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Die Rolle Apollons in der Geschichte Kyrenes

G. Homogenisierung durch gemeinsame Götter und Kulte

2. Die Rolle Apollons in der Geschichte Kyrenes

Dieses Kapitel beleuchtet die wichtige Rolle Apollons in Kyrene. Apollon vermittelt, er autorisiert Entscheidungen, Interpretationen, Lösungsansätze und ist in den Augen vieler Griechen für die Sanktionierung einer sozialen Ordnung, auch bei der Gründung einer Apoikia, äußerst wichtig. Dabei kann Apollon durchaus ein politscher Gott sein, der in Fragen zur Ausübung von Kulten und Traditionen eine konservative Einstellung besitzt, aber gegenüber sozialen und politischen Reformen aufgeschlossen ist.758 In der geometrischen Epoche setzt sich sein Kult in Delphi durch, der Ort wächst zu einem Zentrum für alle Griechen heran. In den folgenden Jahrhunderten fragen zahlreiche Würdenträger aus zahlreichen Regionen der Antike, nach einem Orakel. Die „Männer aus Delphi“ verfügen über ein Spezialwissen, das durch jede Konsultation wächst.759 Maßgeblich ist ihre Fähigkeit, durch – zum Teil nur schwer verständliche Orakel – Sinn hervorzubringen. Die Orakel und andere Ratschläge müssen keine Wahrheit offenbaren, sondern lediglich eine Handlungsorientierung anbieten. Im Falle einer erfolgreichen Beratung einer Person mit hohem sozialen Status oder einer gelungenen Gründung einer Apoikia wächst die Reputation Delphis. Die Apoikiai und das delphische Orakel stehen demnach seit dem 8. Jh. v. Chr. in einem reziproken Verhältnis. Die Reputation der „Männer aus Delphi wird ebenso gestärkt wie die kollektive Identität der Apoikiai.760

In der Interpretation der Quellen hinsichtlich der Rolle Apollons bei der Gründung einer Apoikia ging die Forschung in der Vergangenheit verschiedene Wege. Einige Darstellungen vermitteln einen schematischen Eindruck, als seien die meisten Gründungen ein wohldurchdachter staatlicher Akt einer Metropolis unter dem Segen Apollons gewesen:761 Nach einem offiziellen Beschluss werden ein Oikist und Siedler rekrutiert und der zukünftige Status der Apoikia und ihre Beziehung zur Heimat geregelt. Der Oikist ist zunächst um den Beistand durch die Götter bemüht und holt ein obligatorisches Orakel in Delphi ein. Apollon muss die Gründung sanktionieren, sonst das Unternehmen zum Scheitern verurteilt.762 Das Staatsfeuer wird zur neuen Siedlung getragen und entfacht. Man richtet Kulte ein und tradiert fortan das Gründungsdatum, den Namen des Oikisten und biographische Angaben sowie die Geschichte der Gründung.

I. Malkin ist der Meinung, dass poetische Konstrukte oder symbolische Erzählungen nur wenig Beachtung verdienen, denn „because we are concerned with historical colonies we shall have little to say on legendary oikists and legendary foundation oracles.“763 Hingegen bewerten einige andere Forscher die überlieferten Erzählungen als Versuche einer Sinnstiftung. Für C. Dougherty etwa sind einige der überlieferten Gründungsgeschichten topoi, die von den homerischen Epen bis Plutarch anzutreffen seien. Mit diesen Topoi „as a

758 Die Charakterisierung betont Malkin 1989, 129-131. 151-153. Die politische Bedeutung Apollons ist in zahlreichen Poleis verbürgt und nicht zwangsläufig mit den Doriern verbunden. s. Krummen 1990, 104 mit Belegen.

759 s. zu den Männern aus Delphi Hdt. 6, 66, 2: „Als das Geschehene auf Veranlassung des Kleomenes der Pythia berichtet wurde, zog Kleomenes Kobon, Sohn des Aristophantos, einen sehr mächtigen Mann aus Delphi (ἄνδρα ἐν Δελφοῖσι), auf seine Seite.“

760 Zur Rolle von Delphi in der griechischen Kolonisation meint Forrest 1957, 173: „Certainly that any account which makes Delphi the originator of the whole colonial movement, is wrong; that any account which speaks of Delphi as the great impartial arbitrator, the reconciler of conflicting colonial interest, is greatly exaggerated.“ Zum reziproken Verhältnis schreibt Forrest (ebd. S.174): „But at the beginning it is surely true that colonisation was far more responsible for the success of Delphi of colonisation. Colonisation could not be anything but a success, the god who was associated with it could not but get the credit.“

761 So argumentieren Graham 1982, 144-152; Malkin 1987, 2-13. Vgl. jedoch Grahams verhaltene Meinung zur Historizität der Orakel (ebd. S. 144): „As a result every foundation story had to have its oracle (or oracles), and the god at Delphi is depicted as directing Greek colonization in the most detailed way, offering numerous enigmatic or ridiculous oracles, most of which are patently later forgeries. This material must be largely swept away before we can attain any true picture of Delphi's role in colonization.“

762 Vgl. die Geschichte um Dorieus (Hdt. 5, 42, 2-3), der durch Eile und Frustration weder beim Orakel anfragt, noch die anderen Gebräuche vollzieht (οὔτε ποιήσας οὐδὲν τῶν νομιζομένων). Erneut werden Vorstellungen des 5. Jh. v. Chr. deutlich, nach dem die einer Aussendung ein staatlich geplanter und wohldurchdachter Akt ist.

763 Malkin 1987, 21. Vgl. ders. auf S. 90: „The subject of religious justification [für eine Siedlungsgründung] or 'charter myths' merits a full and separate discussion; however, we cannot enter into it here […].“

kind of discourse that organizes its story in familiar and culturally significant ways“ hätten die Griechen ihre Erinnerung an die Gründung von Apoikiai konstruiert.764 Dabei beschränkt sich Dougherty jedoch auf eine Interpretation einzelner Schriftquellen, ohne andere Quellengattungen in Augenschein zu nehmen. Zu einengend mutet auch ihre monokausale Erklärung für die Gründung einer Apoikia an. Stets wäre eine Krise in der Heimat und die damit verbundene Gewalt der Auslöser für die Aussendung von Siedlern gewesen. Die Krise führe zunächst zu einer Konsultation eines Orakels. Die darauffolgende Siedlungsgründung sei als Sühneleistung zu verstehen, die eine Purifikation erwirkt.765 Diese Interpretation mutet letzten Endes zu schematisch an. Auch für J. F. McGlew sind Gründungsgeschichten keine

„simple products of an innocent desire to remember the past.“766 Im Gegenteil unterdrückten sie zahlreiche Informationen und die Ursachen einer Gründung. Kürzlich erstellte J. Hall Übersichtstabellen betreffend der tradierten Informationen über die Gründungen von Apoikiai auf Sizilien und in Italien.767 Hall kann nachweisen, dass auf dem italienischen Festland auch Apoikiai von mehreren Oikisten gegründet werden und nur in fünf Fällen – bei insgesamt 27 Apoikiai – Erzählungen über eine Konsultation des delphischen Orakels überliefert sind.768 In vielen Orten, so Hall, werden Informationen über Gründungen umgeformt und lassen Zweifel an ihrer Historizität aufkommen. Auch in den Erzählungen um die Gründung Kyrenes zeigen sich, wie bereits dargestellt, Belege für Umformungen, die auf die kollektive Identität der Einwohner einwirken sollen.

Wie in den antiken Texten zu ersehen, welche die Gründung Kyrenes behandeln, sind die Beziehungen zwischen Kyrene und Apollon sowie dem Orakel von einem großen Wohlwollen Apollons gegenüber den Kyrenern gekennzeichnet. In den Quellen erscheint die Gründung als vollzogener Wille Apollons, die Siedler agieren in seinem Auftrag.769 Bei Pindar (P. 4. V. 3-6) bestimmt die delphische Priesterin, Battos zum Oikisten, während dieser das Orakel aufgrund seiner Sprachstörung aufsucht hatte.770 Der sogenannte Siedlereid, dem die „theraische“ Version Herodots zugrunde liegt, gibt ebenfalls ein spontan gegebenes Orakels in Zeile 24 an,771 wie auch die lex sacra (Z. 1-3).772 Die unerwarteten und spontanen Orakel, der Wille Apollons sowie der anfängliche Unwille des Oikisten interpretiert die Forschung letztlich als Mittel des kyrenischen Poliskollektivs, sich in einem günstigen Licht zu repräsentieren.773

Diese Interpretation hegt starke Zweifel an einigen durch Herodot überlieferten Orakeln, deren Wortlaut er auch nicht immer wiedergibt. In der Version der Theraier (Hdt. 4, 150, 3)

764 Zitate bei Dougherty 1993a, 5-6. 185-186. Die richtige Herangehensweise sei Dougherty zufolge (ebd. S. 7) die Erzählungen nicht nur als Manipulationen aufzufassen, sondern auch als aktive Aushandlungen.

765 Dougherty 1993a, 8; 1993b, 180-183.

766 McGlew 1993, 18.

767 Hall 2008, 389-392.

768 Hall 2008, 402: „What I hope to have shown in this section is that, at least for the 27 Italian colonies currently under consideration, there is no such thing as a typical foundation story. Certainly, it is possible to detect some structural affinities within the corpus but there is less evidence for a broader ‘poetic’ that later shaped and structured such accounts to formulate a ktisis genre.“ Vgl. auch die Kritik an der Existenz eines Genres bei Dougherty 1994, 45. Beispiele für alternative Oikisten gibt auch McGlew 1993, 18-19 mit Anm. 8.

769 Die aktive Rolle Delphis beziehungsweise des Orakels betont auch McGlew 1993, 20.

770 Pind. P. 4. V. 59-62: „O seliger Sohn des Polymnestos, dich hat nach diesem Spruch die freiwillig geäußert Weissagung der delphischen Biene erhöht. Dreimal hieß sie dich willkommen und bestimmte dich als den vom Schicksal auserwählten König für Kyrene, als du Antwort suchtest, auf welche Art Heilung von den Göttern für deine misstönende Redeweise zu erwarten sei.“ Übers. E. Dönt.

771 S.E.G. 9, 3 Z. 24: ἐπεὶ Ἀπόλλων αὐτομάξεν Β[άτ]τωι καὶ Θηραίοις ἀποι[κίξαι] Κυράναν […].

772 S.E.G. 9, 72: Z. 1-3: [Ἀ]πόλλων ἔχρη[σε]· [ἐς ἀ]εὶ καθαρμοῖς καὶ ἁγνήιαις κα[ὶ δεκατ]ήιαις χρειμένος τὰν Λεβύαν οἰκ[έν]. Viele der in der lex sacra erläuterten Rituale werden im Apollonheiligtum praktiziert oder stehen mit Apollon und Artemis in Bezug. Die erste Regel etwa (Z. 4-7) verlangt ein Opfer an Apollon außerhalb des Stadttores, höchstwahrscheinlich ist damit das nördliche Stadttor in der Nähe des Apollon-Heiligtum gemeint.

Dazu Robertson 2010, 279.

773 s. dazu Giangiulio 2001, 117-120. 129-131; 2010, 125-127. Und Dougherty 1993a, 18 schreibt hierzu:

„Similarly as we have seen, the Theraean Battus asks about his stuttering problem and receives a response ordering him to settle Libya. This “surprised oikist” motif obviously supports the theme of reluctance in the colonial narrative and underlines Apollo’s legitimating role in the colonization process […].“

etwa befragt König Grinnos das Orakel, Battos gehört lediglich zu seinem Gefolge. In der kyrenischen Version tritt der ursprüngliche Wunsch Battos' nach der Heilung seines Stotterns noch deutlicher zutage. Gleich zweimal will ihn Apollon nach Libyen als Oikist schicken (Hdt. 4, 155, 3-4). Die Theraier erhalten, da sie ihre Situation zunächst nicht verstehen, schließlich ein drittes Orakel (4, 156, 2). Weil Grinnos und Battos unterschiedliche Orakel erhalten, müssen entweder mehrere Texte tradiert oder nachträglich verfasst worden sein.774 In der kyrenischen Version fehlen, wie bereits gesagt, die Angaben über die Vorfahren des Battos (Argonauten, Minyer) und sein Königtum, ebenso fehlt die Sanktionierung des Königsgeschlechts durch Apollon. Als zu prophetisch mutet auch das Orakel an, das die Dauer der Königsherrschaft voraussagt (Hdt. 4, 163, 2-3):775

Giangiulio zufolge finden sich in diesem Prosatext, der ursprünglich aus zwei Orakeln bestehen soll, die zusammengefügt wurden, Spuren des originalen Hexameters. Die Orakel zirkulieren nach dem Sturz der Könige und stammen wohl aus einer kyrenischen Sammlung.

Nach dem Sturz der Königsherrschaft fängt Herodot, so Giangiulio, die letzten Momente der Königsherrschaft beziehungsweise der ersten Jahre der Demokratie auf, wenn er über diese Orakel informiert, welche das Ende der Könige nachträglich vorrausagen.776 H. W. Parke hält das Orakel ebenfalls für nachträglich verfasst, für ihn jedoch stammen die Verse aus Delphi.777 Obgleich beide Thesen spekulativer Natur sind, steht dennoch fest, dass der letzte König die Beziehungen des Herrschergeschlechts zu Delphi stärker betont und durch Pindar Erzählungen für seine Bedürfnisse umarbeiten lässt. Höchstwahrscheinlich sollte die Legitimierung durch Delphi die Herrschaft von Arkesilaos IV. infolge der Schwäche des Perserreiches stützen. In der nachfolgenden Periode nehmen einige mythische Erzählungen dann die Form an, die Herodot während seines Aufenthalts in Kyrene vernimmt.

Es ist somit ersichtlich, dass die Idee einer besonderen Beziehung zwischen Kyrene und Delphi auf verschiedene Weise artikuliert und Laufe der Jahrzehnte neu strukturiert wird, soweit die Quellen dies belegen. Keinesfalls existiert eine offizielle oder ursprüngliche Version mit unumschränkter Autorität. Die in den Traditionen überlieferten Orakel sind daher nicht zwangsläufig in die Zeit vor der Gründung Kyrene zu datieren. Sie sind stattdessen ein Teil der Erzählungen, die eine Verbindung mit Delphi als außerordentlich wichtig für die Qualität ihrer kollektiven Identität erachten.778 Somit sind die Erzählungen auch nicht als Propaganda aufzufassen, sondern als Selbstzeugnis verschiedener Kollektive in Kyrene, die nicht einzig um die Tradierung historischer Fakten bemüht sind. Im Folgenden wird die These vertreten, dass die Teilnahme an Festen, Kulten und religiösen Ritualen das geschaffene

774 An zumindest zwei unterschiedliche Orakel denkt Hartmann 2010, 425. Ferner äußert Giangiulio 2013, 391 auch Kritik an den Orakeln, welche die Griechen zum siedeln in Libyen auffordern (Hdt. 4, 159, 3) und aus Mantinea einen Schiedsrichter kommen zu lassen (Hdt. 4, 161, 2).

775 Übers. K. Brodersen.

776 Giangiulio 2001, 126. Vgl. ders. 2010, 127: „When a tradition meant to account for the fall of the kings and to depict the events as predicted by the Delphic god took shape, exactly this kind of oracular tale must have been incorporated into it.“

777 Parke – Wormell 1956, 156.

778 So argumentiert Giangiulio 2001, 118.

„ἐπὶ μὲν τέσσερας, Βᾶττους καὶ Ἀρκεσίλεως τέσσερας, ὀκτὼ ἀνδρῶν γενεάς, διδοῖ ὑμῖν Λοξίης βασιλεύειν Κυρήνης· πλέον μέντοι τούτου οὐδὲ πειρᾶσθαι παραινέει. σὺ μέντοι ἥσυχος εἶναι κατελθὼν ἐς τὴν σεωυτοῦ. ἢν δὲ τὴν κάμινον εὕρῃς πλέην ἀμφορέων, μὴ ἐξοπτήσῃς τοὺς ἀμφορέας ἀλλ᾽ ἀπόπεμπε κατ᾽ οὖρον, εἰ δὲ ἐξοπτήσεις τὴν κάμινον, μὴ ἐσέλθῃς ἐς τὴν ἀμφίῤῥυτον· εἰ δὲ μὴ, ἀποθανέαι καὶ αὐτὸς καὶ ταῦρος ὁ καλλιστεύων.“

„Auf vier Battos und vier Arkesilaos, acht Generationen von Männern, gibt euch Loxias, König von Kyrene zu sein; nicht mehr als das aber zu versuchen ermahnt er euch. Du aber sei ruhig und gehe wieder in dein Eigenes;

wenn du den Töpferofen voller Amphoren findest, brenne die Amphoren nicht, sondern schicke sie mit gutem Wind fort. Wenn du aber den Ofen anzündest, betritt nicht den rings umflossenen Ort; anderenfalls wirst du sterben, du selbst und der schöne Stier.“

Kollektivbewusstsein der Kyrener weiter festigt.779 2.1 Apollon Karneios und die Karneen in Kyrene

In Kyrene ist Apollon für den Schutz der Polis und des politischen Lebens verantwortlich, in Erzählungen über die Gründung und in den ersten Generationen nimmt er schwerwiegenden Einfluss in die innenpolitischen Verhältnisse.780 Die mythischen Erzählungen und Gedichte offenbaren einen starken Bezug zu Apollon. Es ist anzunehmen, dass Kontingente an Nachsiedlern den kyrenischen Apollonkult vorfinden, der ihnen nicht unbekannt ist und sich in das Poliskollektiv integrieren und dabei auch nicht ihre früheren Traditionen oder Rituale verleugnen. Wenn sie neue Elemente aufnehmen, schließen sie ihnen vertraute und überlieferte Traditionen ein und praktizieren im Kollektiv dieselbe Kultur, da sie bei Kulten, Ritualen und Prozessionen untereinander durch Kommunikation und gemeinsame Interaktion in Kontakt stehen. Die gemeinsam vollzogenen religiösen Praktiken zu Ehren Apollons erleichtern die Vergemeinschaftung aller Einwohner. Auf der Basis dieser Praktiken, von Zusammenkünften und einer regelmäßigen Kommunikation unter den Teilnehmern entsteht aus dem rationalen Gesellschaftshandeln ein übergreifendes Kollektivbewusstsein. Die Individuen besitzen die Auffassung, ein Teil der kultischen Gemeinschaft zu sein und halten durch ihr kollektives Fühlen, Denken und Verhalten den Kult um Apollon am Leben.

In der Kolonisation trägt Apollon den Beinamen Archegetes, aber vor allem als Apollon Karneios ist er der Bevölkerung Kyrenes vertraut.781 Laut Kallimachos (h. Apoll. 69-71) ist Karneios die beliebteste Epiklese des Gottes.782 Ursprünglich könnte es sich bei Karneios um eine selbstständige Gottheit in Widdergestalt gehandelt haben, sowohl Apollon als Zeus erhalten das Epitheton. Insbesondere im Monat Karneios (Ende August/Anfang September) werden ihm Ehren zuteil. Laut Pausanias (3, 13, 3), der einen spartanischen Mythos überliefert, lebte einst, noch vor der Ankunft der Herakliden, in Sparta der Seher namens Krios („Widder“). Durch seine Tochter lernen die Dorier Krios kennen, der Sparta an sie verrät. Ferner schreibt Pausanias (3, 13, 4): „Der Kult des Apollon Karneios wurde bei den Doriern seit Karnos aus Akarnanien eingeführt, der von Apollon weissagte. Nachdem er von Hippotas, dem Sohn des Phylas, ermordet wurde, zürnte Apollon unter den Doriern. Hippotas

779 Nach Hansen 2009, 43 reiche eine einfache Kollektivbildung aus, um Solidarität zu erzeugen: „Der egal wie fadenscheinige Glaube, eine Gruppe zu sein, verfügt also schon über Virulenz.“ Auf diese geglaubten Gemeinsamkeiten macht, wie schon erörtert, bereits M. Weber aufmerksam, der meinte, dass das Geglaubte das Reale in seiner Bedeutung übersteigt und der Mehrwert im positiven Urteil gehört, einem bestimmten Kollektiv anzugehören.

780 Vgl. die Charakterisierung von Hiller von Gaertringen 1897, 22: „Der Gott, dessen Fest und Festmonat allen Doriern gemeinsam war; dagegen sich bei keinem nichtdorischen Stamme findet; dessen Zorn und Versöhnung in den Sagen von der dorischen Wanderung, der Erzählung von der Ermordung des Sehers Karnos des nachmaligen Oikisten von Korinth, ein bedeutungsvolles Moment bilden, und dessen Verehrung das Geschlecht der Aigiden von Sparta nach Thera, von Thera nach Kyrene gebracht haben soll.“

781 Vgl. die Übersicht bei Baudy 1996, Sp. 288-290 mit Quellen: Das Fest, an dem auch ein Widder-Opfert stattfindet, wird Sosibios zufolge (FGrHist 595 F 3) 676/3 v. Chr. institutionalisiert und dauert neun Tage (die Dauer überliefert Athen. 4, 141ef). In dieser Zeit sind Kämpfe einzustellen (Hdt. 7, 206; Thuk. 5, 54, 2).

Musische Agone überliefert Hellanikos von Lesbos (FGrHist 4 F 85).

782 Bezüglich des Kulttransfers vertritt Malkin 1994, 145 die These, aus Apollon Karneios könne im Laufe der griechischen Kolonisation sogar Apollon Archegetes hervorgegangen sein. Im bereits besprochenen Siedlereid (S.E.G. 9, 3) wird Apollon als Ἀρχαγέτας angerufen, die Stele im Heiligtum des Apollon Pythios aufgestellt (S.E.G. 9, 3 Z. 11): τῶ Ἀπό[λ]λωνος τῶ Ἀρχαγέτα. Z. 17-18: θέμεν τὰν στὰλαν ἐς τὸ ἱαρὸν πατρῶνιον τῶ | Ἀπόλλωνος τῶ Πυθίω […]. Die Anrufung des Ἀπόλλων Ἀρχαγέτας belegt auch Pindar (P. 5. V. 60). Ebenso wird Apollon als Ἀρχαγέτας im Testament Pyskons (S.E.G. 9, 7 Z. 26) angerufen. Zwei Inschriften aus Kyrene aus dem 1. und 2. Jh. n. Chr. belegen zudem die Anrufung Apollon als Ktistes. Die erste ist eine auf einer Marmortafel angebrachte Weihinschrift an Apollon (S.E.G. 9, 99) und datiert in das späte 1. Jh. v. Chr.:

[Ἀπ]όλλωνι Κτίστῃ καὶ [Σωτῆρι] | Ὑπὲρ τῆς [[Νέρωνος]] [Κλαυδίου] | Δρούσου Γερμαν[ικοῦ Καίσαρος] | Σεβαστοῦ Αὐτοκ[ράτορος νίκης] ||5 καὶ σωτηρίας καὶ τ[οῦ σύνπαντος] | αὐτοῦ οἴκου τὴν κρήνην αἱ [ἱέρειαι ἀ]|νέθη[κ]αν τῇ -- ακ --. Die zweite Inschrift (S.E.G. 31, 1575) datiert in das 2. Jh. n. Chr. Der Steinblock wurde in eine Mauer eingelassen. Der Text bezieht sich auf einen Orakelspruch; die Konsultierenden erhoffen sich Niederschlag: ἐπ’ ἱερέος τοῦ κτίστου | Ἀπόλλωνος Που|φίου Λούππου ἔβρε|ξεν ὁ Ζε[ν]ὸ̣ς̣ θεῶ οὐρα|(…v…) ν̣ὸς·

Ἀγαθὰ μαν̣[τεία].

musste aufgrund dieser Schuld in die Verbannung gehen und seit dieser Zeit existiert der Brauch unter den Doriern, diesen akarnanischen Seher günstig zu stimmen.“ Laut Malkin betont der Kult um Apollon Karneios eine Gemeinschaft, die ihre Vergangenheit als Viehzüchter und Nomaden nicht verneint, wenn er mit der Rückkehr der Herakliden und ihrer Landnahme assoziiert wird. 783 Dies tritt in Kyrene bei kultischen Veranstaltungen, Festen und Prozessionen offen zutage.

In Kyrene sind die Karneen ein konstitutives Fest, das eine Gemeinschaft aus Siedlern unterschiedlicher Herkunft und unzähligen Kollektivzugehörigkeiten zusammenbringt.

Welches Kollektiv das Fest im 5. Jh. v. Chr. ausrichtet, ist nicht bekannt.784 Das Fest zeichnet die Ausrichter nicht nur mit einer symbolischen Autorität aus, sondern schreibt ihnen auch eine bedeutende soziale Funktion und individuelle Identität innerhalb des Poliskollektivs zu.

Die Feste, Rituale und Prozessionen homogenisieren in dem Maße, als dass sie den Teilnehmern sagen, was gewesen ist, wer sie sind und sein sollen. Dazu tendieren sämtliche Sprechakte, etwa Rezitationen bekannter Mythen oder Formeln, die eine bestimmte Vorstellung, etwa der Gunst Apollons und der frühen Geschichte Kyrenes vermitteln. Die erste Erwähnung des Karneenfestes in Kyrene findet sich in der 5. Pythie Pindars, die Verse rufen Apollon Karneios an und schildern ein Opfermahl. Pindar bringt das Fest nicht nur mit der Gründung Kyrenes zusammen, sondern mit dem konstitutiven Mythos der Dorier, der Heraklidensage. Ihren Ursprung nimmt die Reise in der von Apollon beherrschten Orakelstätte (P. 5. V. 69-81):785

Die Karneen in Kyrene sind laut Pindar ein großes Opferfest (V. 77: πολύθυτον ἔρανον) zu Ehren des Apollon Karneios und der gesamten Stadt (V. 79-81: τεᾷ / Καρνήϊ᾽, ἐν δαιτὶ σεβίζομεν / Κυράνας ἀγακτιμέναν πόλιν). Das Fest wird von den Erstsiedlern nach Libyen überführt (V. 78). Die schematische Einheit der drei Elemente Apollo – Herakliden – Peloponnes (Lakedaimon, Argos, Pylos) in den Versen 69-73 ist eindeutig. Die darauffolgenden Verse enden mit dem Karneenfest auf Thera und in Kyrene. Laut Malkin ist Pindars Konstruktion wohldurchdacht, das Karneenfest verbindet die Sage über die Rückkehr der Herakliden mit der Gründungsgeschichte Kyrenes. Der Kult des Apollon Karneios forme die Kette Sparta – Thera – Kyrene und erinnere die Griechen an eine Art Raum, der von den Spartanern besiedelt wird. Zuerst wird das Karneenfest durch die Herakliden nach Lakedaimon transferiert, durch die Lakedaimonier und das spartanische Geschlecht der Aigiden nach Thera und schließlich nach Kyrene. Die Dichter legen nicht nur nahe, dass der Kult von Sparta über Thera nach Kyrene transferiert wurde, sondern die Einrichtung des Kultes im Kontext der jeweiligen Siedlungsgründung zu verorten sei.786 Aus diesem Blickwinkel ist die Einrichtung des Kultes für Kollektivbewusstsein der Kyrener ein

783 Malkin 1994, 156. Zu den Karneen als Initiationsritual s. unten auf S. 162-163.

784 Vgl. zu dieser Einordnung Krummen 1990, 109; Malkin 1994, 147.

785 Übers. E. Dönt. Zur Forschungsgeschichte des Karneenfestes Krummen 1990, 98-99 mit Anm. 1.

786 Malkin 1994, 143-147.

τῷ {καὶ} Λακεδαίμονι ἐν Ἄργει τε καὶ ζαθέᾳ Πύλῳ ἔνασσεν ἀλκάεντας Ἡρακλέος

ἐκγόνους Αἰγιμιοῦ τε. τὸ δ᾽ ἐμὸν γαρύει ἀπὸ Σπάρτας ἐπήρατον κλέος:

ὅθεν γεγενναμένοι

ἵκοντο Θήρανδε φῶτες Αἰγεΐδαι, ἐμοὶ πατέρες, οὐ θεῶν ἄτερ, ἀλλὰ μοῖρά τις ἄγεν·

πολύθυτον ἔρανον ἔνθεν ἀναδεξάμενοι, Ἄπολλον, τεᾷ,

Καρνήϊ᾽, ἐν δαιτὶ σεβίζομεν Κυράνας ἀγακτιμέναν πόλιν·

„Von ihr aus hat er in Lakedaimon /70 und Argos und im heiligen Pylos / die wehrhaften Nachkommen des Herakles / und des Aigimios angesiedelt. / Mein herzerfreuender Ruhm stamme von Sparta, kündet Apoll, / von wo die Aigiden stammen /75 und nach Thera gelangten, / meine Ahnen, nicht gegen den Willen der Götter, ein Geschenk führte sie. / Von dort haben wir das opferreiche / Festessen übernommen, / Apoll Karneios, /80 und ehren bei deinem Mahl / Kyrene, die schöngebaute Stadt.“

wichtiger Akt. E. Krummen lokalisiert den Schauplatz der Feierlichkeiten aufgrund von Parallelen auf der Agora, denn hier existiert, wie bereits geschrieben, seit Ende des 7. Jh. v.

Chr. ein erstes kleines Apollon-Heiligtum. An das kleine Apollon-Heiligtum schließt der

Chr. ein erstes kleines Apollon-Heiligtum. An das kleine Apollon-Heiligtum schließt der