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Konkrete und abstrakte Kollektive: Ruderer und Rückkehrwillige

D. Die Entstehung von Kollektiven in der Kyrenaika

1. Konkrete und abstrakte Kollektive: Ruderer und Rückkehrwillige

Ausgehend von der in der Einführung dargelegten Kollektivitätstheorie sollen zunächst alternative Gruppenzugehörigkeiten der theraischen Siedler während ihrer Überfahrt nach Platea, einer Insel an der libyschen Küste, diskutiert werden. Dazu wird bewusst auf eine verengende, ethnozentristische Betrachtungsweise verzichtet. Vor ihrer Überfahrt von Thera nach Platea (Hdt. 4, 153) bestimmen die Theraier, dass aus allen Gemeinden je einer von zwei Brüdern ausgelost werden soll. Die Theraier entsenden hierauf zwei Fünfzigruderer nach Libyen. Insofern entsteht bei den theraischen Eliten zuallererst die reine Vorstellung eines Kollektivs aus ausgelosten Brüdern, die schließlich auf den Schiffen als konkretes Siedlerkollektiv ein Gruppenbewusstsein ausbilden. Diese ausgelosten Brüder stehen unter dem Kommando des Battos, ihrem Anführer und zukünftigen König. Battos ist in den überlieferten Erzählungen entweder der Sohn des theraischen König Grinnos oder der Sohn einer kretischen Prinzessin. Die ausgelosten Brüder bilden in diesen Überlegungen das erste konkrete Kollektiv in einer Reihe von vielen. Dagegen lässt sich zunächst einwenden, dass die Brüder außer ihrer Gemeinsamkeit, einen Bruder zu besitzen, eben nicht viel gemeinsam haben. In diesem Fall wäre das Kollektiv „Brüder“ ein Abstraktionskollektiv, dem die störende Multikollektivität der Individuen genommen wird. 244 Doch es gibt auf den beiden Fünfzigruderern, wie Herodot impliziert (4, 153), einen lebhaften und konkreten zwischenmenschlichen Kontakt. Die Brüder teilen zudem auf der Überfahrt zwei weitere Gemeinsamkeiten: sie bilden ein konkretes Ruderkollekiv und sind (zukünftige) Siedler. Die

244 Moderne Beispiele für Abstraktionskollektive gibt Hansen 42011, 162-163.

Persönlichkeit der Individuen erschöpft sich jedoch nicht in diesen Kollektiven. Sie sind in jedem Kollektiv nur partiell Mitglied und verfügen über zahlreiche Interessen, Kenntnisse und Gewohnheiten, mit denen sie in anderen Kollektiven Anschluss finden können. Auf den Schiffen herrscht demnach eine rege Multikollektivität.

Weil die Rudermannschaft eine überschaubare Anzahl an Personen darstellt, kann aus den Kontakten Gruppendynamik entstehen. Diese Dynamik wird bald auf die Probe gestellt, denn das vom delphischen Orakel vorgegebene Ziel, eine Siedlungsgründung durchzuführen, wird von den ausgelosten Individuen nur oberflächlich verinnerlicht. Stets ist von unterschiedlichen Tiefen einer Internalisierung auszugehen245 Individuen können zwar neue Verhaltensweisen („Rudern“) und Gedankenmuster („eine Siedlung gründen“) verinnerlichen und sie nach außen tragen, sich aber auch den vorherrschenden Meinungen entgegenstellen und an Souveränität gewinnen. Und tatsächlich bildet sich zunächst unter den Schiffsmannschaften kein homogenes Kollektivbewusstsein und nicht das geäußerte Gefühl, einer Siedlergemeinschaft anzugehören. Die Folge ist ein erfahrungsarmes Selbstbild, das aufgrund der unzureichenden Kenntnis über die Lage Libyens und der dortigen Lebensumstände keine Entwicklung durchläuft. Aufgrund der allgemeinen Ungewissheit (Hdt. 4, 156, 2) entsteht stattdessen ein anderes Kollektivbewusstsein, das sich schließlich im Bestreben äußert, umzukehren und von der Besiedlung Libyens abzulassen.

Aufgrund der sich schnell entwickelten Kommunikation und Gruppendynamik entsteht letztlich ein Segment aus Rückkehrwilligen, dessen Entstehung von den theraischen Eliten so nicht vorgesehen wurde. Möglicherweise stoßen einige Besatzungsmitglieder andere lediglich an, sodass der Wunsch nach einer baldigen Rückkehr der Gruppendynamik geschuldet ist und einige Besatzungsmitglieder von Anfang an von der Mission überzeugt waren. In diesem Fall versagte die Führung der beiden Fünfzigruderer, den ausgelosten Brüdern das vorgegebene Ziel glaubwürdig zu erläutern, damit sie das Orakel befolgen. Nach dem Versuch zurückzukehren lassen die Theraier die einfahrenden Schiffe nicht aber landen. Die Ausgelosten fahren abermals aus, um sich schließlich für zwei Jahre auf Platea niederzulassen (Hdt. 4, 157, 7).246

Es zeigt sich erneut, dass Kollektive keine Einheit bilden, sondern aus Segmenten bestehen.

Und wie bereits am Beispiel Thebens erläutert, werden zwei Arten der Segmentierung sichtbar: die konstitutive und die durch Virulenz erzeugte Segmentierung, bei der ein gleichgeartetes Fühlen und Denken erst im Verlauf eines Prozesses um sich greift.247 Ein konstitutives Segment hingegen bilden auf den Fünfzigruderern die Schiffsführer, das heißt Battos und sein aristokratisches Gefolge. Weitere konstitutive Segmente lassen sich in den von den Ruderern auf Thera ausgeübten Berufsgruppen ausmachen. Die Rudermannschaft besteht möglicherweise aus einem bunten Gemisch von Landwirten, Fischern und Handwerkern. Sie werden in der neuen Heimat wieder ihre alten Berufe ausüben wollen und erneut unterschiedliche Funktionen einnehmen. 248 Die Segmente sind für das Kollektiv

„Rudermannschaft“ konstitutiv, das sich während der Überfahrt allmählich als Einheit fühlt und – wenn auch nicht im Sinne des delphischen Orakels – als kollektiver Akteur handelt. Bei dem Segment aus Rückkehrwilligen handelt es sich hingegen um ein um sich greifendes Kollektiv. Auf den Schiffen bilden sich schließlich zwei Lager mit unterschiedlichen Ansichten. Die Größe der Segmentierung steht dabei in einem proportionalen Verhältnis zum Ausmaß der Virulenz. Wenn eine Segmentierung im Laufe der Zeit ein bestimmtes Ausmaß

245 Zum Grad der Internalisierung schreibt Hansen 42011, 148: „Zum einen stehen Internalisierungsbereitschaft und Internalisierungsverweigerung nicht ein für alle Mal fest, zum anderen müssen wir von unterschiedlichen Internalisierungstiefen ausgehen.“

246 Wie Herodot schreibt (4, 156, 3), werden sie bei einem Versuch, in den Hafen Theras einzufahren, beschossen:

οἱ δὲ Θηραῖοι καταγομένους ἔβαλλον καὶ οὐκ ἔων τῇ γῇ προσίσχειν, ἀλλ᾽ ὀπίσω πλώειν ἐκέλευον. Die felsige Insel Thera mit ihren steilen Bergen und Klippen liegt einem Vulkan gegenüber. Die auf den Klippen erbauten Städte, zu denen das auf dem Grat des 360 m hohen Berges Mesa Vouno gelegene Alt-Thera gehört, bieten gute Aussichten und Verteidigungsmöglichkeiten, sodass die Rückkehr der Theraier unwahrscheinlich erscheint.

247 Die Existenz der beiden unterschiedlichen Segmentierungen betont Hansen 42011, 165.

248 Dabei handelt es sich bei dieser Aussage um ein Pauschalurteil, bei dem eine Kontinuität von bestimmten Berufszweigen angenommen wird, ohne sie anhand von Quellen belegen zu können.

erreicht, kann sie das Kollektiv destabilisieren.

Die Herodot-Quelle belegt also die Existenz einer Reihe von konkreten Kollektiven auf den beiden Fünfzigruderern. Das Kollektivbewusstsein der Ruderer äußert sich, wie dargelegt, durch das Gleichverhalten der Mitglieder (1), regelmäßige Zusammenkünfte (2) und einer beständigen Kommunikation (3). Die Faktoren lassen eine Gruppendynamik entstehen. Die Kommunikation ist für die Ruderer eine wichtige Voraussetzung, in die zahlreichen Kollektive ein- oder auszutreten. Das Dorische, beziehungsweise der dorische Dialekt, ist als Kommunikationsmittel nicht leicht gegen ein anderes Mittel eintauschbar. Diese drei Faktoren bedingen einander und sind gleichwertig.249 Nichtsdestoweniger sind bei den skizzierten Kollektiven keine Äußerungen zu beobachten, die auf ein starkes Kollektivbewusstsein hindeuten. Denn nach der Ankunft auf Platea und der Übersiedlung auf das Festland schaffen neue Verhältnisse erneut Dynamiken, die andere Kollektivbildungen zufolge haben.

Einige Beispiele für Abstraktionskollektive bieten die Siedler auf Platea. Das Losverfahren hatte ohne Rücksicht auf Alters- und Berufsgruppen eine Gruppe gebildet. Rein hypothetisch gesprochen kann sich die Siedlergruppe zum einen aus älteren und erfahrenen Individuen zusammensetzen, zum anderen aus jungen Erwachsenen. Demnach existieren zwei Gruppen, die sich über ihr Alter formieren. Es gibt unzählige Möglichkeiten, Abstraktionskollektive zu bilden.250 Das Leben in einer neuen Heimat und die zukünftigen Aufgaben schulden die Siedler laut Herodot übergeordneten Mächten, der längeren Dürreperiode auf Thera und dem Orakel von Delphi. Diese Verhältnisse wurden von den Individuen nicht geschaffen, sodass die ersten Siedler die Ansicht vertreten, ihrem Schicksal unterworfen zu sein und sich ihm nicht entgegenstellen können, um es zu verhindern. Insofern gehören die Siedler einem Schicksalskollektiv an. Ihre Mitglieder sind mehrheitlich überzeugt, das gleiche Schicksal zu teilen und treiben letzten Endes den Aufbau einer neuen Heimat voran.

Bei der Betrachtung der überlieferten Gründungsgeschichte bei Herodot werden außerdem verschiedenste pankollektive Elemente sichtbar. Das Pankollektive, um es einmal zu wiederholen, wölbt sich über den Kollektiven und stellt bestimmte überregionale Verhaltensregeln und Kommunikationsmittel bereit (s. Abb. 4). Die Rudermannschaften besitzen zahlreiche gleichartige Verhaltensweisen, die sie mit anderen Siedlern verbinden.

Laut Herodot (4, 156, 2) akzeptieren zunächst alle Männer die Weisung des delphischen Orakels, mit Battos Kyrene zu gründen. Wie viele andere Siedler haben sie nur geringe Kenntnisse über ihre zukünftige Heimat und kontaktieren mehrmals die Pythia, damit sie bei der Suche nach einer neuen Heimat helfen möge. Hierzu bedienen sich die Theraier kultischer Praktiken und eines Wissens, das von ihren Vorfahren an sie weitergegeben wurde und darüber hinaus in vielen Orten Griechenlands bekannt ist. Der gemeinsamen Kommunikation und Interaktion kann sich in Libyen, aufgrund der begrenzten Anzahl der Erstsiedler und der kleinen bewohnten Fläche, niemand entziehen.251 Alle Siedler gebrauchen einen gemeinsamen Dialekt, die Kommunikation verläuft reibungslos.

249 Die Gleichwertigkeit betont Hansen 42011, 32. Vgl. Hansen 42011, 31 zum Wert der Kommunikation bei der Konstituierung eines Kollektivs: „Dieser Prozess setzt bei jedem Schritt einen kommunikativen Kontakt zwischen den Mitgliedern eines Kollektivs voraus.“

250 Moderne Beispiele gibt Hansen 42011, 162.

251 Dies wäre jedoch ein weiteres Pauschalurteil. Durchaus hätten sich Individuen auch vom Erstsiedlerkollektiv zeitweilig entfernen oder trennen können, insofern man bei einem Schicksalskollektiv nur bedingt von einer Determination sprechen kann.