehen. Diese Geschehnisse spielen sich dann nicht unweit der Küsten ab.339 In der sogenannten dritten Zwischenzeit (ca. 1075-664 v. Chr.) herrschen libysche Kriegerverbände und adelige Familien über Ägypten. Spuren finden sich vor allem in den fremd klingenden Herrschernamen und einigen Siedlungen im Delta.340 Herodot (2, 18, 2) überliefert die Information, dass sich die Bewohner einiger Ortschaften im westlichen Ägypten als Libyer betrachten und einige der ägyptischen Sitten abstreifen wollen.

O. Bates vermutete in den rbw ein Kollektiv aus einer Reihe von Stämmen, das andere weit an Größe überrage. Aufgrund der Größe und Wichtigkeit hätten die Griechen den Namen übernommen und alle anderen Stämme gleichfalls unter die rbw subsumiert. Letztlich lassen sich die rbw aber nicht eindeutig in der Kyrenaika lokalisieren.341 Für die Griechen in der Kyrenaika sind die Λίβυες zunächst die umwohnenden Stämme in unmittelbarer Nachbarschaft, sie differenzieren in der Zeit der Siedlungsgründungen nicht zwischen einzelnen Stämmen. Darum spricht Herodot (4, 158, 3) schlicht von Libyern und erwähnt nicht Stammesnamen, welche die Siedler zu ihrer Heimstätte führen und gegen die man im 6.

Jh. v. Chr. Kriege um das Land führt. Erst nach diesen Auseinandersetzungen, die sicherlich mit der Gewinnung von Informationen über den Feind verbunden sind, unterscheiden die Siedler Stämme voneinander.

Gleichfalls deuten Personennamen wie Λίβυς oder Λίβυσσα in griechischen Quellen nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Abstammungsgemeinschaft hin. Die Griechen außerhalb der Kyrenaika meinen mit den „Libyern“ die in der Kyrenaika lebenden oder zumindest aus der Region stammenden Griechen. Während in Dokumenten in Griechenland, auf den griechischen Inseln, Kleinasien, Sizilien und Süditalien sowie Ägypten Menschen die Namen Λίβυς / Λίβυσσα in allen Schichten auftreten, sucht man sie in der Kyrenaika vergebens.

Zimmermann begründet die frühe Verbreitung von Λίβυς / Λίβυσσα mit der zwiespältigen Vorstellung vieler Griechen über die Kyrenaika. In Griechenland gilt „Libyen“ einerseits als wohlhabende Region, andererseits als eine faszinierende terra incognita. Diese Vorstellung veranlasst einige Griechen zu dieser auffälligen Namensgebung. Ein Zusammenfallen von Namen und Abstammung sei daher nicht selbstverständlich.342

336 Zu einigen Inschriftentexten mit diesen Ethnonymen Lehmann 2011a, 79-80; 2011b, 142-143. 146.

337 Zu diesem Aspekt Zimmermann 1999, 8 mit Anm. 40-41.

338 Einige Forscher wie Bates 1914, 46 lokalisieren das Territorium der rbw im Hochland von Barke. Doch weist Zimmermann 1999, 14 zu Recht auf die nicht näher zu bestimmende Größe des Stammesverbandes hin. Auf den Tempelreliefs in Siwa sind mehrere lokale Führer durch ihre Trachten und Titel als Angehörige der Libu gekennzeichnet. s. dazu Osing 1984, Sp. 966.

339 Zimmermann 1999, 14, zitierend Osing 1980, Sp. 1022; Bates 1914, 51. s. auch Lehmann 2011b, 142 Anm.

100 mit Literatur zur Karnak-Inschrift.

340 Zu den Beziehungen zwischen Libyern und Ägyptern im Neuen Reich O’Connor 1990, 29-114. Gegen eine Ägyptisierung der Libyer während ihrer Herrschaft argumentiert Leahy 1985, 51-62.

341 Goodchild 1971, 15 zufolge sei der Name „Libyer“ vom Stamm der Lebu abgeleit, der nahe Ägypten lebt.

342 So Zimmermann 1996, 367. Die Regionen, in denen die männlichen und weiblichen Formen belegt sind, listet Zimmermann 1996, 354-364 auf. Insgesamt zählt Zimmermann 64 Fälle von Λίβυς / Λίβυσσα auf, von denen nur 8 eindeutig einen Bezug zur Kyrenaika aufweisen. Ebenso meint Lazzarini, 1987, 173: „Evidentemente nell’ambito del regno tolemaico l’etnico Λίβυς distingueva soltanto la provenienza geografica, senza riguardo per l’estrazione etnica.“

Dass Kollektivnamen nicht unweigerlich alle Individuen einer Region umfassen oder die Äußerung eines gemeinsamen Kollektivbewusstseins ausdrücken müssen, belegen auch die Erwähnungen von Κυράνα und den Κυραναῖοι. Zunächst sind mit Κυραναῖοι nur jene Menschen gemeint, die in der Polis Κυράνα in der Κυρεναία leben. Die älteste Erwähnung stammt aus dem ersten Viertel des 6. Jh. v. Chr. von einer Kalkplatte aus Olympia. Die Platte wird hinter dem Schatzhaus der Geloer gefunden und gehört zum Schatzhaus der Kyrener.343 Die Inschrift lautet: Ϙυρα[ναῖοι….ἀνέθεν]. Zum einen kann der Kollektivname in Delphi ein bereits bestehendes Kollektivbewusstsein der Bürgerschaft ausdrücken, zum anderen können die Stifter des Schatzhauses das Entstehen dieses Bewusstseins formen und verstärken.

In der klassischen Epoche kann Κυράνα/Κυρεναία die Polis selbst bezeichnen, das unmittelbare Territorium (vgl. S.E.G. 9, 3 passim) oder aber die gesamte Region, wie im Falle von geweihten Spolien ἐγ Κυράναι (S.E.G. 9, 76). Die Verwendung von „Kyrene“ als Gesamtname für die Region findet auch Eingang in die Terminologie des römischen Reiches und wird, mit Ausnahme einer vorübergehenden Zeitspanne unter Septimius Severus, bis zu den Verwaltungsreformen Diokletians beibehalten. Die Doppelprovinz trägt dann den Namen Κρήτη (καὶ) Κυρήνη beziehungsweise Creta (et) Cyrenae, wobei die Provinz im Lateinischen im Plural ausgeschrieben wird. 344 Die früheste Erwähnung der Region als Pentapolis findet sich bei Plinius (nat. 5, 31), die späteste in zwei Edikten Kaiser Anastasios I. zu Beginn des 6.

Jh. n. Chr. wieder (S.E.G. 9, 356 Z. 51; 414 Z. 1).345 Das Adjektiv κυρηναῖος wird wie ein besitzanzeigendes Adjektiv verwendet.346 In einigen Edikten Augustus' an die Kyrener (S.E.G.

9, 8 Z. 4, 46, 56, 64) wird das Adjektiv mit der Endung -ικός wie ein Possessiv gebraucht und bestimmt entweder ein Substantiv (ἡ Κυρηναικὴ ἐπαρχία) oder dient als Anfügung an eine Präposition.347 Der Terminus Κυρηναῖος besagt, dass der Träger das kyrenische Bürgerrecht besitzt, aber nicht unbedingt selbst aus der Kyrenaika stammen muss. Er kann auch ebenso das Kind eines Bürgers von Kyrene sein, der nicht in der Kyrenaika lebt. In keiner Weise gelten die Κυραναῖοι dabei als Volk. Hier wird deutlich, dass im Hinblick auf die Namen keine Bestrebungen existieren, eine klar definierte kollektive Identität der Κυραναῖοι oder ein entsprechendes Territorium zu propagieren.

Der Schluss liegt nahe, dass die Kollektivnamen „Libyer“ und Κυραναῖοι keine Abstammungsgemeinschaft implizieren müssen. Die Offenheit des seit dem Ende des 6. Jh. v.

Chr. bezeugten und über viele Jahrhunderte tradierten Kollektivnamens Κυραναῖοι spricht nicht für eine identitätsstiftende- und erhaltende Namensgebung. Das Vorkommen des Kollektivnamens spiegelt lediglich die politische Dominanz Kyrenes wieder, die im Hellenismus gebrochen wird. Die Offenheit des Kollektivnamens, der immer wieder in Inschriften verwendet wird, ermöglicht jedoch eine Integration von Individuen unterschiedlicher Herkunft und Abstammung in die Dachkollektive. Sie können, hypothetisch gesprochen, ihre Persönlichkeit partiell in das abstrakte Kollektiv der Κυραναῖοι einbringen, es entstehen Identität und Solidarität. Daraus resultiert ein Kollektivbewusstsein, das nicht in der Wirklichkeit der Kollektive gründen muss. Dann setzt der Kollektivname Energie frei und hält das wirklichkeitsschwache Kollektiv der Κυραναῖοι am Leben. Dabei verläuft die

343 SGDI 3 Nr. 4838; Paus. 6, 19, 10: „Neben <dem Schatzhaus> der Sybariten befindet sich das Schatzhaus der Kyrener.“

344 Zu sehen ist diese Bezeichnung unter anderem in einem Edikt Augustus' (S.E.G. 9, 8 Z. 38), in den Briefen Hadrians und Antoninus Pius an die kyrenische und barkaische Bürgerschaft (S.E.G. 28, 1566 Z. 72) und in einer Widmung an Marc Aurel und Lucius Verus (S.E.G. 9, 170 Z. 7). Gelegentlich wird in Inschriften Kyrene ματρόπολις/μετρόπολις genannt. Belege für das 2. Jh. n. Chr.: S.E.G. 9, 170 Z. 8; S.E.G. 17, 800 Z. 4; S.E.G. 18, 740 Z. 4. Für das 3. Jh. n. Chr. Reynolds in Ward-Perkins – Gibson 1976-1977, 374 Nr. 3 Z. 5.

345 In einer aus dem späten 2. Jh. n. Chr. stammenden Inschrift (S.E.G. 20, 727) wird die Region Ἑξάπολις genannt, doch fehlt eine Aufzählung, aus der man den Namen der sechsten Polis beziehen könnte. Nach Goodchild 1961, 85-86 hätte die Hexapolis Hadrianopolis (Abb. 2) mit eingeschlossen. Strab. 17, 3, 21 spricht lediglich von vier Poleis in der Peripherie gelegenen Kyrenes: „Nachbarstädte von Kyrene sind Apollonia, Barka, Taucheira, Berenike und die übrigen kleinen Ortschaften.“ Plinius nat. 5, 31 zählt dagegen folgende Orte auf:

Berenike, Arsinoe (Taucheira), Ptolemais, Apollonia und Kyrene.

346 Vgl. Hdt. 2, 96 (Κυρηναῖας λωτός); Strab. 17, 3, 20 (γῆς Κυρηναίας); 17, 3, 22 (Κυρηναῖας ὀπός).

347 Vgl. ἡ κατὰ Κυρήνην ἐπαρχία in Z. 15 und 37; ἡ περὶ Κυρήνην ἐπαρχία in Z. 45. Eine Verdoppelung findet in Z. 14 statt: τὴν Κρητικὴν καὶ ἐπαρχίαν. s. zu Κυραναῖοι in Ehreninschriften Gasperini 1967a, 62 mit Beispielen.

Integration unter diesem Kollektivnamen nicht entlang bestimmter Abstammungsgemeinschaften. Weder betrachten die Κυραναῖοι die Λίβυες als ein homogenes Volk, wie aus den Beschreibung Herodots ersichtlich wird, noch stehen die „Λίβυες“ gänzlich in Opposition zu den Κυραναῖοι, die ebenfalls keine ethnisch-kulturell homogene Gemeinschaft bilden. Das im Epos begegnende Toponym Λεβύα/Λιβύη bezeichnet als Abstraktum zunächst eine fruchtbare Region westlich von Ägypten. Die Herkunft des Toponyms bleibt unbekannt, die Übereinstimmung von rbw mit dem griechischen Wortstamm λιβυ-/λεβυ ermöglicht mehrere Interpretationen. In der Antike ist Libyen bei Geographen und Historikern kein einheitlicher Begriff, nicht mit dem Land der Libyer gleichzusetzten und wird als Erdteil oder Region Europa oder Asien entgegengestellt. Auch die Bewohner der Kyrenaika legen die Toponyme Libyen, Κυράνα/Κυρεναία unterschiedlich aus, wenn Κυράνα/Κυρεναία die Polis, das weitflächige Territorium der Stadt oder aber die gesamte Region meint. Ebenso wenig stehen Libyer für die Bevölkerung Libyens. Entweder bezeichnen die Siedler mit dem Sammelbegriff „Λίβυες“ zunächst die in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden Stämme oder weiten den Namen rbw, des bis heute nicht lokalisierten Stammes, auf alle anderen Stämme aus.