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Das Diagramma des Ptolemaios I

E. Homogenisierung durch Kommunikation und Institutionen

3. Institutionen

3.3 Das Diagramma des Ptolemaios I

Im letzten Drittel des 4. Jh. v. Chr. erleben die Kyrener zum ersten Mal ihre faktische Unterwerfung, ihnen wird zudem eine neue Verfassung aufgezwungen. Sie ist in einer Inschrift überliefert, auf die unten im Detail eingegangen wird. Zum ersten Mal treten die Kollektivbildungen und Ämter offen in Erscheinung. Die Quellen hinsichtlich der Einrichtung dieser Verfassung sind widersprüchlich und enthalten nur spärliche Angaben:428

Nur Arrian berichtet über eine weitere Revolte der Kyrener nach der Eroberung Kyrenes durch Ophellas. Erst nach dieser Revolte aber segelt Ptolemaios nach Kyrene und führt die neue Verfassung ein. Diodor (18, 21, 9) teilt lediglich die Auslieferung der Poleis und des Umlandes an Ptolemaios durch Ophellas mit, ohne die Erwähnung einer neuen Verfassung.

Auch das Marmor Parium macht keine Angaben. Der genaue Zeitraum der Abfassung und Einsetzung der Verfassung ist nicht bekannt. Sie wird auf einer Marmorstele verzeichnet (S.E.G. 9, 1), an einem unbekannten Ort in Kyrene aufgestellt und später in einem spätantiken Frigidarium einer kleinen Therme wiederverwendet.429 Mit einer anderen Stele, auf dem der sogenannte Siedlereid verzeichnet ist, bildet die Marmorstele in der Spätantike schließlich die Seitenwände eines Beckens. Die Inschrift besteht aus zwei voneinander geschiedenen Teilen.

In Zeile 5 bezeichnet die Inschrift die Bestimmungen als νόμοι, in Zeile 38 sich selbst als

428 s. den Überblick auf S. 15-16. Vgl. ferner Iust. 13, 6, 20. Zum Hintergrund auch Will 1960, 375-386.

429 Zur Inschrift Ferri 1926, 3-19; Heichelheim 1927, 175-182; de Sanctis 1928, 240-249; Otto 1928, 76-79;

Oliverio 1928a, 183-222; Cary 1928, 222-238; Taeger 1929, 432-57; Larsen 1929, 351-368; Ehrenberg 1930, 332-355; Fraser 1958, 120-127 (mit einer Revision, jedoch ohne Edition); Laronde 1987, 85-91. 95-121. Die aus weißem Marmor gemeißelte Stele ist 1,50 Meter hoch, 0,57-0,55 Meter breit und 0,30 Meter dick. Sie verjüngt sich leicht nach oben hin. Laut Oliverio 1928a, 183 wird die Stele wohlmöglich von einer anderen Marmorplatte überlagert, wie eine gemeißelte Aushöhlung zeigt. Die Einteilung in Paragraphen ist modern.

Οἱ δὲ Τευχειρῖται, Ὀφελλᾶ τὴν ἐξουσίαν

„Die Taucheriten, nachdem Ophellas <ihnen> die Erlaubnis gegeben hatte, folterten Thibron und schickten ihn zum Hafen der Kyrener um ihn aufzuhängen. Da die Kyrener ihre Parteienkämpfe weiterführten, begab sich Ptolemaios dorthin und nachdem er alle Angelegenheiten geregelt hatte, segelte er zurück.“ (Arr. succ. fr. 1, 19 = FGrHist 156 F 9 = Phot. Bibl. 92)

„Seitdem Antipatros Athen erobert hatte und Ophellas Kyrene, geschickt von Ptolemaios, 58 Jahre, als Philokles Archon in Athen war. Seitdem Antigonos nach Asien marschierte und Alexander in Memphis bestattet wurde und Perdikkas starb als er in Ägypten einen Kriegszug unternahm und Krateros und als Aristoteles 50 Jahre alt wurde, 57 Jahre, als Archippos Archon in Athen war und Ptolemaios nach Kyrene reiste.“ (Marm. Parium FGrHist 239 B 10-11)

„Nachdem Ophellas Thibron niedergerungen und ihn gefangengenommen und die Kontrolle erlangt hatte, übergab er die Städte und das Land Ptolemaios dem König. So verloren die Kyrener und die umliegenden Poleis auf diese Weise ihre Freiheit und wurden an das ptolemäische Reich angeschlossen. (Diod. 18, 21, 8)

διάγραμμα.430 Im ersten und größeren Abschnitt sind rechtliche und politische Verfügungen aufgelistet, es folgt im Anhang eine Liste mit Namen von ernannten Beamten:

Ἀ[γαθὰ τύχ]α.| [Πολ]ῖται ἔσονται ο[ἱ ἄνδ]ρες ἐκ πα[τρ]ὸς | Κ[υρη]ναίου καὶ γυναικὸς Κυρηναίας καὶ ο[ἱ | ἐκ τ]ῶν Λιβυσσῶν τῶν ἐντὸς τοῦ Καταβαθμοῦ Αὐ‹τ›αμάλακος καὶ οἱ ἐκ τῶν ἐ[π|οίκ]ων τῶν ἐκ πόλεων τῶν ἐπέκεινα τῆς Θιν{ιν}ός, οὓς Κυρην‹α›ῖοι ἀπώικισαν κ[αὶ ||5 οὓς ἂ]ν Πτολεμαῖος καταστήσηι καὶ οὓς τὸ πολίτευμα δέξ‹η›ται, ὡς ἂν ἐν τοῖς νόμοις τοῖσδ[ε]. |

§ 1. [Πολί]τευμα δ’ ἔστω οἱ μύριοι · ὑπαρχόντωσαν δὲ οἱ φυγάδες οἱ ἐς Αἴγυπτον φυγόντες, | [οὓ]ς ἂν Πτολεμαῖος ἀποδείξηι καὶ οἷς ἂν τὸ τίμηνα ἦι τῶν χρημάτων τῶν ἀ[θ]ανάτων σὺν τοῖς τῆς γυναικὸς μνῶν εἴκοσι Ἀλεξανδρείων, ὃ ἂν οἱ τιμητῆρ|ες τ<ι>μήσώσι ἐλεύθερον · καὶ ὅσοις εἰσὶ ὀφει<λ>όμεναι μναῖ εἴκοσι Ἀλεξανδρεοιοι ||10 σὺν τοῖς τῆς γυναικὸς μὴ ἀθανάτοις τετιμημένοις μὴ ἐλάσσον<ο>ς τοῦ ὀφειλ|ήματος καὶ τοῦ τόκου, καὶ ἀνταπομνυόντων οἱ ὀφείλοντες, κἂν οἱ γείτονες μὴ | τιμὰς ἔχωσι, ἔστωσαν καὶ οὗτοι τῶν μυρίων μὴ νεώτεροι τριάκοντα ἐτῶν. Τιμ|[η]τῆρας δὲ αἱρείσθων οἱ γέροντες ἐκ τῶν μυρίων ἄνδρας ἑξήκοντα μὴ νεωτέρ[ους | τρ]ιάκοντα ἐτῶν, ὁρκώσαντες ὅρκον νόμινον. Οἱ δὲ αἱρείθέντες τιμώντσαν ὡς ἂ[ν]

||15 ἐν τοῖς νόμοις γραφῆι · τῶι δὲ πρώτωι ἔτει πολιτευέσθωσαν ἐκ τῶν πρότερον τιμημά[τω<ν>].

|

§ 2. Βουλὴ δὲ ἔστω ἄνδρες πεντακόσιοι, οἳ ἂν τῶι κλήρωι λάχοσι μὴ νεώτερο[ι] | πεντήκοντα ἐτῶν · βουλευόντωσαν δὲ δύ’ ἔτη, ἀποκληρωσάντων δὲ τῶι | [τ]ρίτωι ἔτει τοὺς ἡμίδεις · διαλειπόντωσαν δὲ δύ’ ἔτη. Ἐαν δὲ μὴ <γ>ίνηται ὁ ἀρ[ιθ]|μός, προσκληρούντων ἐκ τῶν τεσσαράκοντα ἐτῶν τοὺς ἄλλους. ||20

§ 3. [Γέ]ροντε<ς> δ’ ἔστωσαν ἑκατὸν εἷς, οὓς ἂν Πτολεμαῖος καταστήσηι · κατὰ δὲ τ[ὸν ἀ]ποθανόντα ἢ ἀποσταθέντα εἰς το<ὺ>ς ἑκατὸν καὶ ἕνα οἱ μύριοι ἄλλον α[ἱρ|εί]σθων μὴ νεώτερον πεντήκοντα ἐτῶν. Τοὺς δὲ γέροντας μὴ ἐξέστω α[ἱ|ρ]εῖσθαι εἰς ἀρχὴν μηδεμίαν ἄλλην ἢ στρατηγοὺς ἐν πολέμωι. Τοὺς [δὲ | ἱα]ρῆας τοῦ Ἀπόλλωνος αἱρείσθων ἐκ τῶν γερόντων τῶμ μὴ ἱα[ριτ]||25 ευωκότων μὴ νεωτέρους πεντήκοντα ἐτῶν απκ | vacat

§ 4. [Σ]τρατηγὸς δὲ ἔστω Πτολεμαῖος αὐ<τό>ς. Πρὸς δὲ τοῦτον αἱρείσθωσαν [στρατη]|γοὺς πέντε ἐκ τῶν μήπω ἐστρατηγηκόντων μὴ νεωτέρους πεντήκ[οντα] | ἐτῶν · ἐὰν δὲ πόλεμος ἦι, ἐκ παντὸς τοῦ πολιτεύματος. Ἐὰν δὲ πόλεμ[ος] | προσγένηται ἄλλος τις καὶ μὴ Λιβυκός, οἱ μύριοι διαγνόντωσαν πό[τερον ||30 οἱ] αὐτοὶ στρατηγῶσιν ἢ μή · ἐὰν δὲ δόξηι μὴ τοὺς αὐτο<ύ>ς, αἱρείσθων παντ[ὸς | τ]οῦ πολιτεύματος νέων πολιτευτῶν. |

§ 5. Ἔστωσαν δὲ καὶ νομοφ<ύ>λακες ἐννῆ ἐκ τῶν μὴ νενομοφυλακηκότων, μὴ <νεώτεροι ἐτῶν -->, | καὶ ἔφοροι πέντε ἐκ τῶν μὴ ἐφορευωκότων, μὴ νεώτεροι ἐτῶν πεντήκοντα. |

§ 6. Πρασσόντωσαν δὲ οἱ μὲγ γέροντες ἐπ’ ε <ἰ>ρήνης ἔπρασσον, [ἡ <δὲ>] ||35 βουλὴ, οἱ δὲ μύριοι ἃ οἱ χίλιοι. Πάσας τὰς θανάτου δίκας δικαζ[όν]των οἱ γέροντες καὶ ἡ βουλὴ καὶ ἐκ τῶν μυρίων χίλιοι καὶ πεντακόσιοι, οἳ ἂ[ν] | κλήρωι λάχωσι · χρέσθωσαν δὲ τοῖς νόμοις τοῖς προ[τέ]ροις, ὅσοι μὴ ὑπεναντίοι [τῶι] | δε τῶι διαγράμματι. Ὑπεύθυνοι δὲ ἔστωσαν αἱ ἀρχαὶ κατα τοὺς [ὄν]|τας. Ὅτωι δ’ ἂν ἀγομένωι ὑπὸ τῶν στρατηγῶν οἱ γέρον[τε]ς καὶ ἡ βουλὴ θάνατον κρ[ί||40ν]ωσι, ἐξέστω αὐτῶι, ὁπότερον ἂν βούληται, ἢ ἐν τοῖς νόμοις δικάσασθαι ἢ ἐν Πτ[ολ<εμ>]|αίωι, ἔτη τρία. Το δὲ λοιπὸν ἐν τοῖς νόμοις δικαζέσθων. Φυγάδ<ο>ς δὲ μὴ κα[τα]|δικα[ζέ]σθων ἄτερ τῆς Πτολεμαίου γνώμης.

§ 7. Ὅστις ἐκ τοῦ πολιτ[εύ]ματος δημοσίαι ἰατρεύηι ἢ παιδοτριβῆι ἢ διδασκ[ηι] | τοξεύειν ἢ ἱππεύειν ἢ ὁπλομαχεῖν ἢ κηρύσσηι ἐν βρυτανείωι, μὴ συνπορε[υέσ]||45θω μυριακὰς ἀρχάς · ὃς ἂν τούτων ἐπικληρω[θ]είηι, τῆς ἀρχῆς [πα]υσάσθω. |

Die Zeilen 46-90 sind zu stark fragmentiert, um Ergänzungen vorzunehmen und diese zu übersetzen. Der Schluss enthält eine Reihe von Namen ernannter Magistrate

„Zum guten Glück! Bürger sollen die Männer sein, die von einem kyrenaischen Vater und einer kyrenaischen Mutter und sowie einer der Libyerinnen abstammen, (aus dem Gebiet) zwischen Katakambos und Automalax. Und die Beiwohner der Städte jenseits von Thinis, soweit die

430 Der Teminus Diagramma besitzt mehrere Bedeutungen, er stellt eine Verfügung, Bestimmung oder ein Gesetz dar, eine Steuerliste oder ein Verzeichnis. Dazu Ehrenberg 1930, 337-338. Laut Bickermann 1938, 295-312 geht das Diagramma auf ein Verzeichnis zurück. Nach Ehrenberg lässt sich kein „spezieller Inhalt oder spezielle Form damit verbinden.“ Er plädiert ebd. S. 352-353, ausgehend von Vergleichen mit weiteren Inschriften, die Inschrift nicht mehr Diagramma zu nennen, da sie eine Verfassungsänderung darstellt, die von Ptolemaios einer ehemals autonomen Polis aufgezwungen wurde. Sein Vorschlag setzte sich in der Forschung nicht durch. Konfus muten die Titel der Aufsätze von de Sanctis 1926, 145-175; 1928, 240-249 an, der das Diagramma als „Magna Charta“ bezeichnet.

Kyrenaier jene dort angesiedelt haben und jene Ptolemaios ernannt hat und diejenigen welchen vom Bürgerverband das Recht gegeben wurde, soweit dies nach den Gesetzen geschieht.

§ 1. Der Bürgerverband soll aus den 10.000 Mann bestehen. Zu ihrem Bestand sollen die nach Ägypten Geflohenen gehören, soweit sie Ptolemaios ernennt und die einen Zensus mit dem Vermögen der Frau 20 alexandrinische Minen besitzen und welche die Gutachter als unbelastet einschätzten. Und diejenigen, soweit ihnen 20 alexandrinische Minen geschuldet werden, mit dem Vermögen der Frau, auch wenn es nicht als Nettobesitz eingestuft ist, ohne das Schuld und Zinsverpflichtung geringfügig sind – und es sollen die Schuldner einen Bestätigungseid erbringen, auch wenn ihre Nachbarn keine Zensusqualifikation besitzen – sollen auch zu den 10.000 gehören, soweit sie nicht jünger als 30 Jahre alt sind. Die Älteren sollen als Zensusbeauftragte aus den 10.000 60 Männer durch Wahl bestellen, die nicht jünger als 30 Jahre alt sind, nachdem sie einen Eid auf die Gesetze geschworen haben. Die Gewählten sollen dann den Zensus vollziehen, wie es in den Gesetzen niedergelegt ist: Sie sollen im ersten Amtsjahr ihre Rechte gemäß den früheren Regelungen wahrnehmen.

§ 2. Die Boulé soll aus 500 Männern bestehen, soweit sie durch das Los bestimmt sind und nicht jünger als 50 Jahre alt sind. Sie sollen zwei Jahre lang als Ratsherren fungieren und im dritten Jahr soll die eine Hälfte durch das Los ausscheiden. Zwei Jahre sollen dazwischen liegen. Wenn die Zahl nicht zustande kommt, sollen durch das Los die anderen bestimmt werden aus den über 40 Jährigen.

§ 3. Es soll 101 Geronten geben, die von Ptolemaios ernannt werden. Wenn einer aus den 101 stirbt oder ausscheidet, sollen die 10.000 jemanden auswählen, der nicht jünger als 50 Jahre alt ist. Es soll nicht erlaubt sein die Geronten in ein Amt zu wählen, es sei denn als Stratege im Krieg. Die Apollonpriester sollen aus den Geronten gewählt werden, die eine Priesterschaft noch nicht inne hatten und nicht jünger als 50 Jahre sind.

§ 4. Ptolemaios persönlich soll Stratege sein. Zu ihm sollen fünf Strategen, aus jenen, die noch nicht das Strategenamt inne hatten und nicht jünger als 50 Jahre sind. Im Kriegsfall sollen sie aus der neuen Körperschaft (gewählt werden). Wenn ein anderer Krieg außerhalb Libyens ausbricht, sollen die 10.000 entscheiden, und wenn es nicht die gleichen sein sollen, dann sollen (die Strategen) aus der gesamten Körperschaft gewählt werden.

§ 5. Es soll auch neun Nomophylaken geben aus denen, die noch nicht das Nomophylakenamt inne hatten waren, nicht jünger als […] und fünf Ephoren aus denen, die noch nicht Ephoren waren und nicht weniger als 50 Jahre alt sind.

§ 6. Die Geronten sollen die Amtsgeschäfte führen wie sie im Frieden geführt wurden, die Boulé wie bereits in der Vergangenheit, die 10.000 wie die 1000. Über alle Kapitalklagen sollen die Geronten, die Boulé und die 1500 aus den 10.000 richten, welche durch das Los bestimmt wurden. Sie sollen die früheren Gesetze anwenden, soweit sie nicht jenen des Diagramma widersprechen. Die Magistrate sollen gegenüber den bestehenden Gesetzen verantwortlich sein.

Wer aber von den Strategen angeklagt und von den Geronten und der Boulé zur Verantwortung gezogen wird, dem soll es drei Jahre freistehen, nach den Gesetzen oder nach dem Diagramma Ptolemaios gerichtet zu werden. In Zukunft solle nach den Gesetzen verfahren werden. Zur Verbannung ist keiner ohne den Willen Ptolemaios zu verurteilen.

§ 7. Wer im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, sich dem Demos als Arzt, Jugendtrainer, Lehrer im Bogenschießen, Reiten oder Waffengebrauch widmet oder als Herold im Prytanaion, soll kein Amt der 10.000 wahrnehmen. Auf wen von dieser Kategorie das Los fällt, der soll dieses Amt nicht antreten.“

Zunächst wird auf die Forschungsgeschichte dieser bedeutsamen Inschrift eingegangen, dann auf den Charakter der Verfassung, anschließend auf die Frage, ob die Verfassung zu einer neuen Kollektivbildung mit einer spezifischen Identität führt sowie auf die Rolle von Ptolemaios. Die ersten Arbeiten, die nach der Erstpublikation durch S. Ferri im Jahre 1926 erscheinen, befassen sich vornehmlich mit der Datierung der Stele. Ferner versucht die Forschung mit Analogien zu ergründen, auf welcher Grundlage die neue Verfassung entstanden ist und ob bewusst aus Verfassungen anderer Poleis Elemente entnommen wurden.431 Ferri selbst glaubt, im ptolemäischen Diagramma Institutionen zu entdecken, die in der Verfassung des arkadischen Koinon im 4. Jh. v. Chr. enthalten sind. Seiner Auffassung nach übernehmen sie die Kyrener. Ferri datiert die Stele in die Zeit nach 250 v. Chr. (nach

431 s. zur Forschungsgeschichte der Datierung Laronde 1987, 87-89.

dem Tode Magas) und stellt ferner die These auf, dass die Verfasser der arkadischen Ordnung, Ekdelos und Demophanes, auch in Kyrene an einer Verfassung arbeiteten.432 G. de Sanctis folgt der Interpretation von Ferri,433 andere Forscher hegen aber bald Zweifel. Aufgrund des fehlenden Königstitels in der Inschrift – die Diadochen tragen den Königstitel erst seit 306 v.

Chr. – datiert die Mehrheit der frühen Forschung die Verfassung in die Jahre 322/21 – 308 v.

Chr.434 In diesem Zeitraum erobert Ptolemaios die Kyrenaika drei Mal und kann eine neue Verfassung einsetzen. Das Diagramma ist die einzige zeitgenössische Quelle aus diesem Zeitraum zu sein, die über die Verfasstheit des kyrenischen Poliskollektivs Aufschluss gibt.

M. Cary und V. Ehrenberg sprechen sich für eine genuine Entwicklung der Verfassung in Kyrene unter der ptolemäischen Oberherrschaft aus, dabei datiert Cary die Inschrift in die Jahre 322/21 v. Chr. Für eine frühe Entstehung des Diagrammas spreche die in Z. 7 belegte Aufnahme der zu Ptolemaios Geflüchteten. Sie stehen fortan unter seinem Schutz und er legt fest, sie wieder in die Bürgerschaft aufzunehmen: ὑπαρχόντωσαν δὲ οἱ φυγάδες οἱ ἐς Αἴγυπτον φυγόντες. Dagegen bleibt Ehrenberg hinsichtlich der Datierung unschlüssig, sieht jedoch als Verfasser die Nomotheten von Kyrene an.435 Taeger und Larsen datieren die Inschrift wie Cary in die Jahre 322/20 v. Chr. nachdem die Truppen Ophellas die Region erobert hatten (322/21) und Ptolemaios selbst in Kyrene weilte (321/20).436 Heichelheim und Otto entscheiden sich aus numismatischen Gründen für eine Abfassung des Diagrammas in die Jahre 308/07 v. Chr. Die in §2 erwähnten 20 Minen, laut Heichelheim eine „attische Alexanderwährung“, seien im 3. Jh. v. Chr. zugunsten anderer Währungen ersetzt worden, die Gold- und Silberprägung existiert im Kyrene des 3. Jh. v. Chr. nicht mehr. Ebenso sei weder von Magas, noch seiner Tochter die Rede.437 In der Forschung setzt sich letztlich die These der Einrichtung dieser Verfassung nach der ersten Eroberung der Kyrenaika (322/321 v. Chr.) durch, dafür spricht vor allem die Tatsache, dass die zu Ptolemaios Geflüchteten sogleich Berücksichtigung finden.438

Uneinig ist sich die Forschung über die Ausrichtung der Verfassung. Der Zensus deutet zunächst auf einen oligarchischen Charakter hin.439 Aber der relativ niedrige Betrag von 2000 attischen Drachmen ist lediglich ein Pauschalbetrag, für keinen Amtsträger ist ein gesonderter Betrag vorgesehen. Die Boulé mit ihren 500 Mitgliedern am Anfang von § 3 erinnert an die Demokratie, ebenso wie das Losverfahren. Jedoch ist das Mindestalter (50 Jahre) weitaus höher angesetzt und die Amtsträger nur für einen befristeten Zeitraum von zwei Jahren Mitglied. Am Ende des zweiten Jahres tritt die Hälfte der Mitglieder zurück. Um einen radikalen Wechsel innerhalb der Boulé und den damit verbundenen Traditionsbruch zu vermeiden, wird der Rat alljährlich um die Hälfte seiner Mitglieder ergänzt. Die aus aristokratischer Zeit stammende Gerusie teilt sich die Macht mit der demokratischeren Boulé, im Unterschied zu anderen oligarchischen Verfassungen gibt es hier keinen Zensus.440 Der undemokratische Charakter der Gerusie tritt durch die begrenzte Anzahl an Mitgliedern, das Mindestalter und der Mitgliedschaft auf Lebenszeit hervor. Die Geronten können jedoch

432 Ferri 1926, 9. Ferri bezieht sich auf eine Stelle bei Polybios (10, 22, 2-3), wo Ekdelos und Demophanes gerufen werden: ἔτι δὲ Κυρηναίων αὐτοὺς μεταπεμψαμένων ἐπιφανῶς προύστησαν καὶ διεφύλαξαν αὐτοῖς τὴν ἐλευθερίαν. Diese von den beiden eingerichtete Verfassung hätte Ptolemaios II. Philadelphos dann zu seinen Gunsten abgeändert. Plutarch und Pausanias nennen statt Damophanes einen Megalophanes. Laut Ziegler 1934, 231 sind Ekdelos und Demophanes die ursprünglichen Namen, er schreibt „von Μεγαλοπολῖται wurde Δεμοφάνες in Μεγαλοφάνες verderbt.“

433 de Sanctis 1926, 148-151; 1928, 244-249.

434 So Heichelheim 1927, 177; Otto 1928, 77-79; Larsen 1929, 359; Ehrenberg 1930, 332-336.

435 Ehrenberg 1930, 353. Cary 1928¸ 223 verbindet ihre Datierung mit der Rückführung der politischen Flüchtlinge. Zur Entstehung schreibt Cary (ebd. S. 238): „In general, it may be said that the constitution of Cyrene was as much home-grown at that of most Greek States.“

436 Taeger 1929, 454-455.; Larsen 1929, 358-359.

437 Heichelheim 1927, 176-178. 180; Otto 1928, 77-78. Auch Fraser 1972, 48 datiert in die Jahre 308/07 v. Chr.

438 So etwa Larsen 1929, 357.

439 Vgl. Arist. pol. 3, 6, (1278 a 23).

440 Auch in Arsinoe gibt es eine Gerusie und eine Boulé. s. dazu das Ehrendekret aus Arsinoe S.E.G. 26, 1817 in Z. 62-63: δέδοχθαι τοῖς γέροισι καὶ τᾶι βωλᾶι. Vgl. zu den Gegenüberstellungen der Institutionen auch Larsen 1929, 362-367 und Bacchielli 1985, 9.

abgesetzt werden (Z. 21). Scheidet ein Mitglied aus, wird es durch die Wahl aus den 10.000 aus der Gerusie ergänzt (§ 3). Erstmalig ernennt die Geronten Ptolemaios.

In der den Kyrenern aufgezwungenen Verfassung zeigen sich Regelungen und Mittel, die auch in anderen von Griechen bewohnten Regionen Anwendung finden. Dies erstaunt nicht, da den Eliten ein begrenzter Vorrat an rechtlichen und schriftlich fixierten Regelungen sowie Formen der Kommunikation und Interaktion zur Verfügung steht. So fungiert in Kyrene eine Reihe von Körperschaften, die in vielen Verfassungen griechischer Poleis anzutreffen sind.

Das Ephorat stammt aus Sparta, die Gerusie, die Strategie, die Boulé, Hetairien und der Bürgerverband der 10.000 existieren in vielen Poleis.441 Auffallend sind die Parallelen zwischen der neuen Verfassung in Kyrene und den athenischen Verhältnissen des 5. und 4. Jh.

v. Chr. Das Strategenkollegium in Kyrene, in dem Ptolemaios auf Lebenszeit Mitglied sein soll, findet sich im Athen des 5. Jh. v. Chr. und zur Zeit des Demetrios von Phaleron wieder.442 Ferner besteht in Kyrene, wie in Athen, das oberste Gericht aus 1500 Männern, die aus den 10.000 ausgelost werden, ebenso existiert auch ein nach athenischem Muster geschaffener Rat der 500. Auffallend sind die Nomophylaken und Nomotheten, die in dieser Zeit lediglich in Athen und dessen Einflussgebiet zu finden sind sowie die Ephoren, die im oligarchischen Athen 404 v. Chr. amtieren.443 Eine Parallele für den Mindestzensus findet sich in der oligarchischen Verfassung Athens nach dem Ende des Lamischen Krieges.444 Um dem Bürgerverband der 10.000 anzugehören, müssen die Männer älter als 30 Jahre alt sein (§1), ebenso wie die Gewählten, die den Zensus vollziehen (§1). Aus den 10.000 wählt man auch die 1500 Geschworenen (§6). Die 500 Ratsmitglieder sollen ebenfalls älter als 50 Jahre sein (§2), im Notfall können über 40-Jährige (§2) hineingewählt werden. Die Geronten (aus ihnen wählt man auch die Priester), Strategen und Ephoren sollen älter als 50 Jahre sein (§3-5).445 Im ptolemäischen Diagramma spielt die Volkszugehörigkeit nur eine untergeordnete Rolle, lediglich in der Präambel (Z. 2-4) wird auf die Abstammung der Bürger eingegangen. Im Unterschied zu den Verfassungen anderer Poleis mutet die Verleihung des Bürgerrechts an Individuen, deren Mütter Libyerinnen sind, sehr tolerant an. Auf die Frage nach den Mischehen wird unten näher eingegangen.446 Die neue Verfassung führt zu einer neuen Kollektivbildung, doch bereits im Entstehen werden immanente Segmentierungen sichtbar.

Zum Bürgerverband gehört nämlich auch das Segment der nach Ägypten geflohenen Aristokraten (Z. 6). Sie genießen bei der makedonischen Administration ein höheres Vertrauen.

Es ist kein Zufall, dass gerade in der Boulé und der Gerusie das Segment der oligarchisch gesinnten Aristokraten die Mehrheit an Mitgliedern stellt. Wie Laronde in einer prosopographischen Untersuchung feststellte, wird das zu Ptolemaios geflohene Segment in der neuen Verfassung bevorzugt. Zwei Drittel der im Diagramma erwähnten Amtsinhaber sind bereits in früheren Zeitperioden Magistrate. Sie üben fortan durch ihre Kontrollfunktion Macht über die 10.000 aus, sie eint ihre gemeinsame Vergangenheit als Amtsinhaber, Vertriebene und von Ptolemaios Wiedereingesetzte. Ihre Auswahl ist Ptolemaios zuzuschreiben, der die Macht dieses Kollektivs erkennt, denn Insgesamt sind in den Augen der Makedonier nur wenige Bürger vertrauenswürdig. Ptolemaios und seine Beamten verlassen sich letzten Endes auf jenes Segment aus Aristokraten, die sich bereits 331 v. Chr. Alexander angenähert hatten (Diod. 17, 49, 2-3). Diese Aristokraten akzeptieren die ptolemäische Oberherrschaft, dabei verzichtet aber Ptolemaios auf eine rein oligarchische Verfassung, um neue Unruhen zu

441 Belege für das Ephorat finden sich in Sparta und anderen lakonischen Poleis, in Messenien, im lukanischen Herakleia und auf Thera. s. Ottone 2000, 70-71 mit Anm. 7-10 und weiterer Literatur. Entgegen Ferri 1926, 11 begegnet die Zahl 10.000 öfters in Verfassungen. Vgl. Arist. Pol. 2, 5, 2 (1267b 30) der sich zum Stadtplaner Hippodamos äußert: „Er errichtete einen Staat mit einer Bevölkerung von 10.000. Und diesen Staat teilte er in drei Teile auf: Einen Teil bestimmte er aus Handwerkern, einen Teil aus Bauern, den dritten aber aus denen der Kämpfer und Waffentragenenden […].“

442 Heichelheim 1927, 179. Vgl. auch Larsen 1929, 357.

443 Hierzu Judeich 1925, 254-266; Heichelheim 1927, 180.

444 Heichelheim 1927, 179; Taeger 1929, 441.

445 Das Mindestalter der neun Nomophylaken kann aufgrund einer Beschädigung der Stele in den Zeilen nicht eindeutig ermittelt werden. Anzunehmen ist, dass auch sie mindestens 50 Jahre alt sein müssen.

446 s. zu den Mischehen unten auf S. 158-164.

vermeiden.447 Insgesamt wird also die frühere, oligarchische Verfassung aus der Zeit vor 324/23 v. Chr., welche die Zahl der Vollbürger auf 1000 Mitglieder normierte, gelockert.

Letzten Endes ist die aufgezwungene Verfassung kein Angebot an alle Bürger, sich dem neuen Kollektiv anzuschließen. Es ist nicht bekannt, wie lange diese Verfassung Bestand hat, wahrscheinlich wird sie nach wenigen Jahren gestürzt. Es ist anzunehmen, dass den übrigen Mitgliedern des Bürgerverbandes die Bevorzugung des Segmentes bekannt und aufgrund der Verfügungen des Ptolemaios gleichermaßen suspekt ist. Obgleich gemeinsam kommuniziert wird und man sich in den Gremien trifft, entsteht wohl – hierzu existieren Quellen nicht – kein starkes Kollektivbewusstsein und keine spezifische Identität im Sinne der Makedonen.

Die Intention der zum Teil hohen Altersgrenzen ist nicht gänzlich klar, möglicherweise will Ptolemaios die bereits älteren Aristokraten oligarchischer Gesinnung gegenüber anderen Segmenten der Aristokratie vorziehen. Zu den konkreten Kollektiven, gehören die Politen mit eingeschränkten Bürgerrechten und der Bürgerverband der 10.000 (§1). Ein Vorteil dieser großen Versammlung liegt in der Beibehaltung kleinerer Gremien wie der Boulé oder der Gerusie, die weiterhin großen Einfluss auf die Geschicke der Polis besitzen. Letztendlich trifft man in den Gremien die wichtigen Entscheidungen zu innen- und außenpolitischen Fragen.

Markant sind in der Verfassung die immer wieder genannten Alters, - Geschlechts,- und Zensuseinteilungen, die über die Zulassung zu bestimmten Ämtern entscheiden. Altersgruppen treten in den ersten fünf Paragraphen in Erscheinung, es sind abstrakte Kollektive, über die sich im Regelfall die Mitglieder der Versammlungen und Gremien nicht definieren.448

Den Kollektiven sowie dem gesamten Bürgerverband ist Ptolemaios gleich- und gegenübergestellt, selbstredend durch Beamte und Truppen. Er verfügt über die zukünftige Zusammensetzung der Bürgerschaft und ihre Segmentierung in Versammlungen und Gremien.

Von nun an sollen die Kompetenzen der ehemaligen 1.000 auf die 10.000 übergehen (§ 6), die Ratsmitglieder aber amtieren wie in früheren Zeiten.449 Die Bürger scheidet Ptolemaios in zwei Segmente, in ein konstitutives mit allen Rechten versehenes Politeuma, das von § 6 an das Wahlrecht praktiziert, und einen abstrakten Verband an Politen mit eingeschränkten Rechten. Ausgedrückt wird dies im Gegensatz Πολίτευμα δ’ ἔστω – Πολῖται ἔσονται (§1 Z. 2;

6).450 Weiter ernennt Ptolemaios Bürger und Geronten (§ 1; 4) und fungiert als einer der sechs Strategen. Ferner kann er Recht sprechen (§6), wenn bei Kapitalklagen der Angeklagte wünscht, von ihm und nicht von kyrenischen Magistraten abgeurteilt zu werden. Ebenso wacht Ptolemaios über die Verbannung von Personen. Die oktroyierte Verfassung spiegelt vor allem den Willen Ptolemaios' wieder, das konkrete Segment der oligarchisch gesinnten Aristokraten gegenüber anderen Parteiungen innerhalb der Aristokratie sowie den unteren sozialen Schichten vorzuziehen.

Diese immanente Segmentierung ist der Grund für die Schwäche dieser Verfassung. In den nächsten Jahrzehnten müssen die Ptolemäer Kyrene mehrfach zurückerobern, um ihre Macht

Diese immanente Segmentierung ist der Grund für die Schwäche dieser Verfassung. In den nächsten Jahrzehnten müssen die Ptolemäer Kyrene mehrfach zurückerobern, um ihre Macht