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Die Judäer in der Kyrenaika

H. Segmente

4. Die Judäer in der Kyrenaika

Dieses Kapitel behandelt die in der Kyrenaika lebenden Judäer seit ihrer Ansiedlung unter den Ptolemäern bis zum Diasporaaufstand im 2. Jh. n. Chr. Hiernach verlieren sich ihre Spuren im antiken Libyen. Das erste Kapitel geht auf die kollektive Identität der Judäer ein. Das zweite Kapitel erläutert die Quellenlage in der Diaspora, denn in den Diasporakollektiven sind die Judäer häufig nur anhand von epigraphischen Zeugnissen und Gräbern zu erkennen. In der Mehrzahl passen sich die Judäer, zumindest oberflächlich, den dominierenden Konventionen an. Schließlich erfolgt ein historischer Überblick über die Ansiedlung und Vernichtung der Judäer in der Kyrenaika unter besonderer Berücksichtigung des Politeumas von Berenike und der Frage nach dem Rechtsstatus der Judäer. Die Anwendung der Kollektivitätstheorie nimmt verstärkt pankollektive Elemente in Augenschein, denn ihr Stellenwert bestimmt bei den in der Diaspora Lebenden den Grad ihres kollektiven Bewusstseins und der untereinander empfundenen Solidarität. Diese Solidarität ist letztlich kein Hindernis, sich außerhalb Palästinas (Abb. 1) in anderen Regionen, in Poleis und auf dem Land, oberflächlich zu integrieren. Gleichzeitig hat die Solidarität auch die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen zur Folge und erlebt im Diasporaaufstand einen Höhepunkt.

4.1 Die judäische Identität bis zum Beginn des 2. Jh. n. Chr.

Zahlreiche Altertumswissenschaftler und Theologen, vor allem im angloamerikanischen Raum, diskutieren seit zwei Jahrzehnten intensiv über die Termini Jew/Jude, Judaean/Judäisch, Judaism/Judentum und Judaizers/Judaisierer und Bedeutung von kollektiven Praktiken für die Identität der Judäer.1071 Zwei Tendenzen zeichnen sich ab. Zum einen fasst man die antiken Judäer als ein Volk mit einer einzigartigen Religion auf, zum anderen als Religionsgemeinschaft, deren Anhänger unterschiedlichen Völkern angehören.

Die in den antiken Texten überlieferten Selbst- und Fremdaussagen sprechen letztlich dafür, die Judäer als ein über weite Teile der antiken Welt verstreutes Volk anzusehen.1072 Die religiösen Praktiken der Judäer prägen zwar große Teile ihres Lebens, bilden aber nur ein Element ihrer kollektiven Identität.1073 Indessen übersetzen seit den späten neunziger Jahren zahlreiche Forscher Ἰουδαῖος mit Judaean/Judäer.1074 Erst in der Spätantike definiert das inzwischen christianisierte römische Reich die Judäer als Kirche beziehungsweise kultische Gemeinschaft neu.1075

1071 s. zur Diskussion bei D. R. Schwartz 2007, 3-27; Mason 2007, 457-512; Esler 2009, 73-90; Stegemann 2010, 207-236; Schwartz 2011, 208-238. Auf den Begriff Judäertum / Judentum wird im Folgenden verzichtet. Wie Mason 2007, 461-480 anhand der seltenen Belege diskutiert, steht Ἰουδαϊσμός nicht für einen bestimmten Lebensweg, sondern für konkrete Handlungsanweisungen, nach einer Zeit der Entfremdung wieder zu den kulturellen judäischen Praktiken zurückzukehren. Miller 2010, 102 zufolge begegnet der Begriff Israelit 186-mal in den ersten elf Büchern der Antiquitates Judaicae, doch in keiner anderen Schrift. Ἰουδαῖος hingegen benutzt er 582-mal (ant. Iud. 11, 5, 7 [173]), doch nur 65-mal in der ersten Hälfte der Antiquitates. Der primär für Eliten der Ἰουδαῖοι schreibende Philon gebraucht Ἰουδαῖος und Israelit gleichermaßen. Für Esler 2009, 75-77 der die Judäer ebenfalls als Volk ansieht, ist auch das Wort „Christ“ im 1. Jh. n. Chr. anachronistisch und daher unangebracht. Auch Χριστιανούς ist im Neuen Testament keine Selbstbezeichnung eines Kollektivs.

1072 Διασπορά (Verstreuung) findet keine Entsprechung in hebräischen Texten. Im Folgenden wird mit Palästina die gesamte Region an der südöstlichen Küste des Mittelmeeres bezeichnet.

1073 Diese These vertreten Cohen 1999, 7; Esler 2009, 84; Stegemann 2010, 210-216.

1074 Zur neueren Forschungsgeschichte Miller 2010, 98-100.

1075 Zum Folgenden Stegemann 2010, 213. Als grundlegend für diese Transformation begreift Goodman 1989,

Die judäischen Eliten erheben unter anderem Anspruch auf ein Territorium und eine einzigartige Geschichte,1076 (reale oder fiktive) Verwandtschaftsverhältnisse zu allen Judäern, die Verbindung mit einem spezifischen Territorium und eine politische Verfassung mit Gesetzen, die in den ersten fünf Büchern Mose enthalten sind.1077 In diesen Büchern sind die oft erwähnten, wenn auch nicht immer ausführlich beschriebenen, über Jahrhunderte tradierten Sitten der Vorväter (πάτρια νόμιμα/ἔθη) enthalten. Diese kollektiven Praktiken überragen in ihrem Alter alle Heiligtümer und Schriften. Zu ihnen gehören eine Negierung von Mischehen, um der Entfremdung von den Sitten der Vorväter vorzubeugen,1078 eine komplexe Speisegesetzgebung,1079 zu der auch die Ächtung von Schweinefleisch gehört, die Beschneidung,1080 Kalenderbestimmungen, zu denen in erster Linie der Sabbat gehört,1081 Reinheitsgesetze,1082 die Verehrung einer einzigen, namenlosen Gottheit, von der kein Bildnis angefertigt werden darf sowie der Tempelkult.1083

Die Kultur der Judäer setzt sich, wie bei anderen Kulturen auch, aus drei Faktoren zusammen, nämlich aus kollektiven Praktiken (1), regelmäßigen Zusammenkünften (2), und der Kommunikation untereinander (3). Nach dem ersten Verlust des Tempels 586 v. Chr.

avancieren die neu entstehenden Versammlungsorte (συναγωγαί) im Laufe der Jahrhunderte zu einem Substitut für kultische Versammlungen und zu einem allgemeinen, alternativen Treffpunkt der Judäer.1084 Die Synagogen sichern die Möglichkeit, durch die Befolgung aller kollektiven Praktiken innerhalb des Kollektivs, auf leichte Weise neue soziale Beziehungen aufzunehmen, zu pflegen und die Kohärenz zu stärken. Darüber hinaus dient die Synagoge in der Diaspora als zentrale Sammelstelle für die jährlich zu entrichtende Tempelsteuer.1085 Auch

40-44 die Reformen Nervas 96 n. Chr. Die gegenwärtig anzutreffende Deutung der Judäer als Religionsgemeinschaft folgt einem Religionsbegriff, der sich in der westlichen Welt erst im 18. Jahrhundert herausbildet. Nach Smith 1963, 51-54 verfügen weder nicht-christliche, noch andere Völker um die Zeitenwende über äquivalente Termini oder ein vergleichbares Konzept zum modernen Verständnis von Religion. Vgl. zu diesem Thema Stegemann 2010, 213.

1076 Cohen 1999, 7-8; Esler 2009, 82-83. Diese Geschichte setzt mit den „Stammeltern“ Noah (Ios. c. Ap. 1, 19 [130]), Abraham, Isaak, Jakob, Sara, Rebecka, Lea und Rahel ein, betont demnach das hohe Alter der Judäer.

1077 Die Verfassung nennt Josephus κατάστασις (c. Ap. 1, 11 [58]), ἐπιτηδεύματα (c. Ap. 2, 11 [123]), πολιτεύμα (c. Ap. 2, 15 [145]).

1078 Nicht-Judäer werden prinzipiell ausgeschlossen, wenn sie nicht im Kollektiv dieselben Praktiken vollziehen.

Vgl. Phil. spec. 3, 29; Ios. ant. Iud. 5, 8, 11 (306); 8, 7, 5 (191-198). Zu den Vorschriften in der Diaspora Ios. c.

Ap. 1, 7, (32). Vgl. eine Stelle im Aristeasbrief § 139: „Umgab er (der Gesetzgeber) uns mit undurchdringlichen Wällen und eisernen Mauern, damit wir uns keinesfalls mit einem anderen Volk vermischen, [sondern] rein an Körper und Seele bleiben […].“ Übers. K. Brodersen. Josephus berichtet in c. Ap. 76 (426) von seiner Trennung und einer darauffolgenden Ehe mit einer geborenen Judäerin (τὸ δὲ γένος Ἰουδαίαν) aus Kreta.

1079 s. die Speisevorschriften in Lev. 11–15. Vgl. Tac. hist. 5, 4, 3.

1080 Cohen 1999, 39-40 nimmt an, dass die Beschneidung zuerst während der Makkabäerzeit eine Rolle bei der Äußerung einer judäischen Identität spielt. Jedoch dauert es ein Jahrhundert, bis Außenstehende beginnen, die Beschneidung mit den Judäern zu assoziieren. Auch die Römer verfahren auf diese Weise bis zum Verbot der Beschneidung unter Hadrian. Vgl. SHA Hadr. 14, 2: Moverunt ea tempestate et Judaei bellum, quod vetebantur mutilare genitalia. Merkwürdig mutet mutilare an, ist in anderen antiken Texten stets von circumcidere oder circumcisio die Rede. Hadrians Nachfolger nehmen die Judäer von diesem Verbot aus. s. Cohen 1999, 46.

Hingegen scheinen Judäer die Beschneidung nicht als Indiz anzusehen, zu ihnen zu gehören.

1081 5 Moses 5, 12-14. Hinsichtlich der Schlüsselereignisse in der hellenistischen Periode gehört beispielsweise das Hanukkah-Fest, welches an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem 164 v. Chr. gedenkt.

Vgl. 1 Makk. 4, 36–59; 2 Makk. 10, 5–8; Joh. 10, 22; Ios. ant. Iud. 12, 7, 7 (323-326).

1082 Aristeasbrief § 305-306: „Wie es aber bei allen Judäern Brauch ist, wuschen sie sich die Hände im Meer […]. Und sie erläuterten, dass sie damit bezeugten, nichts Schlechtes getan zu haben – denn jede Tat wird mit den Händen getan […].“ Übers. K. Brodersen.

1083 Zum Bilderverbot 5 Moses 5, 6-11; Lucan. 2, 593: dedita sacris Judaea incerti dei; Schol. Lucanum 2, 593 (ed. Usener): Hierosolimis fanum cuius deorum sit non nominant, neque ullum ibi simulacrum esse, neque enim esse dei figuram putant; Cass. Dio 27, 17, 2: ἄρρητον...καὶ ἀειδῆ αὐτον νομιςοντες εἶναι.

1084 Vgl. Ios. ant. Iud. 14, 10, 17 (235). s. auch Kraabel 1981, 82; Claußen 2002, 151-165. Architektonisch greifbar sind Synagogen erst im 3. Jh. v. Chr.; bezeichnender Weise außerhalb Palästinas. s. dazu CIJ 1440 = JIGRE 22 und CPJ Nr. 1532a, die jeweils eine προσευχή in Ägypten belegen.

1085 Ios. ant. Iud. 14, 7, 2 [110]: „Es darf übrigens nicht wundernehmen, dass ein solcher Reichtum in unserem Tempel angehäuft war: hatten doch alle Juden des Erdkreises und alle Verehrer des wahren Gottes sowohl in Asien wie in Europa seit langen Zeiten (durch die Tempelsteuer, Anm. des Verf.) dazu beigetragen.“ Übers. H.

Clementz. Vgl. Phil. legat 156-157. Nach Applebaum 1979, 184 kann es sich bei der Tempelsteuer nicht um

die Judäer in Kyrene sammeln den halben Schekel ein.

Die Quellen belegen vor allem eine über Jahrtausende tradierte Kultur, die sich vor allem aus kollektiven Praktiken zusammensetzt, die man in Versammlungen vollzieht. Dennoch erfährt die individuelle Identität eines jeden Judäers unterschiedliche Prägungen, stets sind die Judäer auch Mitglied in anderen Kollektiven. Die Kriterien für die Zugehörigkeit zum judäischen Volk sind besonders ausgeprägt und können in den Gemeinschaften im Privaten, als auch in der Synagoge und der unmittelbaren Öffentlichkeit praktiziert werden. Für S. J. D.

Cohen ist die Zugehörigkeit zum judäischen Volk in Palästina vorgegeben und nicht zu vermeiden, hingegen kann man sie in der Diaspora verstecken und leugnen. Sie ist eine bewusste Wahl, die von der Umwelt willkommen geheißen und toleriert wird, in manchen Fällen aber auch Nachteile mit sich bringt.1086 Ferner verneint Cohen eine Identifizierung von Judäern anhand ihrer Kleidung, ihrer Sprache, Namen, ihrer Wohnhaft in einem bestimmten Stadtteil oder anhand einer umfassenden amtlichen Registrierung.1087 Und in der Tat finden sich in den seit dem 5. Jh. v. Chr. belegten anthropogeographischen Bemerkungen keine Angaben über die Kleidung und das Erscheinungsbild der Judäer.1088 Eine in der Forschung als bedeutend angesehene Selbstdefinition der Judäer ist in Josephus Schrift Contra Apionem (2, 18-19 [179-180]) enthalten. In diesem apologetischen Werk, das Josephus am Ende des 1.

Jh. n. Chr. verfasst, berichtet er über die Eintracht der Judäer und betont ihr kollektives Gleichverhalten. Neben dem Bekenntnis zu Gott und dessen Verehrung (δόξαν περὶ θεοῦ / εὐσέβειαν) betont Josephus vor allem allgemeine Bekanntheit und die Einhaltung der verinnerlichten Gesetze:

ἡμῶν δὲ ὁντινοῦν τις ἔροιτο τοὺς νόμους ῥᾷον ἂν εἴποι πάντας ἢ τοὔνομα τὸ ἑαυτοῦ.

τοιγαροῦν ἀπὸ τῆς πρώτης εὐθὺς αἰσθήσεως αὐτοὺς ἐκμανθάνοντες ἔχομεν ἐν ταῖς ψυχαῖς ὥσπερ ἐγκεχαραγμένους, καὶ σπάνιος μὲν ὁ παραβαίνων, ἀδύνατος δ᾽ ἡ τῆς κολάσεως παραίτησις. Τοῦτο πρῶτον ἁπάντων τὴν θαυμαστὴν ὁμόνοιαν ἡμῖν ἐμπεποίηκεν: τὸ γὰρ μίαν μὲν ἔχειν καὶ τὴν αὐτὴν δόξαν περὶ θεοῦ, τῷ βίῳ δὲ καὶ τοῖς ἔθεσι μηδὲν ἀλλήλων διαφέρειν, καλλίστην ἐν ἤθεσιν ἀνθρώπων συμφωνίαν ἀποτελεῖ.

„Bei uns hingegen mag man den ersten besten über die Gesetze befragen und er wird sämtliche Bestimmungen derselben leichter hersagen als seinen eigenen Namen. Weil wir nämlich vom Erwachen des Bewusstseins an die Gesetze erlernen, sind sie in unsere Seelen eingeladen. Übertretungen kommen infolgedessen selten vor; zugleich aber ist auch jede die Abwendung der Strafe bezweckende Ausrede unmöglich gemacht. Dies vor allem hat die wunderbare Eintracht unter uns geschaffen. Denn eine und dieselbe Überzeugung von Gott haben, im Leben und in den Sitten sich nicht voneinander unterscheiden – das bringt die schönste sittliche Übereinstimmung unter den Menschen zustande.“

Diese subjektiven Kriterien, die auch deswegen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können, sind keine Randbemerkung, sondern dienen als Belege für die Überlegenheit der Judäer gegenüber der Lebensweise der Griechen, ihren Kulten und Mythen. Obgleich die archäologischen Befunde und Inschriften zwar Hinweise auf die unterschiedlichen Strukturen der Diasporagemeinschaften geben, bleiben das Bekenntnis zu Gott, die Gesetze der Väter und die Tora die zentralen pankollektiven Elemente unter den Judäern. Man verkündet und erläutert sie im Privaten, aber in erster Linie in der Öffentlichkeit, etwa in der multifunktionalen Synagoge. Selbst die von Josephus dargestellten Philosophenschulen akzeptieren diese Elemente, auch wenn sie etwa die Tora anders auslegen.1089

tributa handeln, da außerhalb Palästinas kein judäisches Kollektiv als eigenständige Körperschaft Tribute zahlt.

Die Tempelsteuer findet ihre erste Erwähnung bei Ios. ant. Iud. 18, 9, 1 (312-313). Vgl. Cic. Flacc. 28, 66-69:

Cum aurum Iudaeorum nomine quotannis ex Italia et ex omnibus nostris provinciis Hierosolymam exportari soleret […].

1086 Cohen 1999, 27.

1087 Cohen 1999, 28-39. 49-52.

1088 Cohen 1999, 67-68.

1089 Die von Josephus beschriebenen Sekten, die Stegemann 2010, 217-218 überzeugend als Philosophenschulen (φιλοσοφεῖται) beschreibt, stellen lediglich kleine Minderheiten dar, die ebenfalls die Tora akzeptieren, auch

Insgesamt erweist sich die Summe dieser pankollektiven Elemente als stark genug, seit hellenistischer Zeit auch im Mittelmeerraum ein Kollektivbewusstsein unter den Judäern entstehen zu lassen und die Kontinuität einer kulturellen Grenze aufrechtzuerhalten.

Gleichfalls ist festzuhalten, dass das Volk der Judäer nicht durch mutmaßliche objektive Merkmale konstituiert wird, sondern durch historisch gewachsene und subjektiv empfundene.1090 Dabei verhalten sich die Judäer in den Gemeinschaften nur partiell gleich, denn sie erfahren unterschiedliche Prägungen und sind außerdem zur gleichen Zeit Mitglied in anderen Kollektiven. Die im Kindesalter in den Diasporagemeinschaften übernommenen Praktiken werden unterschiedlich tief verinnerlicht.1091 Die Judäer besitzen schließlich die Überzeugung, ein Teil des judäischen Volkes zu sein und halten durch ihr kollektives Fühlen, Denken und Verhalten ihre Kultur am Leben und die Grenzen gegenüber Nicht-Judäern aufrecht.

4.2 Die Quellenlage in der Diaspora

Hinsichtlich der Identifizierung von Judäern in der Diaspora verlässt sich die Forschung seit jeher auf epigraphische Zeugnisse und Gräber. Im Allgemeinen stellen sie den einzigen Befund dar.1092 Bei den mehr als 40 Inschriften, in denen das Wort Ἰουδαῖος/Ἰουδαῖα zu lesen ist, wurden in der Vergangenheit zahlreiche Thesen bezüglich der Bedeutung aufgestellt. Laut einer Klassifizierung durch M. Smith können vier Unterscheidungen getroffen werden: Ein Ἰουδαῖος ist ein Mitglied der Phyle der Judäer (1), eine in Judäa geborene Person (2), das Mitglied eines von JHWH auserwählten Volkes (3) und schließlich ein Mitglied der Allianz der palästinensischen Völker unter den Hasmonäern (4).1093 Diese Kriterien, die einen Ἰουδαῖος definieren, handelt man in Diskursen aus, die Bedeutung der Kriterien kann in Abhängigkeit des Kontextes variieren. Zum Beispiel kann man nicht strikt zwischen den Judäern in Palästina und in der Kyrenaika unterscheiden. M. F. Lowe zufolge wird Ἰουδαῖος auch im 1. Jh. n. Chr. weiterhin mit Palästina verbunden.1094 M. H. Williams weist aber darauf hin, dass Ἰουδαῖος/Ἰουδαῖα in den meisten Fällen kein Personenname sei und auch nicht zwingend ein Beleg für eine Herkunft aus Judäa (das seit 135 n. Chr. Syria Palaestina heißt).

In Palästina finde sich Ἰουδαῖος kein einziges Mal. Ebenso fehlt bis in die Kaiserzeit der Bezug zu einer exklusiven kultischen oder kommunalen Gemeinschaft. Ἰουδαῖος sei letztlich

wenn sie die Schrift unterschiedlich auslegen. Stegemann betont, dass selbst bei einer kleinen Gesamtbevölkerung von einer halben Million Judäern in Palästina nicht von einer durch religiöse Splittergruppen fragmentierten Gesellschaft in dieser Epoche zu sprechen ist. Josephus gibt die Zahl der Pharisäer mit 6000 an (ant. Iud. 17, 2, 4 [41-42]) und bezeichnet sie auch nur als Segment (μόριόν) der Judäer.

4000 zählen zu den Essenern (ant. Iud. 18, 1, 5 [20]) und nur wenige Judäer aus der Oberschicht gehören zu den Sadduzäern (ant. Iud. 18, 1, 4 [16-17]): εἰς ὀλίγους δὲ ἄνδρας οὗτος ὁ λόγος ἀφίκετο, τοὺς μέντοι πρώτους τοῖς ἀξιώμασι […]. Vgl. Ios. bell. Iud. 2, 8, 2-14 (119-166); ant. Iud. 18, 1, 2-6 (11-25); Vita 2, 10-12.

1090 Zur Kollektivbildung schreibt Hansen 42011, 31: „Kollektive konstituieren sich durch gemeinsame Standardisierungen, wahrscheinlich in der Weise, dass die erste immer schneller weitere nach sich zieht, bis ein Kollektivbewusstsein erreicht ist. Dieser Prozess setzt bei jedem Schritt einen kommunikativen Kontakt zwischen den Mitgliedern des Kollektivs aus.“

1091 Wie Hansen 42011, 148 schreibt, stehen „[…] Internalisierungsbereitschaft und Internalisierungsverweigerung nicht ein für alle Mal fest, zum anderen müssen wir von unterschiedlichen Internalisierungstiefen ausgehen.“

1092 Noy 1998, 78-82 unterscheidet in den Diasporagemeinschaften zwischen drei Bestattungsformen: im ersten Fall lassen sich Judäer in den Gemeinschaften bestatten, in denen sie gelebt hatten. Zu beobachten ist diese Wahl besonders in den Katakomben Roms. Im zweiten Fall, in der Zeit vor der Errichtung eigener Katakomben im 3.

Jh. n. Chr., lassen sich Judäer in gemischten Nekropolen bestatten. Die dritte und letzte Form, die eine Überführung des Leichnams nach Palästina beinhaltet, wird nur von einer winzigen Minderheit praktiziert.

Hingegen zweifelt Rajak 1994, 238-240 an der Exklusivität der Grabstätten. Und wie Price 1994, 173 anmerkt, lassen sich Judäer aus Palästina auch fern ihrer Heimat bestatten, denn zahlreiche Epitaphien zeugen von Judäern, die zwischen Diasporagemeinschaften migrieren. Bis heute konnte die Forschung in Kleinasien keine explizit judäischen Nekropolen identifizieren. Laut Williams 2013c, 278 finden sich jedoch größere Konzentrationen im phrygischen Hierapolis und auf Korkyra.

1093 Smith 1999, 208-210. Vgl. auch Esler 2009, 80. 86-89 der anhand Contra Apionem Josephus' Denken belegt, bis auf zwei Ausnahmen jedem Volk ein Territorium zuzuordnen.

1094 Lowe 1976, 104-106.

nur als eine mit Stolz von Judäern und Nicht-Judäern verwendete Statusbezeichnung und Ehrenbezeugung zu verstehen, die je nach Ort und Zeitperiode dazu dient, Ähnlichkeiten zu betonen oder Unterschiede zu markieren.1095

Darüber hinaus enthält eine bedeutende Anzahl der als judäisch kategorisierten Inschriften widersprüchliche Züge, die auf einen anderen kulturellen und kultischen Hintergrund hindeuten. Wie R. S. Kraemer hervorhebt, können in der Vergangenheit als judäisch charakterisierte Termini und Formeln durchaus in anderen Kontexten verwendet worden sein.

Beispielsweise bezeichnen sich in einigen Fällen auch Vereine der Griechen als συναγογή und προσευχή und stehen unter der Leitung von ἀρχισυνάγογοι, ἄρχοντες, πρεσβύτεροι und γερουσιάρχοι.1096 Lediglich der Terminus Rabbi wird ausschließlich von Judäern benutzt.

Ferner weist Kraemer die Verwendung bestimmter Formeln und Redewendungen auch Nicht-Judäern nach. Laut B. Isaac seien Inschriften mit hebräischen oder aramäischen Sätzen nicht einmal ein Hinweis auf konkrete Sprachkenntnisse.1097 Und zuletzt existieren zahlreiche Inschriften, die keine onomastischen, ikonographischen oder anderen Kriterien erfüllen, um sie als judäisch zu charakterisieren. Durchaus können Polisstrukturen als äußere Bedingung so stark auf Personen einwirken, sodass sie sich den lokalen Konventionen völlig anpassen.1098 In neueren Arbeiten gelten folgende Kriterien für die Identifizierung von Judäern im Inschriftenmaterial: der Gebrauch der hebräischen Sprache, die nur bei den Judäern eine Liturgiesprache ist (1), die Verwendung spezifischer judäischer Symbole (2) (Menora, Lulav, Etrog, Schofar), die Identifizierung von Personen mit judäischen Namen oder der Bezeichnung Ἰουδαῖος/Ἰουδαῖα in Kontexten, die auf die Bestattung von Judäern schließen (3),1099 insbesondere wenn Inschriften aus Synagogen stammen (4) oder zumindest eine judäische Terminologie gebrauchen (5).1100 Dabei ist auch die Intention des Auftraggebers einer Inschrift nicht immer leicht zu beurteilen, da im Regelfall eine Anpassung der Individuen an die Konventionen der dominanten Gesellschaft erfolgt und sich Judäer auch von Polis-Strukturen beeinflussen lassen. So denkt zum Beispiel W. Ameling an das Mittteilungsbedürfnis vieler Judäer, die nicht nur mit den Angehörigen ihrer eigenen Verwandtschaft, sondern auch mit der nicht-judäischen Umwelt in Kontakt treten wollen, wenn sie sich der Sprache und Symbolik ihres unmittelbaren Milieus bedienen. Deshalb wären hebräisch- oder aramäischsprachige Inschriften in der Diaspora kaum anzutreffen. Auf eine Harmonisierung verzichten auch die Judäer in den Katakomben in Rom. Sie lassen die Inschriften in der Mehrzahl auf Griechisch setzen.1101 Dies verwundert nicht, denn das Griechische hatte seit der hellenistischen Periode in den Oberschichten Palästinas eine bedeutende Stellung eingenommen.

1095 Williams 2013c, 267-279.

1096 Kraemer 1991, 144-149; Ameling 2004, 11. Im Gegenzug verwenden auch Judäer zahlreiche Formeln anderer Religionen. s. dazu Kraemer 1991, 155-161.

1097 Isaac 2009, 66-68. In seiner Untersuchung der lateinischen Inschriften glaubt Isaac feststellen zu können, ob Latein die erste, zweite oder dritte Sprache der Auftraggeber ist. Die bewusste Verwendung einer bestimmten Sprache sieht er als Ausdruck eines bestimmten Bewusstseins mit einem sozialem und politischem Nachklang.

Ameling 2009 denkt an Analphabeten, die Inschriften lediglich in Auftrag geben.

1098 Kraemer 1991, 162; Ameling 2007, 265-266. Die archäologischen Befunde aus Sizilien belegen aut Finley 1968, 168-169 ein gutes Beispiel für ein unsichtbares Kollektiv, hier nehmen die Judäer fremde Grabsitten an und sprechen Griechisch. Cohen 1999, 68 wiederum diskutiert antike Texte, die zwischen Judäern und jenen unterscheiden, die sich lediglich wie Judäer verhalten. So bezeichnen sich einige als Judäer wenn dieser Status ihnen bestimmte Privilegien zusichert. In Rom und Kleinasien etwa genießen die Judäer eine Reihe von Privilegien und ragen sozial und ökonomisch hervor.

1099 Nach Ameling 2009, 218 tritt in der Spätantike Hebraios öfter in Erscheinung, ebenso bezeugen die nun aufkommenden hebräischen Buchstaben und Formeln die Trennung der Judäer von den Christen.

1100 Diesen Kriterienkatalog entwickeln Kant 1987; Noy – Panayotov – Bloedhorn 2004, V; Ameling 2004, 8-24.

1101 Ameling 2007, 258 nennt als Beispiel die Inschriften aus den Katakomben von Beth She’arim, Rom und Venosa. Dortige Inschriften richten sich einzig an Judäer, während Grabinschriften aus Hierapolis oder Korykos für die gesamte Öffentlichkeit bestimmt sind. Vgl. TMeg 2, wo der im 2. Jh. n. Chr. nach Sardeis gereiste Rabbis Meir keinen hebräischen Text vorfindet und ihn stattdessen auswendig vorträgt. s. auch Ameling 2009, 203-204.

1101 Ameling 2007, 258 nennt als Beispiel die Inschriften aus den Katakomben von Beth She’arim, Rom und Venosa. Dortige Inschriften richten sich einzig an Judäer, während Grabinschriften aus Hierapolis oder Korykos für die gesamte Öffentlichkeit bestimmt sind. Vgl. TMeg 2, wo der im 2. Jh. n. Chr. nach Sardeis gereiste Rabbis Meir keinen hebräischen Text vorfindet und ihn stattdessen auswendig vorträgt. s. auch Ameling 2009, 203-204.