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Die fortwährende Umformung der Traditionen

F. Homogenisierung durch gestiftete Traditionen

6. Die fortwährende Umformung der Traditionen

Weitere Belege einer intentionalen Geschichtsschreibung, einer laut Gehrke „für die Identität einer Gruppe bedeutsame Geschichte im Selbstverständnis“ 662 welche die Interessen bestimmter Kollektive offenbart, begegnen in der Darstellung um Arkesilaos III. und Pheretime. Wie bereits erörtert, bemüht sich laut Herodot Arkesilaos III. darum, die von Demonax durchgeführten Reformen rückgängig zu machen, muss jedoch nach einem Aufstand nach Samos fliehen. Er kehrt mit Söldnern zurück, wird aber am Ende in Barka mit seinem Schwiegervater ermordet (Hdt. 4, 164, 4). Seine Mutter Pheretime regiert in dieser Zeit in Kyrene und flüchtet nach dem Tod ihres Sohnes nach Ägypten, wo sie den persischen Statthalter Aryandes erfolgreich um Truppen und Seestreitkräfte bittet. Aryandes entsendet einen Boten nach Barka (Hdt. 4, 167, 2) um anzufragen, wer Arkesilaos getötet habe, doch die

662 Gehrke 2000a, 10. Das vollständige Zitat lautet: „Intentionale Geschichte wäre dann Geschichte im Selbstverständnis einer Gruppe, insbesondere soweit sie für deren Konsistenz und Identität bedeutsam ist; oder, umgekehrt, die Tradition hat eine “surface sociale” im Sinne der modernen Sozialanthropologie, sie bezieht sich auf eine Gruppe, die sie für wahr hält.“

Barkaier nehmen alle die Schuld auf sich.663 Aber nicht aufgrund dieser vermeintlichen Kollektivschuld wird ein Heer entsandt, sondern weil Herodot der Meinung ist, dass die Perser ganz Libyen unterwerfen wollen. Die persischen Truppen erreichen Barka und fordern die Auslieferung der Mörder, da aber das gesamte Poliskollektiv schuldig ist und sich nicht stellen will, beginnt eine neun Monate andauernde Belagerung (Hdt. 4, 200-201). Die

„Schuldigsten der Barkaier“ (αἰτιωτάτους τῶν Βαρκαίων) werden auf grausame Art umgebracht, ein Teil der Bevölkerung deportiert „bis auf die von ihnen, die Nachkommen des Battos und nicht mitschuldig am Mord waren; diesen übertrug Pheretime die Stadt.“664 Auf ihrem Rückzug dürfen die persischen Truppen aufgrund eines Orakelspruchs, dessen Wortlaut Herodot nicht wiedergibt, durch Kyrene ziehen (Hdt. 4, 203, 1). Während des Durchzuges befiehlt der Flottenführer Badres Kyrene einzunehmen, der Truppenführer Amasis lässt dies aber nicht zu, denn nur gegen Barka sollten sie ziehen. Nach ihrem Durchzug lassen sich die Truppen auf einem Hügel östlich der Stadt nieder, bereuen sie nicht eingenommen zu haben und versuchen Kyrene erneut zu betreten. Die Einwohner lassen dies aber nicht zu und die Perser geraten in Panik, obgleich es zu keinen Kampfhandlungen kommt. Die Truppen laufen fort und lassen sich 60 Stadien (ca. 11 Kilometer) entfernt nieder, dann kommt ein Bote von Aryandes mit dem Befehl des Abrufs. Die Perser bitten die Kyrener um Proviant, erhalten ihn und ziehen ab. Laut Herodot (4, 204) sei die persische Streitmacht bis nach Euhesperides gekommen. Die deportierten Barkaier werden zuerst König Dareios vorgeführt und dann in Baktrien angesiedelt. Pheretime reist nach der Belagerung Barkas nach Ägypten und stirbt dort „auf schlimme Weise: Lebendig wimmelte sie vor Maden, wie eben bei Menschen die allzu starke Rache unter den Menschen bei den Göttern verhasst ist. Die Rache der Pheretime, der Frau des Battos, war von dieser Art und so groß gegen die Barkaier.“665

Einige der durch Herodot überlieferten Informationen über die Ereignisse nach dem Tode Arkesilaos III. (Hdt. 4, 164, 4) und dem Durchzug der Perser sind widersprüchlich und nicht kohärent, andere sind schlicht unglaubwürdig. Diese Informationen lassen erkennen, dass mit den Umformulierungen auf das kollektive Selbstverständnis der Einwohner eingewirkt werden sollte. Mehrere Punkte sind der Forschung in der Vergangenheit aufgefallen.666 Es stellt sich zuerst die Frage, warum Pheretime nach Ägypten flieht, wenn sie in Kyrene regiert (1) und mit den persischen Truppen nicht gegen Kyrene marschiert, sondern gegen Barka (2).

Es bleibt auch fraglich, warum Barka eine höhere Priorität besaß und die Truppen das feindlich gesinnte Kyrene umgehen (3). Auch die Erzählung um den Durchzug der persischen Truppen (Hdt. 4, 203, 2-3) ist nicht schlüssig, besonders die Debatte zwischen dem Flottenführer Badres und dem Truppenführer Amasis, die grundlose Panik der Perser und die Nachricht mit dem Abruf. Das Gespräch zwischen den beiden Kommandanten ist nicht plausibel. Wenn Amasis meint, dass das persische Heer nur gegen Barka entsendet wurde, impliziert er, dass die Kyrener keine Beziehungen zu den Persern unterhalten (5). Damit leugnen sie die früheren diplomatischen Beziehungen (Hdt. 3, 13, 3-4). Stattdessen legitimieren die Kyrener die Erlaubnis an die Perser, sie durch ihre Stadt ziehen zu lassen, aus Scheu vor einem Orakel (6). Laut Giangiulio sei auch die unbegründete Panik unter den persischen Truppen ein Hinweis dafür, dass die Kyrener suggerieren wollen, von den Göttern unterstützt worden zu sein (7).667 Ebenso inkohärent ist die Angabe, die Perser seien bis nach Euhesperides gekommen (Hdt. 4, 204), der westlichsten Polis in der Kyrenaika; sie befindet sich ca. 70 Kilometer westlich von Barka (8). Unglaubwürdig ist auch Herodots Meinung, dass die Perser die Absicht hegten, ganz Libyen zu erobern (4, 167, 3) (9), denn Kyrener und Barkaier hatten sich bereits unterworfen und Tribute gezahlt (Hdt. 3, 13, 3-4; 4, 165, 2). Auch der Rückruf der Truppen aus der Kyrenaika scheint erfunden, um den schnellen Abzug der Truppen glaubwürdiger aussehen zu lassen (10). Auf den ersten Blick, so scheint es, sind es

663 Hdt. 4, 167, 2: „Die Barkaier aber nahmen es alle selbst auf sich; viel Schlimmes nämlich hätten sie von ihm erlitten.“ Übers. K. Brodersen.

664 Übers. K. Brodersen.

665 Übers. K. Brodersen.

666 Diese Punkte sammeln Mitchell 1966, 103-104; Giangiulio 2011, 709-711.

667 Giangiulio 2011, 710.

vor allem die konstitutiven Segmente in Kyrene, die an einer erneuten Geschichtskonstruktion Interesse zeigen und diese tradieren. Sie verunglimpfen das Herrschergeschlecht, es allein soll mit den Persern im engeren Kontakt gestanden haben.

Erschwert wird die Klärung der Ereignisse durch Angaben bei Autoren aus späterer Zeit.

So liefert der „Tractatus de Mulieribus Claris in Bello“ weitere Belege für Umformungen. Es ist das kurze Werk eines unbekannten griechischen Verfassers, der am Ende des 2. Jh. v. Chr.

über 14 griechische und barbarische Frauen schreibt, die im Altertum für ihre Intelligenz und ihren Mut bekannt sind. Als zehnte Frau wird Pheretime beschrieben, als Quelle nennt der Autor Menekles von Barka (Mitte 2. Jh. v. Chr.). Der Verfasser des Tractatus geht zunächst auf den gewaltsamen Tod des Arkesilaos III. und der Machtübernahme Pheretimes ein.

Anstatt wie bei Herodot zu regieren, erhebt sie ihren Enkel zum König.668 Die Gegner der Königsherrschaft schickt Pheretime mit Schiffen nach Ägypten, nimmt dann Kontakt mit Aryandes auf und tötet die Gegner mit seiner Zustimmung in Ägypten. Im Tractatus belagert sie dann mit persischen Truppen Kyrene und nicht Barka, wie Herodot berichtet, kehrt anschließend nach Ägypten zurück und stirbt dort. Eine Gegenüberstellung mag diese intentionale Geschichtsschreibung weiter veranschaulichen:669

Auch Polyainos (8, 47) äußert sich im 2. Jh. n Chr. über den Hergang um Arkesilaos und Pheretime, schreibt aber, dass Kyrene der Schauplatz der Ereignisse ist:

Ἀρκεσίλαος Βάττου Κυρηναίων βασιλέως καταστασιασθεὶς ὑπὸ τοῦ πλήθους ἐξέπεσε τῆς

669 Die Gegenüberstellung ist angelehnt an Jacoby FGrHist 270 Komm. F 5-6 S. 224-225.

Ereignisse nach Herodot Aryandes und bittet um militärische Unterstützung (Hdt. 4, 165, 2-3) Proviant versorgt, es darf durchziehen obwohl sie versuchen in die Stadt

πλεύσασα ἱκέτευσεν αἰτουµένη συµµαχίαν. τῆς ἱκεσίας ἠμέλησεν, ἐν δὲ τῷ τέως Ἀρχεσίλαος Ἑλλήνων συμμάχων εὐπορήσας, κατελθὼν, τὴν ἀρχὴν ἀναλαβὼν, πικρῶς τιμωρούμενος τοὺς λελυπηκότας ὑπὸ τῶν ὁμόρων Βαρκαίων ἀνῃρέθη. Φερετίμα πρὸς τὸ δεινὸν οὐκ ἀπηγόρευσεν, ἀλλὰ ὡς τὸν Αἰγύπτου σατράπην Ἀρυάνδην καταφυγοῦσα καί τινας εὐεργεσίας ἐς Καμβύσην προβαλομένη, πολλὴν δύναμιν πεζικὴν καὶ ναυτικὴν συλλαβοῦσα, προσβαλοῦσα τοῖς Κυρηναίοις ἀνυπόστατος ἐγένετο, ὥστε καὶ δίκας ὑπὲρ τοῦ παιδὸς λαβεῖν καὶ τῷ γένει τὴν ἀρχὴν ἀπολαβεῖν.

„Arkesilaos, der Sohn des Battos, König von Kyrene, verlor durch eine Stasis seine Macht und wurde von der Menge vertrieben. Aber seine Mutter Pheretime segelte zu König Euelthon von Salamis auf Zypern und bat ihn inständig um ein Bündnis (συμμαχίαν). Der Zypriot schlug die Bitte aus, aber Arkesilaos konnte griechische Bündner gewinnen und seine Macht wiedererlangen. Er ging hart gegen seine Gegner vor und wurde von benachbarten Barkaiern umgebracht. Nach dieser Niederlage verzagte Pheretime nicht, sondern flüchtete zum Satrapen Ägyptens Aryandes und hielt diesen Verpflichtungen von Kambyses vor. Nachdem sie eine große Land- und Seestreitmacht gesammelt hatte, schlug sie die Kyrener unaufhaltsam, ahndete

<den Tod> ihres Kindes und setzte erneut die Herrschaft ihres Geschlechts ein.“

Ein wesentlicher Unterschied zeigt sich in den Versionen also im Schauplatz des Geschehens.

Bei Herodot übt Pheretime Rache an den Barkaiern, bei Menekles und Polyainos spielen sich die Ereignisse in Kyrene ab. Laut F. Jacoby wird Kyrene als Schauplatz von Polyainos bestätigt, weil er die Passage bei Herodot nicht nacherzähle.670 Welche Quelle aber Polyainos benutzt hat, ist nicht bekannt. Eine Rekonstruktion der „wahren“ Ereignisse, die Suche nach einem „historischen Kern“ mutet zu kühn an. Spekulativ bleibt der Vorschlag von Giangiulio, seiner Meinung nach wurden Barka und Kyrene belagert. Nachdem Arkesilaos III. aus Samos zurückkehrt, befänden sie Kyrene und Barka in Aufruhr. In Barka wird der exilierte König getötet und in Kyrene setzt Pheretime ihren Enkel Battos IV. ein. Erneut bricht in Kyrene eine Stasis aus und Pheretime muss nach Ägypten fliehen. Mit persischen Truppen erobert sie schließlich Kyrene und Barka zurück.671 Gegen die von Giangiulio angenommene Belagerung Barkas, aber zumindest gegen einen Abbruch des städtischen Lebens, sprechen die geprägten Tetradrachmen der Barkaier mit der Silphionpflanze auf den Avers und einem Bullen auf dem Revers. Sie datieren in die Zeit nach der persischen Expedition.672 Die Münzen können aber ebenso von den überlebenden Battiaden aus Barka geprägt worden sein, die nicht am Mord beteiligt sind und denen Pheretime nach der Belagerung Barka überlässt.673 Ebenso haben Archäologen keinen Zerstörungshorizont aus spätarchaischer Zeit entdeckt, eine neun Monate lange Belagerung ist nicht festzustellen. Für eine Belagerung Kyrenes wiederum sprechen die in den sechziger Jahren durchgeführten Grabungen am Hügel des Zeus Lykaios in Kyrene.674 Wie Herodot schreibt, lagern die Perser auf dem Hügel in der Nähe des später errichteten Zeustempels (4, 203, 2-3) und bereuen es, die Stadt bei ihrem Durchzug nicht erobert zu haben. Bei einem wiederholten Versuch, Kyrene zu betreten, werden sie daran gehindert. Die Perser bereiten daraufhin Maßnahmen für einen möglichen Belagerungshügel vor, indem sie Weihgeschenke und Votivstatuen aus einem angrenzenden Heiligtum räumen.675

Die Ursachen für die Umformungen gründen wie im Falle des Siedlereides in der politischen Geschichte. Wie bereits in der Darstellung der Königsherrschaft und der demokratischen Periode erörtert, wird die Königsherrschaft Mitte des 5. Jh. v. Chr. gestürzt.

Die Kyrenaika fällt für immer vom Perserreich ab, das Segment an alteingesessenen Aristokraten übernimmt die Macht in Kyrene. Die Aristokraten dominieren die frühe Demokratie und sind um die Entstehung einer neuen kollektiven Identität bemüht. Einerseits möchten die Aristokraten die Vorstellung einer neuen kollektiven Zusammengehörigkeit

670 Jacoby FGrHist 270 Komm. F 5-6 S. 225.

671 So die Rekonstruktion bei Giangiulio 2011, 713.

672 Giangiulio 2011, 712-714. Zu den Münzen Robinson 1927, clxvi Nr. 1a.

673 Hdt. 4, 202, 2: „Die verbliebenen Barkaier übergab sie den Persern als Beute, außer jene die Battiaden waren und auch nicht am Mord beteiligt. Diesen übergab Pheretime die Stadt.“

674 Goodchild – Pedley – White 1966-1967, 179-198.

675 Die archäologischen Befunden analysieren Wright – White 2005, 31-39.

formen,676 andererseits besteht ihre Intention darin, die Könige als alleinige Perserfreunde darzustellen. So wurde(n) die Tradition(en) neu formuliert, um die übrigen Kreise in Kyrene vom Vorwurf des Medismos zu befreien.677 Die oppositionellen Kräfte lassen Erzählungen zirkulieren, die Arkesilaos' despotische Natur betonen, Pheretimes Grausamkeit sowie ihre Freundschaft mit den Persern. Die Umformungen legen den Fokus nun auf den Widerstand der belagerten barkaischen und kyrenischen Bevölkerung, den göttlichen Beistand und ihre selbstbewusste Haltung gegenüber den Persern.678 Die umgeformten Erzählungen erschaffen ein Schicksalskollektiv, das auf Gemeinsamkeiten basiert, die von den Einwohnern nicht geschaffen wurden, sondern einer übergeordneten Macht geschuldet sind.

Wie die archäologischen Befunde zeigen, hatte es tatsächlich einen Marsch persischer Truppen durch kyrenisches Gebiet gegeben, den man nicht leugnen konnte, stattdessen wird nun die Begegnung mit dem persischen Heer zum einem unwichtigen Ereignis stilisiert.

Somit steht fest, dass einige Kollektive durch Umformen bereits kursierender Erzählungen die ehemals friedlichen Beziehungen zu den Persern kaschieren wollen und stattdessen Zusammenstöße betonen. Sichtbar werden Parallelen zu den Argumenten der Thebaner, die in den Jahrzehnten nach dem Perserkrieg betonen, dass lediglich das konstitutive Segment der Tyrannen mit den Persern kollaborierte (Thuk. 3, 62, 3).679 Insofern unterscheiden sich die Intentionen und Mittel, die übrige Stadtbevölkerung von einer möglichen Schuld reinzuwaschen und folglich ein neues Kollektivbewusstsein zu stiften, nicht von manch anderen Poliskollektiven. Ebenso sichtbar ist die Spaltung der Gesellschaft in Segmente, die in Kyrene weiterhin die Oberschichten als Akteure hervortreten lassen. Es ist die gegenwärtige Segmentierung im 5. Jh. v. Chr., welche die Heterogenität an Versionen und ihre Virulenz zufolge hat. Eine Homogenität kann erst eintreten, wenn ein gesellschaftlicher Konsens existiert. Weitere Bemühungen um eine homogene Geschichte und Vergangenheit werden in den Jahren nach dem judäischen Aufstand sichtbar.