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Einführung: Die Kollektivitätstheorie

Dieser Abschnitt geht auf die Kollektivitätstheorie von K. P. Hansen ein, die vielversprechend für die Behandlung kollektiver Identitäten in der Kyrenaika ist. Die Kollektivitätstheorie ist nicht als bekannt vorauszusetzen, das Forschungsthema Kollektivität als Teil der Gruppensoziologie findet in der Geschichtswissenschaft nur wenig Beachtung.

Grundlagentexte sind jüngeren Datums. 2009 erschien Kultur, Kollektiv, Nation von K. P.

Hansen und im April 2011 die vierte Auflage seiner Einführung Kultur und Kulturwissenschaft. In dieser Auflage rückt der Kollektivbegriff in den Mittelpunkt.152 Jedes Kapitel dieses Abschnitts ist mit einer Definition des in dieser Arbeit verwendeten Begriffes versehen. Das erste der folgenden Kapitel diskutiert den Kulturbegriff. Das zweite Kapitel geht auf das Kollektiv ein. Das dritte Kapitel geht auf das Individuum ein, das zahlreiche Prägungen aufweist und Mitglied in vielen Kollektiven ersten Grades ist. Im vierten Kapitel wird auf das Poliskollektiv, das Kollektiv zweiten Grades eingegangen. Das fünfte Kapitel behandelt das Konzept des Dachkollektivs, ein Kollektiv dritten Grades. Doch auch das Dachkollektiv ist weder statisch, noch von anderen Kollektiven abgeschlossen. In ihm finden sich vielmehr Verhaltensweisen und kulturelle Elemente, die in vielen Gesellschaftsformationen zu finden sind, worauf das sechste Kapitel eingeht. Schließlich wird im siebten Kapitel der Konstruktcharakter von abstrakten Kollektiven betont. Es zeigt sich am Ende, dass Gruppen aus einer relativ überschaubaren Anzahl von Menschen lediglich die Untergruppen weit größerer Verbände und Formationen sind, die nicht durch Blutsverwandtschaft konstituiert werden.

1. Kultur

In dieser Arbeit wird Kultur definiert als die Gesamtheit an Gewohnheiten, die mit Zuhilfenahme von Kommunikation in einem Kollektiv von dessen Mitgliedern praktiziert werden. Kultur setzt sich also aus drei Faktoren zusammen: aus Gewohnheiten, Kommunikation und Kollektivität.153 Mit anderen Worten definierte bereits E. B. Tylor diesen häufig verwendeten, auf die Praxis vieler Individuen pochenden Kulturbegriff als „im weitesten ethnographischen Sinne jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.“ 154 Diese Aufzählung erlernter und verinnerlichter Kulturgüter lässt sich nach Hansen auf zwei Gemeinsamkeiten reduzieren: Alle aufgezählten Einzelheiten geben sich zum einen als Gewohnheiten zu erkennen, zum anderen praktiziert man sie als kollektives Gleichverhalten in der Gesellschaft.155 Auch von Althistorikern wird die Definition Tylors positiv bewertet. Für J. Hall beispielweise könne Kultur als eine Serie von Prozessen verstanden werden, in denen Individuen bewusst Ideen, Werte, Haltungen und Handlungen kommunizieren, mobilisieren und somit Kultur erst durch diese Prozesse konstituieren. 156 Wie bereits in der Einleitung angedeutet, liegt in den altertumswissenschaftlichen Disziplinen der Forschung der Fokus auf größeren Gebilden, zum Beispiel Völkern oder Stämmen und nicht bei Untergruppen. Man geht von einer einzigen

„Kultur“, der Kultur, aus und untersucht pauschalisierend das kollektive Gleichverhalten der

152 Hansen 2009, 15-121; 42011, 139-222.

153 Zu diesen Faktoren Hansen 42011, 15. 32-33.

154 Tylor 1871, 1. Folgt man der Definition des Begründers der Sozialanthropologie stellen Kultur, Zivilisation und Gesellschaft Synonyme dar, denn Tylor listet alle Institutionen auf, welche das Zusammenleben der Menschen normativ regulieren. Tylor verwendete diese Definition vorbehaltlos für archaische und moderne Gesellschaften, da er glaubt, dass der Entwicklungsstand einer bestimmten Kultur lediglich die Stufe einer einzigen Formation repräsentiere.

155 Hansen 42011, 29: „Alle Einzelheiten geben sich zum einen als Gewohnheit zu erkennen und zum anderen als solche, gesellschaftlicher Art. Im Endeffekt ergibt sich die Aussage, dass Kultur die Gewohnheiten einer Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe umfasst.“

156 Hall 2004, 45-46.

Kulturträger, der Individuen.157 Die griechische Kultur, so wird postuliert, sei das kollektive Gleichverhalten der Griechen, das sie über viele Jahrhunderte tradieren.

2. Was ist ein Kollektiv?

Nach dem Kulturbegriff soll in diesem Kapitel auf das Kollektiv und das Kollektivbewusstsein eingegangen werden. Im vorherigen Kapitel wurde definiert, dass Kultur die Gesamtheit an Gewohnheiten umfasst, die in einem Kollektiv praktiziert werden. In dieser Arbeit rücken Kollektive als Kulturträger in den Fokus. Die nächste Definition lautet, dass ein Kollektiv aus einer Ansammlung von Individuen besteht. Die Anzahl an Individuen kann je nach Kollektiv variieren. Die Mitglieder eines Kollektivs stehen untereinander durch Kommunikation und gemeinsame Interaktionen in Kontakt und finden sich in regelmäßigen Abständen zusammen.

Durch das Praktizieren gemeinsamer Gewohnheiten konstituieren sie Kollektive. Stets setzt die Bildung und Aufrechterhaltung eines Kollektivs „einen kommunikativen Kontakt zwischen den Mitgliedern des Kollektivs voraus“.158

Kollektive können nicht durch mutmaßliche objektive Merkmale konstituiert werden, sondern durch gemeinsame Praktiken und Kommunikation. Beide Faktoren entfachen schließlich ein Zusammengehörigkeitsgefühl bei ihren Mitgliedern, diese nehmen teil am positiv besetzten Kollektivbewusstsein.159 Die Individuen vertreten den Standpunkt, ein Teil des jeweiligen Kollektivs zu sein und halten durch ihr kollektives Fühlen, Denken und Verhalten die Kultur des jeweiligen Kollektivs am Leben.160 Die Kommunikation und Integration wird insbesondere durch Sprache, eine Hochsprache beziehungsweise einen institutionalisierten Dialekt erleichtert.161 Dabei verhalten sich die Mitglieder nur partiell gleich und sind außerdem zeitgleich Mitglieder in anderen Kollektiven.162

Das Mitglied eines Kollektivs und der außenstehende Betrachter besitzen im Allgemeinen eine unterschiedliche Auffassung über den Charakter der Gruppe. Die handelnden Individuen innerhalb des eigenen Kollektivs erachten das kollektive Gleichverhalten als sinnvoll, während einige Verhaltensweisen außenstehenden Beobachtern nicht ohne weiteres als plausibel erscheinen. Von Forschern kann daher der Fehler begangen werden, ein zu starkes Kollektivbewusstsein anzunehmen, das sich notwendigerweise früher oder später entwickeln wird. Denn obwohl in der Geschichte zahlreiche Kollektive als Akteure auftreten, müssen die Handlungen der Kollektive nicht das Ergebnis eines entwickelten Kollektivbewusstseins sein.

Außerdem ist nach einer begründeten Grenzziehung zu fragen, inwiefern Individuen zu einem bestimmten Kollektiv gehören oder auch nicht. Denn Termini wie „Kollektiv“ oder „kollektive Identität“ oder Kollektivnamen können die Existenz bestimmter Gruppen suggerieren, obgleich sich in ihnen kein Bewusstsein bildete. 163 Insofern ist zwischen konkreten

157 Vgl. Hall 2008, 405: „[…] and if there is one trait that characterises the Greeks throughout much of their history it is their mobility.“ (Hervorhebung vom Verf.). Hingegen verneint er (ebd. S. 43) eine „singular Greek society“ in der archaischen Epoche.

158 Zitat bei Hansen 42011, 31. Da kein Individuum dem anderen gleicht, sind die Interessen und das Mitteilungsbedürfnis bei den Mitgliedern unterschiedlich ausgeprägt. Streng genommen wird das Kollektiv Hansen 42011, 160 zufolge „durch eine partielle Gemeinsamkeit der ihm zugerechneten Individuen konstituiert“.

159 Niethammer 2000, 252; Hansen 42011, 31. Laut Niethammer 2000, 177-179 läuft das Individuum aber Gefahr, die eigene individuelle Identität im Kollektiv zu verlieren, indem es diese unterdrückt oder das Realitätsbewusstsein verdrängt und sich dem kollektiven Treiben anpasst.

160 Dazu schreibt Hansen 42011, 121: „Indem die Mehrheit der Individuen das Kollektiv kopiert, entsteht es.

Insofern ist es jeder einzelne selbst, der Kollektiv und Kultur am Leben hält, obgleich er meint, es seien die Anderen.“

161 Zur Kommunikation Hansen 42011, 43-44. 69-71. Gerade die anderen, ungeplanten Zeichen, die in der Antike unbewusst gelernt und in der Moderne oft nicht mehr verstanden werden, wecken aber das größte Interesse der Forschung, weil sie mehrdeutig sein können und mitunter ganze Ensemble bilden.

162 s. dazu Hansen 2009, 27: „Ein Kollektiv wird durch die partielle Gemeinsamkeit der ihm zugerechneten Individuen konstituiert.“ Für Niethammer 2000, 252-253 ist die Gleichheit zwischen Gruppenmitgliedern „eine unwillkürliche kulturelle Differenzerfahrung […]. Die Differenz wird nicht definiert, kann aber als Konstruktion gewertet werden.“

163 Wie Hansen 42011 richtig bemerkt, divergieren auch die Urteile über Kollektive gegenüber Individuen. Die Untersuchung von Kollektiven verlange Pauschalurteile und Verallgemeinerungen, welche Ausnahmefälle innerhalb des Kollektivs missachten.

Kollektiven, die anhand von Quellen greifbar sind und abstrakten Kollektiven zu unterscheiden. Erkennbar werden abstrakte Kollektive etwa bei großen Staaten und Reichen, ihren Einwohnern kann man nicht pauschal gleiche Gefühle und ein gleiches Denken attestieren.

Unlängst haben zahlreiche Forscher erkannt, dass Eliten in großen Kollektiven wie Organisationen und Staaten das Zusammengehörigkeitsgefühl der Individuen für ihre Zwecke in Form von beispielsweise Zielen und Symbolen vereinnahmen können und dabei andere Individuen und Kollektive ausschließen. Hierzu stellen politische Führer und Intellektuelle die konstruierte Identität bewusst über die reale soziale und politische Heterogenität, um alle Kollektive zu einer Einheit zu formen. Unterdessen werden die mutmaßlich trennenden Merkmale zu anderen Kollektive betonet, diese gar abgewertet. Der Sinn dieser ideologischen Konstruktion besteht darin, bestimmte Schichten, Klassen oder andere Kollektive zu einem bestimmten Fühlen, Denken und Handeln zu animieren. Man versucht, eine bestimmte (erwünschte) soziale oder kulturelle Homogenität des Handlungsträgers zu konstituieren.164 Auch in den Altertumswissenschaften wurde kürzlich auf das Zusammenfassen ganzer Regionen unter einer erfahrungsarmen Einheit aufmerksam gemacht. So stellte M. Dreher fest, dass trotz des regelmäßigen Gebrauchs des Terminus Westgriechen noch niemand den Versuch unternommen hätte, diesen näher zu erläutern. Folgt man modernen Autoren, die diesen Terminus unreflektiert benutzen, ergeben sich zwangsläufig Unklarheiten in der Lokalisierung der Westgriechen. Je nach Interessensschwerpunkten, wie zum Beispiel Studien zur Regionalgeschichte oder der Chronologie, beziehe die Forschung bestimmte griechische Siedlungen im Mittelmeerraum mit ein oder klammere sie aus.165 Im Französischen und Italienischen finden sich insgesamt nur zurückhaltende Formulierungen.166 Der oft in der englisch- und deutschsprachigen modernen Literatur verwendete Begriff Westgriechen beziehungsweise Western Greeks findet sein Pendant bei den Ostgriechen (Eastern Greeks), mit denen vor allem die Griechen an der kleinasiatischen Küste gemeint sind.167 In diesem Fall bleiben die Schwarzmeergriechen ausgeschlossen. Es setzt sich am Ende die Erkenntnis durch, dass Pauschalurteile und die Annahme eines Selbstbewusstseins bei einigen Kollektiven nicht aufrechterhalten werden können. Es existierten keine subjektiv empfundenen Kriterien ein

„Westgrieche“ zu sein, kein Bewusstsein, keine etwaige Äußerung und somit keine Möglichkeit, am positiv besetzten Kollektivbewusstsein teilzuhaben. Kein Grieche bezeichnet sich im Altertum als „Westgrieche.“ Auch über eine Zusammenkunft aller griechischen Poleis westlich von Hellas an einem bestimmten, exklusiven Versammlungsort schweigen die Quellen. Insofern sind die Westgriechen ein abstraktes Kollektiv, das nicht als historischer Akteur in Erscheinung tritt.

164 Eine Auflistung von namhaften Theoretikern bietet Niethammer 2000, 414-416.

165 Dreher 2009, 522-524. Im Jahr 1948 erscheint das für die damalige Erforschung der Besiedlung Siziliens und Unteritaliens bedeutende Werk The Western Greeks von T. J. Dunbabin. Er selbst versteht unter den Westgriechen die auf Sizilien und Süditalien lebenden Siedler und ihre Nachfahren.

166 Vgl. Pugliese Carratelli 1996 mit dem Titel I Greci in Occidente.

167 Vgl. Cook 1982, 96-221. Oft handelt es sich, wenn der Name Ostgriechen fällt, lediglich um Materialstudien.

Die Sammelbezeichnug „Ostgriechen“ ist ebenfalls ein modernes Konstrukt.

3. Individuelle Identität und Kollektive ersten Grades

Dieses Kapitel behandelt die individuelle Identität der Menschen und die Kollektive, die sie bilden können. Die individuelle Identität wird in dieser Arbeit als eine Zusammensetzung aus Eigenschaften und Überzeugungen definiert, die in einem Kollektiv gestützt werden können.

Zum einen existieren frei gewählte Kollektivzugehörigkeiten, also Mitgliedschaften in unterschiedlichen Gruppen, etwa einem Verein oder Club. Zum anderen existieren vorgegebene Kollektivzugehörigkeiten wie die Familie oder die aufgrund der Geburt nach sich ziehende Wohnhaft in einem bestimmten Ort oder einem bestimmten Kulturkreis. Bestimmte Kollektivzugehörigkeiten ziehen entsprechende Verhaltensweisen nach sich. Hansen unterscheidet hier zwischen äußeren und inneren Bedingungen, die zu einer Verinnerlichung bestimmter Verhaltensweisen, also einer Prägung führen.168 Unter äußeren Bedingungen (1) versteht er Angebote, die von der Umwelt, das heißt von unzähligen Kollektiven an das Individuum herangetragen werden und zu einem bestimmten Fühlen, Denken und Handeln animieren. Unter inneren Bedingungen (2) versteht Hansen „die angeborenen Charaktermerkmale und zum anderen, basierend auf dem Zufall spezieller Lebensumstände, die gemachten Erfahrungen.“ 169 Dabei steht die Bereitschaft, neue Verhaltensweisen und Gedankenmuster zu verinnerlichen oder sich ihnen zu verweigern, nicht ein für alle Mal fest.

Stets ist von unterschiedlichen Tiefen auszugehen, in denen Menschen Verhaltensweisen verinnerlichen.

Der Mensch ist in vielen Kollektiven Mitglied, was Hansen unter dem Begriff Multikollektivität zusammenfasst.170 Die Identität des Menschen ist somit additiv und setzt sich aus zahlreichen verinnerlichten Eigenschaften und Überzeugungen zusammen, doch sind seine Mitgliedschaften nicht voneinander abgeschottet. Ein aus Kyrene stammendes Beispiel, das ebenso aus einer anderen griechischen Polis stammen könnte, mag die Multikollektivität näher veranschaulichen. Am Ende des 2. Jh. n. Chr. wird in Kyrene eine Stele von Priesterinnen aufgestellt, welche der Artemis ein Weihgeschenk darbringen.171 Die in Zeile 33 genannte Beludria (Βελυδρία) weckte die Aufmerksamkeit von U. von Wilamowitz-Moellendorf, der das Register für die Publikation dieser Stele erstellte.172 Wilamowitz-Moellendorf stellt durch sein eingeklammertes Fragezeichen hinter dem Namen die Frage nach ihrer Abstammung, denn der Name Beludria ist nicht griechisch. Die Mitgliedschaft und die Persönlichkeit Beludrias erschöpfen sich, rein hypothetisch gesprochen, aber nicht nur in der Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppierung, etwa einem Volk. Beludria kann sich zum Beispiel als Artemispriesterin empfinden, als ein Mensch mit sowohl griechischen als auch libyschen Wurzeln, vielleicht als Gemahlin, Mutter oder als Bewohnerin der Polis Kyrene. Sie ist zur selben Zeit Mitglied in zahlreichen Kollektiven; ihr Denken und Verhalten kann nicht mit der Zugehörigkeit zu einem einzigen Kollektiv erklärt werden. Auch im Fall der Beludria ist die Multikollektivität zu erkennen. Multikollektivität ist deshalb möglich, weil sich ihre Persönlichkeit nicht in einem einzigen Kollektiv erschöpft.173 Sie besitzt vermeintlich zahlreiche Interessen und Neigungen, um anderen Kollektiven beizutreten und dürfte daher nur einen Teil ihrer Person und Persönlichkeit in das Kollektiv der Artemispriesterinnen eingebracht haben.174 Folglich erscheint eine rein ethnozentristische oder eine andere einseitige Deutung der Persönlichkeit Beludrias unangemessen.

168 Dazu Hansen 42011, 147-148.

169 Hansen 42011, 147-154. Vgl. Hansen 42011, 156-157: „Individuelle Identität, so erkennen wir, setzt sich additiv aus vielen Eigenschaften, Überzeugungen und Hobbys zusammen, die kollektiv gestützt werden. So gesehen ist meine Identität eine Addition oder besser ein Amalgam von einerseits vorgegebenen und andererseits frei gewählten Kollektiven.“

170 Zum Aspekt der Multikollektivität Hansen 42011, 156-157.

171 S.E.G. 9, 176. Dazu Ferri 1926, 29-32.

172 Ferri 1926, 35.

173 Vgl. Hansen 2009, 20: „Die Kollektivität des Menschen erschöpft sich nicht in der Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppierung […].“

174 Hansen spricht diesbezüglich von einem individuellen Überschuss, der hilft, in andere Kollektive einzutreten.

Moderne Beispiele für die Zugehörigkeit in mehreren Kollektiven gibt Hansen 42011, 156-158.

Aufgrund der postulierten Multikollektivität besteht das Priesterinnenkollektiv genau genommen nicht aus den Persönlichkeiten der Frauen, sondern nur aus dem Wunsch, der Göttin Artemis zu dienen und einige Kulthandlungen durchzuführen. Somit werden Kollektive wie das der „Artemispriesterinnen in Kyrene“ genau genommen nur durch eine partielle Gemeinsamkeit der ihm zugerechneten Individuen konstituiert. 175 Während die Artemispriesterinnen zu Beginn noch als ein konkretes Kollektiv in Erscheinung treten, wird am Ende ersichtlich, dass die Priesterinnen nicht nur in diesem Kultverein tätig sind, sondern auch gleichzeitig Mitglied in anderen, unterschiedlichen Kollektiven.176 Ihr Selbstbild unterscheidet sich somit in einem gewissen Grad von der Beobachtung eines außenstehenden und deutenden Historikers. Die von Wilamowitz-Moellendorf aufgeworfene Frage nach der Abstammung Beludrias tritt in den Hintergrund, in der Tat sticht Beludria im Kontext der Inschrift als Artemispriesterin hervor und nicht als eine Griechin oder Libyerin. Diese einfachen, aus einer recht überschaubaren Mitgliederzahl bestehenden Kollektive, wie im Fall der Priesterinnen, sollen Kollektive ersten Grades genannt werden.

4. Die Polis, ein Kollektiv zweiten Grades

Das letzte Kapitel ging auf das Kollektiv ersten Grades aus Kyrene ein, das sich aus einer relativ überschaubaren Anzahl an Individuen zusammensetzt. Da Polisgemeinschaften wie Kyrene oder Barka sich aus einer unüberschaubaren Anzahl an Individuen und Kollektiven zusammensetzen, werden sie als Kollektive zweiten Grades definiert. Die Polisgemeinschaften umspannen nicht nur sehr viele, sondern auch höchst unterschiedliche Kollektive. Zu ihnen gehören beispielsweise Kultvereine, Berufsgruppen (etwa Landwirte, Handwerker, Beamte), politische Gruppierungen (Demokraten, Oligarchen) und soziale Schichten (etwa Aristokraten, die Königsfamilie, Sklaven). Solche Kollektive zweiten Grades sollen Dachkollektive genannt werden. Hansen zufolge ist das Markenzeichen eines jeden Dachkollektivs seine Polykollektivität. Die Polykollektivität betont noch einmal die Heterogenität der unter einem Dach vereinten, kleineren Kollektive ersten Grades.177 In den Poleis sind diese Kollektive nicht voneinander abgeschottet, denn die Mitglieder dieser Kollektive sind gleichzeitig in anderen Kollektiven Mitglied. Viele Kollektive sind miteinander verzahnt, sie ergänzen sich, überschneiden sich, agieren zusammen oder rivalisieren. Dachkollektive bestehen folglich aus unzähligen heterogenen Kollektiven. Zum einen bilden diese heterogenen Kollektive die Basis der Polisgemeinschaften. Zum anderen organisiert man Polisgemeinschaften wie Kyrene und andere Poleis in der Kyrenaika mittels geschaffener Strukturen, welche das heterogene Gemisch ordnen und die Polisgemeinschaften stabilisieren. Zu den Strukturen gehören zum Beispiel Versammlungen, Verträge, Gesetze, Institutionen und die Schaffung von identitätsstiftenden Geschichtskonstruktionen. Je nach Quellenlage sind diese Strukturen in jeder griechischen Polis anzutreffen. Die Strukturen bilden die Ausgangslage für eine weitumspannende Vernetzung in der Polis, sie regeln die Heterogenität und Multikulturalität aus gegensätzlichen Werten, Weltanschauungen und Denkgewohnheiten. Während sich ein Großteil des Dachkollektivs also durch Heterogenität auszeichnet, stellen beispielsweise Beamte, politische und militärische Führer und Intellektuelle gleichgeartete Strukturen her.178

175 Vgl. Hansen 2009, 19: „Die Gegenständlichkeit des Rudels basiert auf einer nur partiellen Partizipation der Einzelwesen und erweist sich daher als dynamisch und labil.“

176 Ein weiteres Beispiel ist Dorieus, Sohn von Diagoras aus der Stadt Ialysos auf Rhodos. Dieser präsentiert sich auf einer Statuenbasis (Paus. 6, 7, 1 u. 4-6. Vgl. auch Thuk. 3, 8.) als Rhodier und besitzt ebenfalls mehrere Kollektivzugehörigkeiten: Er gehört zur Familie der Diagoriden, ist Bürger der Polis Ialysos, ein Bewohner der Insel Rhodos und möglicherweise Dorier und somit Mitglied der dorischen Pentapolis und tritt schließlich als Grieche in Olympia auf.

177 Zum Folgenden Hansen 42011, 174-177.

178 Hansen 42011, 176 unterscheidet verallgemeinernd zwischen einer Basis aus heterogenen Kollektiven und einer Art Überbau: „Der Überbau sichert die Kommunikation und Interaktion sowohl zwischen den Individuen als auch den Kollektiven.“ Das Zitat ebd. S. 176.

5. Das Dachkollektiv, ein Kollektiv dritten Grades

In der Antike existieren zahlreiche Siedlungsgebiete, in denen mehrere Poleis liegen. In einigen Gebieten gibt es politische Bündnisse, die auf freiwilliger Basis beruhen oder den Bestrebungen einzelner Poleis geschuldet sind. Diese wollen ihre politische Hegemonie erweitern oder partikulare Interessen in den Vordergrund rücken. Darüber hinaus nehmen einige antike Autoren diese Gebiete als politische Einheit wahr, obgleich diese nicht als solche organisiert sind. Diese Gebiete, in denen unzählige Kollektive existieren, sollen Kollektive dritten Grades genannt werden. Als ein Beispiel eignet sich der Peloponnesische Bund.179 Der Peloponnesische Bund formiert sich Mitte des 6. Jh. v. Chr. als die Spartaner beginnen, mit ihren Nachbarstaaten Verträge abzuschließen, wobei sich die Parteien bereit erklären, die spartanische Oberherrschaft auf Dauer anzuerkennen. Ihre Identität schöpfen die Spartaner aus einem reichen Repertoire aus Genealogien und Geschichten über Migrationsbewegungen und nutzen diese als Argumente in der Diplomatie, um beispielsweise durch gemeinsame (fiktive) Ahnen Verbindungen zwischen Parteien zu knüpfen. Am Ende des 6. Jh. v. Chr. sind die Spartaner mit den meisten Poleis auf der Peloponnes verbündet oder haben diese erobert.

Daher nennt man den Bund im Altertum „Die Lakedaimonier und ihre Mitkämpfer.“ Über den Organisationsgrad des Bundes wird seit Jahrzehnten debattiert, auf ihn kann hier nicht eingegangen werden. 180 Die Spartaner nutzen also insgesamt drei Mittel, um ihren überregionalen Bund aufzubauen: militärische Gewalt, Verträge und Mythen.181 Obgleich sie sich auch untereinander bekriegen, vertreten viele Peloponnesier den Standpunkt, von den Doriern abzustammen, die in der griechischen Frühgeschichte infolge der sogenannten Dorischen Wanderung andere Volkschaften teils verdrängt, teils unterworfen hätten. Dorisch geworden seien vor allem die Landschaften Lakonien, Argolis, Korinth und Megaris.

Ebenso existieren auf der Peloponnes nicht-dorische Identitätsvorstellungen. Vor der Schlacht vor Plataiai etwa streiten Tegeaten und Athener um die Aufstellung ihrer Abteilungen und erheben vor den Lakedaimoniern Anspruch auf linken Flügel des Heeres.

Wie Herodot (9, 26, 2-5) schreibt, argumentieren die Tegeaten mit einem Mythos über die Zeit

Wie Herodot (9, 26, 2-5) schreibt, argumentieren die Tegeaten mit einem Mythos über die Zeit