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hinweise auf die verbreitung und ausformung von antisemitismus

Handlungsempfehlungen – Antisemitismus und Religion

10 Antisemitismus bei Geflüchteten

10.3 hinweise auf die verbreitung und ausformung von antisemitismus

unter Geflüchteten

Im Folgenden wird zunächst eine Beschreibung Derjeni-gen vorDerjeni-genommen, die nach bisheriDerjeni-gen Erkenntnissen in den vergangenen beiden Jahren als Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind. Anschließend werden die bislang vorliegenden Erkenntnisse in Bezug auf Verbrei-tung und Ausformung von Antisemitismus bei Geflüchte-ten zusammengetragen. Hier fließen auch die Ergebnisse aus der qualitativen Befragung von Geflüchteten im Rahmen der in Auftrag gegebenen Expertise II ein.

10.3.1 Erfahrungen in Zusammenhang mit der Flucht und als Geflüchtete

Die Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kom-men, dürften auf der einen Seite als ehemalige Bewohner der Länder, aus denen sie stammen, über die gleichen Sozialisationserfahrungen und kulturellen Prägungen verfügen, wie andere Personen aus den entsprechenden

779 zitiert nach sina arnold, expertise I, s. 11.

780 ebenda.

Herkunftsländern.781 Auf der anderen Seite unterschei-den sie sich aber auch in einigen Aspekten von der dort noch ansässigen Bevölkerung. Insbesondere verfügen sie über Erfahrungen, die sie sowohl von der Bevölkerung im Herkunftsland als auch von anderen Migrantinnen und Migranten in Deutschland unterscheiden, und die ggf.

Einfluss auf ihren möglichen Antisemitismus haben kön-nen. Dies sind u. a. die Entscheidung zur Flucht aus eben gerade diesem Herkunftsland, Erfahrungen vor der Flucht bzw. Erfahrungen, die zur Fluchtentscheidung geführt haben, die Fluchterfahrung selbt, das Erleben der Auf-nahme, aber auch des »Fremdseins« in einem neuen Land einschließlich Ablehnungserfahrungen, das Herantasten an eine neue Kultur usw.

Die Erfahrungen vor der Flucht und die Zustände in den Herkunftsländern, die zur Entscheidung zur Flucht geführt haben, dürften bei etlichen Geflüchteten eine distanzierte bis ablehnende Haltung zum Herkunftsland wahrscheinlich machen. Die gefühlte Distanz dürfte stark in Abhängigkeit der Fluchtgründe bzw. der Zugehörigkeit zu politischen Lagern und sozialen Subgruppen variieren.

Diese mehr oder weniger ausgeprägte Distanz könnte sich mittelbar auch auf die häufig israel- und judenfeindliche offizielle Linie der Regierungen in den Herkunftsländern beziehen. Wahrscheinlich ist – aber dazu liegen bislang keine gesicherten Befunde vor –, dass sich das Ausmaß und die Art und Weise von Antisemitismus etwa bei west-lich orientierten Regimeflüchtlingen aus dem Iran oder Syrien von dem traditionell orientierter, streng religiöser Personen aus diesen Ländern oder von säkularen, über-zeugten Regimebefürwortern, die ebenfalls vor dem Krieg in Syrien fliehen, unterscheiden. Welche Rolle die Bildung spielt, ist ebenfalls noch nicht geklärt. Im vorliegenden Sample der qualitativen Studie scheint Bildung kein rele-vanter Einflussfaktor für Einstellungen zu sein. Auch in Bezug auf Geschlecht lassen sich nur geringe Unterschiede feststellen.

10.3.2 Diskriminierungserfahrungen

Die große Mehrheit der Geflüchteten fühlt sich in Deutschland willkommen, auch wenn dieses Gefühl etwas nachzulassen scheint, was offenbar auch an enttäusch-ten Erwartungen liegt. Etliche sprechen von Diskrimi-nierungserfahrungen und dem Gefühl, abgelehnt zu

781 vgl. hierzu die weltweit 2014 und 2015 durchgeführte Umfrage der an-ti-Defamation league (aDl), Global 100: an Index of anti-semitism, new York 2014, zu antisemitismus und antizionismus in den regionen des Mittleren Osten und nordafrikas (Mena), http://global100.adl.org/public/aDl-Global- 100-executive-summary.pdf (eingesehen am 10. 4. 2016).

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werden.782 Die im Rahmen von Expertise II interviewten Geflüchteten berichten etwa von Diskriminierungen durch Übersetzer, Sicherheitspersonal und andere Bewohner nicht nur in den Unterkünften. Auch der mehrheitsgesellschaftliche Rassismus hat Auswirkungen auf ihre Lebensrealität: So kursieren unter den Geflüch-teten Warnungen vor und Erfahrungen mit rassistischen Übergriffen. Mehrere äußerten die Angst, dass der Diskurs um Terrorismus und Islamismus Einfluss darauf hat, wie Geflüchtete von der deutschen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden. Frauen wie Männer berichten in diesem Zusammenhang etwa von abwertenden Blicken und Kommentaren im öffentlichen Raum aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit. Die Angst vor entsprechender Diskriminierung äußerte ein Fünftel der Gesprächspart-nerinnen und -partner.

Die Erfahrung als Geflüchtete und als Minderheit in Deutschland könnte auf der einen Seite Empathie mit Juden als verfolgter Minderheit befördern. Andererseits verweisen Studien darauf, dass eigene Diskriminie-rungserfahrungen eher antisemitische Einstellungen befördern.783 In den Interviews der Expertise von Arnold/

König (Expertise II) lässt sich allerdings kein direkter Zusammenhang zwischen Diskriminierungserfahrun-gen – ob in Deutschland oder dem Herkunftsland – und einem hohen Ausmaß an antisemitischen Einstellun-gen herstellen. Im GeEinstellun-genteil: DiejeniEinstellun-gen Befragten, die stärker von Rassismuserfahrungen berichten, sind oftmals weniger antisemitisch eingestellt und weisen ein höheres Maß an Empathie gegenüber jüdischen Anliegen auf. Ein Unterschied zeigt sich zwischen der Wahrnehmung von persönlicher Diskriminierungserfahrung und der einer generellen Diskriminierung von Muslimen bzw. dem Islam. Letztere wird in manchen Fällen damit erklärt, dass – so ein Interviewpartner – die »Juden die Muslime schlecht darstellen«. Hier existiert also eine antisemiti-sche Interpretation der Wahrnehmung von Muslimen als benachteiligter Gruppe.

782 was wir über Flüchtlinge (nicht) wissen. Der wissenschaftliche erkennt-nisstand zur lebenssituation von Flüchtlingen in Deutschland. eine expertise im auftrag der robert Bosch stiftung und des svr-Forschungsbereichs, Januar 2016, s. 75 ff.

783 Jürgen Mansel/viktoria spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt:

soziale Beziehungen, Konfliktpotentiale und vorurteile im Kontext von erfah-rungen verweigerter teilhabe und anerkennung bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, Universität Bielefeld 2010. hier zeigen sich ähnlichkei-ten zum effekt, der als kollektive relative Deprivation (→ einstellungen) dem Gefühl, als Gruppe schlechter gestellt zu sein im vergleich zu einer anderen, bekannt ist. thomas F. Pettigrew/Oliver christ/Ulrich wagner/roul Meertens/

rolf van Dick/andreas zick, relative deprivation and intergroup prejudice, in:

Journal of social Issues 64 (2008), s. 385–401.

10.3.3 Einstellungen und Werthaltungen mit Blick auf Demokratie und Menschenrechte

Eine groß angelegte Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), in deren Rahmen im Jahr 2014 Befragungen durchgeführt wurden, hat erste empirische Befunde vorgelegt, die u. a. Auskunft zu Werthaltungen von Geflüchteten geben.784 Antisemitische Einstellungen wurden in dieser Befragung des BAMF nicht gesondert erhoben.

Die Ergebnisse verweisen einerseits auf eine hohe Zustim-mung zu Demokratie und Rechtsstaat, andererseits aber auch, insbesondere bei Personen aus Ländern des Nahen Ostens, auf autokratische und technokratische Grundhal-tungen sowie die Befürwortung des Erlasses von Gesetzen durch Religionsführer. In einer begleitenden qualitativen Befragung von 123 Geflüchteten durch das BAMF wird zudem deutlich, dass viele Geflüchtete von den negativen Erfahrungen der politischen und religiösen Verfolgung in ihren Heimatländern geprägt sind und daher ausdrücklich Werte der Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit sowie Fami-lienwerte befürworten.785 Sie schätzen demokratische Werte, den respektvollen Umgang miteinander und die Achtung der Menschenrechte. Gerade auch die Religions-freiheit und das Zusammenleben verschiedener Religio-nen werden von den Befragten positiv hervorgehoben. In der qualitativen Studie von Sina Arnold und Jana König meinen viele der Interviewten, den Islam in Deutsch-land besser ausüben zu können, da dieser hier weniger politisiert sei. Auch die Möglichkeit, nicht religiös zu sein, und das Ausmaß an bürgerlichen Freiheiten, insbeson-dere für Frauen, schätzen viele von ihnen. Insgesamt zeigt sich bei den Befragten eine hohe Identifikation mit den in Deutschland verankerten Werten, so ein Zwischenfa-zit der Studie.786 Eine Studie der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) bestätigt den Befund, wonach sich Flüchtlinge klar zu Demokratie und zur Trennung von Staat und Religion bekennen, mehrheit-lich aber ein konservatives Weltbild vertreten.787

Ganz ähnlich auch die Befunde aus der Befragung im Rahmen von Expertise II über die Vorstellungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben und den Wünschen der Befragten. Mehrere Befragte kritisierten die gesell-schaftlichen Verhältnisse in ihren Herkunftsländern: Sie

784 IaB-BaMF-sOeP-Befragung von Geflüchteten: Überblick und erste er-gebnisse, in: IaB Forschungsbericht 14 (2016).

785 herbert Brückner/tanja Fendel/astrid Kunert/Ulrike Mangold/Manu-el siegert/Jürgen schupp, Geflüchtete Menschen in Deutschland. warum sie kommen, was sie mitbringen und welche erfahrungen sie machen, IaB Kurzbe-richt 15 (2016).

786 ebenda, s. 5.

787 ronald Freytag, Flüchtlinge 2016. studie zu Demokratieverständnis und Integrationsbereitschaft unter Flüchtlingen der hochschule für Medien, Kom-munikation und wirtschaft (hMKw), Berlin 2016, Folien 8 und 9.

wünschen sich ein demokratischeres System, in dem die bestehenden Diskriminierungen von Minderheiten durch Gleichstellung abgelöst werden. Während zwei Befragte Homosexualität explizit ablehnen, tolerieren andere – trotz grundsätzlicher Skepsis – gleichgeschlechtliche Lebensweisen. Vier weitere Befragte zogen den Islam sogar heran, um ihre Akzeptanz von Homosexualität zu begründen. Zwei Interviewpartner äußerten die Hoffnung, dass sich durch die Konfrontation mit anderen Lebens-realitäten in Deutschland auch Rollenerwartungen unter Geflüchteten ändern, etwa in Bezug auf Frauenrechte. Fast alle der Befragten planen eine Zukunft in Deutschland, nur drei hoffen auf eine Rückkehr in ihr Heimatland.

In Bezug auf die Einstellung zur Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ähneln die Einstellung eher denen von Befragten aus Deutschland, weniger denen von Einwohnern in den Herkunftsländern, so die Befunde der BAMF-Studie.

Dass bei der Beantwortung der Fragen auch die Motiva-tion, sich sozial erwünscht und angepasst zu verhalten, eine Rolle gespielt hat, lässt sich nur vermuten. Allerdings sind auch die Antworten der deutschen Befragten von diesen Faktoren in nicht unerheblichem Ausmaß zuguns-ten toleranterer Werthaltungen beeinflusst.788 Bei den Geflüchteten dürfte der Wunsch, einen guten Eindruck zu hinterlassen, stark ausgeprägt sein, insbesondere bei einer Face-to-face-Befragung durch Interviewer des BAMF, das über ihre Asylbescheide verfügt. Viele Geflüchtete sind – so die Erfahrung in Praxisprojekten – hoch motiviert, sich anzupassen und »alles richtig« zu machen.789 Auch die BAMF-Studie berichtet von einem ausgeprägten Willen zur Integration. Deutlich wird zudem eine hohe Bereit-schaft zur positiven Reziprozität, d. h. der Wunsch, etwas zurückzugeben.

10.3.4 Religion, Religiosität, religiöse Praxis

In der qualitativen Befragung im Rahmen von Exper-tise II bezeichneten sich bis auf vier der Befragten alle Interviewten als Muslime. 15 von ihnen beten regelmäßig, sieben fasten und acht besuchen häufig die Moschee.

Die Wahl der Moschee wird dabei fast ausschließlich

788 Indiz dafür sind u. a. die abweichungen der zustimmungswerte zu homo-phobie, aber auch zu anderen elementen Gruppenbezogener Menschenfeind-lichkeit in der durch die Friedrich ebert stiftung geförderten studie von andreas zick/Beate Küpper/Daniela Krause, Gespaltene Mitte – Feindselige zustände.

rechtsextreme einstellungen in Deutschland, Bonn 2016, in der die Befragten telefonisch interviewt werden, und der studie von Oliver Decker/Johannes Kiess/elmar Brähler, Die enthemmte Mitte. autoritäre und rechtsextreme ein-stellungen in Deutschland Die leipziger »Mitte«-studien 2016, hrsg. v. heinrich Böll stiftung, leipzig 2016, in der die Befragten die gleichen Fragen anonym per Fragebogen beantworten, und die z. t. deutlich höhere zustimmungswerte ausweist.

789 erfahrungen u. a. in Projekten im rahmen des Bundesprogramms »Inte-gration durch Qualifizierung«, konkret beobachtet u. a. im Projekt »Kulturelle vielfalt in Betrieben«, IQ-netz nrw.

durch die örtliche Lage (bspw. Nähe zur Unterkunft oder Sprachschule) oder Empfehlungen von Familienmitglie-dern bestimmt. Dieser Pragmatismus deckt sich mit der Einschätzung vieler Befragter, dass inner-muslimische Konflikte in Deutschland weniger relevant als im Her-kunftsland sind. Es gibt nur wenige Hinweise auf aktive Rekrutierungsversuche durch islamistische Gruppen in Unterkünften. Ein Sozialarbeiter berichtete von vereinzel-ten Vorfällen. Aufgrund der Erfahrungen mit Islamismus in den Herkunftsländern meiden einige Geflüchtete aktiv Orte, an denen sie mit entsprechenden Akteuren konfron-tiert werden können. Bei mehreren Interviewpartnern lässt sich beobachten, dass sie ihre Religion weniger bzw.

privater praktizieren als im Herkunftsland. Hier zeigen sich erste Hinweise darauf, dass neben der Gefahr der Radikalisierung auch ein Potenzial für eine De-Radi-kalisierung in Deutschland besteht, als Ergebnis einer Konfrontation mit diversen Lebensstilen und Glaubens-richtungen.

10.3.5 Der Import antisemitischer Prägungen aus den Herkunftsländern

Der Nahostkonflikt ist in vielen der Herkunftsländer ein präsentes und oft auch gezielt aufrechterhaltenes Thema.

Antisemitismus und insbesondere solcher in Bezug auf Israel wird vielfach z. B. durch Schulbücher und Filme nicht selten in quasi-dokumentarischer Form (→ Medien) bewusst und gezielt befördert. Antisemitismus ist vielfach selbstverständlicher Teil der Sozialisation durch Schule, Elternhaus und Medien und dient nicht zuletzt auch als Instrument der eigenen Darstellung als Opfer.790

Offenbar sind die Sozialisationserfahrungen im Iran hin-gegen andere. Trotz der offiziellen anti-israelischen und antisemitischen Propaganda ist die Bevölkerung nicht so antisemitisch, wie vielleicht erwartet werde könnte. Hier könnte auch die Existenz einer alteingesessenen jüdischen Gemeinschaft, die ggf. persönliche Kontakte zu Juden ermöglicht hat, eine positive Wirkung entfalten. Bei vielen jungen Iranern, die jetzt nach Deutschland kommen, dürfte auch die Kampagne in den Sozialen Medien »Israel loves Iran«791 bekannt sein, die 2012 startete und viele per-sönliche Kontakte sowie auch die umgekehrte Kampagne

»Iran loves Israel« nach sich zog.

In der qualitativen Befragung von Sina Arnold und Jana König berichtete die Hälfte der Befragten von persönli-chen Kontakten zu Juden oder Jüdinnen, von denen wie-derum die Hälfte erst in Deutschland zustande kam – etwa

790 esther webman, Discourses in antisemitism and Islamophobia in arab Media, in: european societies, 14 (2012) 2, s. 222–239.

791 http://thepeacefactory.org/israel-loves-iran/ (eingesehen 25. 11. 2016).

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über jüdische Mitschüler in der Sprachschule, durch Unterstützerkreise oder WGs.792 Diese Kontakte beschrei-ben die Geflüchteten als neutral bis positiv. Negative Einstellungen gegenüber »den Juden« scheinen selten als Argument gegen eine persönliche Beziehung zu Jüdinnen und Juden verwendet zu werden.

10.3.5.1 ergebnisse aus einstellungsbefragungen mit Personen aus ländern des

nahen und Mittleren Ostens

Die vergleichende Studie der Anti-Defamation League (ADL) (→ Einstellungen) zeugt von einer weiten Ver-breitung antisemitischer Einstellungen bei Befragten aus Ländern des Mittleren und Nahen Ostens sowie aus nordafrikanischen Ländern. Für Syrien liegen keine Anga-ben vor, aber auch hier dürfte das Ausmaß hoch sein.793 Dies gilt nicht nur für befragte Muslime, sondern– wenn-gleich in etwas geringerem Ausmaß – auch für Christen aus diesen Ländern. Erhoben wurde in dieser Studie die Zustimmung zu klassischen antisemitischen Stereotype (→ Einstellungen) und Verschwörungstheorien, die Juden einen überaus großen globalen Einfluss unterstellen.

Israelbezogener Antisemitismus, der vermutlich noch höhere Zustimmungswerte erhalten hätte, wurde nicht abgefragt. Zugleich zeigen sich im Rahmen der Studie der ADL Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern im Ausmaß von Antisemitismus. So ist Antisemitismus unter Befragten aus dem Iran vergleichsweise weniger verbreitet und erreicht hier Werte, die ähnlich auch in europäischen Ländern wie Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Polen beobachtet wurden.794

Muslime mit überwiegend migrantischem Hintergrund zeigten in ausgewählten europäischen Ländern ebenfalls höhere Zustimmungswerte zu antisemitischen Einstel-lungen als Nichtmuslime in diesen Ländern, zugleich aber nicht so hohe Werte wie die Einwohner in den entspre-chenden Herkunftsländern.795 Weit verbreitet sind antise-mitische Einstellungen auch unter muslimisch-migranti-schen jungen Menmuslimisch-migranti-schen in Deutschland mit arabischem Hintergrund bzw. unter solchen, die aus Ländern des Mittleren und Nahen Ostens stammen. Eine juden-feindliche Haltung wird vielfach als geradezu »normal«

betrachtet und als Teil der kollektiven Identität als muslimisch-migrantischer Jugendlicher verstanden

792 Dies dürfte sicher mit dem Befragungsort Berlin und der dort ansässigen vergleichsweise großen jüdischen Gemeinschaft zusammenhängen und nicht unbedingt auf andere regionen übertragbar sein.

793 aDl Global 100; aDl Global 100: 2015 Update in 19 countries, http://

global100.adl.org/#map/2015update (eingesehen 10. 4. 2016).

794 ebenda.

795 aDl Global 100 update 2015.

(→ Einstellungen).796 Hier spielt insbesondere der Nah-ostkonflikt eine wichtige Rolle für die Legitimation eines israelbezogenen Antisemitismus, aber auch klassische antisemitische Stereotype und Verschwörungstheo-rien finden Verwendung. Zugleich zeigen sich hier aber Unterschiede in Abhängigkeit vom jeweiligen Herkunfts-land. Während antisemitische Einstellungen bei jungen Menschen in Deutschland aus nord-afrikanischen bzw.

arabischen Ländern besonders weit verbreitet waren, galt dies weniger für jene aus den Herkunftsländern Afghanistan, Irak, Iran oder Pakistan, also Ländern, aus denen ebenfalls ein nennenswerter Teil der Geflüchteten stammt (die ADL-Studie Global 100 weist allerdings sehr hohe Werte antisemitischer Einstellungen für den Irak aus).797 Beobachtungen aus einer qualitativen Befragung von Schülerinnen und Schülern sowie begleitend von Lehrpersonen in Deutschland deuten darauf hin, dass das Sprechen über »Juden« im schulischen Kontext ebenfalls von antisemitischen Stereotypen durchsetzt ist. Während sich hier allerdings Jugendliche mit türkisch/arabischem Hintergrund eher verhalten äußerten und offenbar die weitgehende Ächtung antisemitischer Äußerungen beachteten, äußerten sich Schülerinnen und Schüler aus Spätaussiedler-Familien deutlich offener und brutaler antisemitisch. Inwieweit hier v. a. fragmentarisch bekannte Klischees reproduziert werden oder eine tiefer veran-kerte antisemitische Weltanschauung dahintersteht, ist unklar.798

In der qualitativen Befragung von Sina Arnold und Jana König wird deutlich, dass die Geflüchteten in den ver-schiedenen Herkunftsländern unterschiedliches Wissen erwerben, das sich auch auf antisemitische Einstellungen auswirkt: Antisemitische Äußerungen treten bei den Interviewpartnern aus Syrien, dem Irak und Afghanistan fragmentarisch auf und sind häufig von Widersprüchen gekennzeichnet. Lediglich bei einer Interviewpartnerin zeigte sich ein kohärentes antisemitisches Weltbild. In allen anderen Fällen sind Einstellungen vielmehr Teil eines selbstverständlichen Alltagsverständnisses, das in Medien- und Alltagsdiskursen des Herkunftslands geprägt wurde. In der weltweiten, 2014 durchgeführten und 2015 teilweise aktualisierten Umfrage der ADL799

796 Günther Jikeli, antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in europa. ergebnisse einer studie unter jungen muslimischen Männern, essen 2012, s. 312 f.

797 wolfgang Frindte/Klaus Boehnke/henry Kreikenbom/wolfgang wagner (hrsg.), abschlussbericht »lebenswelten junger Muslime in Deutschland«: ein sozial- und medienwissenschaftliches system zur analyse, Bewertung und Prä-vention islamistischer radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutsch-land, Berlin 2011. zusammenfassend zu antisemitismus unter jungen Muslimen in europa: Jikeli, antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen, 2012.

798 wolfram stender/Guido Follert/Mihri Özdogan (hrsg.), Konstellationen des antisemitismus. antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, wiesbaden 2010, s. 7–40.

799 vgl. global100.adl.org/ (eingesehen 14. 10. 2016). Für die herkunftsländer syrien, Irak und afghanistan gibt es allerdings keine eigenen länderstudien.

wird gezeigt, dass 74 Prozent der Befragten in der Region Mittlerer Osten und Nordafrika zwischen sechs und elf der abgefragten negativen Stereotype über Juden für

»wahrscheinlich wahr« halten.800 Diese Selbstverständ-lichkeit betrifft nicht nur das »Wissen« über Jüdinnen und Juden, sondern noch viel stärker die binäre Sicht auf den Nahostkonflikt. Für diesen Alltags-Antizionismus spielen als Einflussquellen Medien- und Alltagsdiskurse sowie Ins-titutionen eine Rolle: Ein negatives Bild von Israel wird in der Schule ebenso wie im öffentlichen Raum als Selbstver-ständlichkeit präsentiert. Syrien etwa stand seit der Grün-dung Israels dem jüdischen Staat feindselig gegenüber, und es wurde nicht nur Hass gegen Israel, sondern auch Antisemitismus offensiv verbreitet.801 Auch für den Irak ist diese Verbreitung nicht nur historisch, sondern auch in jüngeren Jahren bekannt.802 Auf die Selbstverständlichkeit und gleichzeitig mangelnde ideologische Festigkeit dieser Einstellungen verweisen mehrere der im Rahmen der Studie befragten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aufgrund ihrer Erfahrungen in der politischen Bildungsar-beit mit Geflüchteten.

Auf Basis der bestehenden Untersuchungen und den zusätzlichen Ergebnissen der Studie von Arnold/König kann daher festgehalten werden, dass dem Herkunftskon-text keine determinierende Funktion zukommt und nicht von einer homogenen »Herkunftskultur« gesprochen werden kann. Vielmehr müssen weitere Einflussfaktoren berücksichtigt werden, die antisemitische Haltungen verstärken oder verringern. Aufgrund des kleinen Samples sind dies allerdings lediglich erste Beobachtungen, die in weiteren Forschungen quantifiziert werden müssten.

10.3.5.2 religiöse, nationale und ethnische Identitäten Manche der Gesprächspartnerinnen und -partner begrün-den ihre antisemitischen wie antiisraelischen Einstellun-gen mit ihrer muslimischen Identität: Sie Einstellun-generalisieren die Annahme, dass Muslime und Juden sich historisch bedingt feindlich gegenüberstünden. In diesen Fällen verhindert das religiös geprägte »Wissen« über Juden sogar einen möglichen freundschaftlichen Kontakt. Weni-ger als der Grad der Religiosität scheint es allerdings die

800 ebenda, im vergleich zu einem weltweiten schnitt von 26 Prozent.

801 zu antisemitismus in syrien siehe aktuelle Kurzeinschätzungen von Michael Kiefer/aladin el-Mafaalani, wie antisemitisch sind arabische Flüchtlinge, ruhr-barone, 3. 11. 2015, www.ruhrbarone.de/wie-antisemitisch-sind-arabische- fluechtlinge/116536#; sowie von Jeffrey herf, was wird aus dem Judenhass der Flüchtlinge, in: welt/n24, 14. 12. 2015, www.welt.de/debatte/kommentare/

801 zu antisemitismus in syrien siehe aktuelle Kurzeinschätzungen von Michael Kiefer/aladin el-Mafaalani, wie antisemitisch sind arabische Flüchtlinge, ruhr-barone, 3. 11. 2015, www.ruhrbarone.de/wie-antisemitisch-sind-arabische- fluechtlinge/116536#; sowie von Jeffrey herf, was wird aus dem Judenhass der Flüchtlinge, in: welt/n24, 14. 12. 2015, www.welt.de/debatte/kommentare/