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antisemitismus in den christlichen Kirchen

Handlungsempfehlungen – Antisemitismus in politischen Bewegungen und Organisationen

9 Antisemitismus und Religion

9.2 antisemitismus in den christlichen Kirchen

Bereits im Bericht des ersten UEA war festgehalten worden, dass es angesichts der hohen Mitgliederzahlen in der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland sowie den empirischen Befunden zu antisemitischen Haltungen innerhalb der Gesellschaft eine offensichtliche Diskrepanz zwischen den offiziellen Verlautbarungen beider Kirchen und den Einstellun-gen an der Kirchenbasis bzw. auf Gemeindeebene gibt.

721 Bericht des Unabhängigen expertenkreises antisemitismus, antisemitis-mus in Deutschland. erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, Berlin 2011, s. 90 f.

Gleichzeitig wurde vom UEA die Notwendigkeit formu-liert, diese Diskrepanz mit empirischen Forschungen zu belegen. Dieses Desiderat gilt bleibend für den jetzigen Berichtszeitraum. Eine Ausnahme bildet lediglich eine von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 2014 bei ProVal (Gesellschaft für sozialwissenschaft-liche Analyse – Beratung – Evaluation) in Auftrag gege-bene qualitative Studie zu den Fragen, in welcher Weise unterschiedliche Gemeindekontexte und die Ausprägun-gen von Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Homo-phobie zusammenhängen und welche Beziehungen es zwischen individuellen Glaubensüberzeugungen sowie Glaubenspraktiken und den Ausprägungen von Antise-mitismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie gibt. Da die Ergebnisse der Studie erst nach dem Abgabetermin für den Bericht vorlagen, konnte lediglich die Zusammen-fassung der Ergebnisse zur Kenntnis genommen werden.

Danach schützt der christliche Glaube nicht vor Antise-mitismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie. Je nach Bibelauslegung kann der Glaube dazu beitragen Vorur-teilen entgegenzuwirken oder aber diese zu stützen und zu festigen. Zumeist lassen sich daher in den Gemeinden beide Positionen finden: Offenheit ebenso wie vorurteils-behaftete Einstellungen gegenüber Juden, Muslimen oder Homosexuellen. Ein interessanter Befund der Studie ist die Unterscheidung zwischen dem Umgang mit Vorur-teilen in Großstadtgemeinden und Dorfgemeinden. Für Großstadtgemeinden wird von einer »intoleranten Kultur der Toleranz« gesprochen. Diese signalisiere nach außen hin eine große Offenheit gegenüber den drei genannten Gruppen, grenze aber nach innen Gemeindemitglieder, die diese Haltung nicht teilen, diskursiv aus. In dörflichen Gemeinden herrsche hingegen eine »tolerante Kultur der Intoleranz«, die insbesondere nach innen Vorurteile toleriere.

Angesichts des dennoch bleibenden Befunds der fehlen-den empirischen Untersuchungen und dem gleichzeitigen Wissen, dass auch in kirchlichen Institutionen, insbeson-dere auf Gemeindeebene, antisemitische Einstellungen vorhanden sind bzw. über kirchenspezifische Handlungen und Instrumente möglicherweise antisemitische Bilder tradiert werden, entschied der zweite UEA, sich zumindest exemplarisch mit Themen innerhalb der evangelischen sowie der katholischen Kirche zu befassen. Dabei wurde der Fokus bewusst auf Institutionen der großen Kirchen gelegt. Sich insbesondere im Bereich der evangelischen Gemeinden auch mit den freikirchlichen und/oder evangelikalen Gemeinden zu befassen, die in manchen Gegenden der Bundesrepublik großen Einfluss haben, wäre sinnvoll und nötig, konnte aber im Rahmen dieses Berichts nicht geleistet werden.

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9.2.1 Antisemitismus und Evangelische Kirche

Wie schon im ersten Bericht des UEA dargestellt, gilt für die Evangelische Kirche, dass sich in öffentlichen kirch-lich-theologischen Positionierungen »immer wieder gegen antisemitische und antijüdische Denkmuster«722 und eine »Ent-Antijudaisierung« des Neuen Testaments gewendet wird.723 Auf der Ebene von Kirchenleitungen, theologischen Fachkommissionen sowie mehrheitlich der universitären Lehre ist der theologische Diskurs geprägt vom Bemühen um den christlich-jüdischen Dialog und dem Bestreben, selbstkritisch mit der Unterstützung kirchlicher Kreise bei der nationalsozialistischen Verfol-gung der deutschen und europäischen Juden und dem dafür genutzten Potenzial christlicher Tradition umzuge-hen. Dabei geht es auch um die kritische Auseinanderset-zung mit dem christlich tradierten Bild der »Verwerfung Israels«. Zuletzt distanzierte sich die Synode der EKD am 9. November 2016 erneut eindeutig von der Judenmissi-on.724 Inwieweit diese Selbskritik die Kirchengemeinden erreicht, von Pfarrerinnen und Pfarrern diskutiert und mitgetragen wird, sich auf die Arbeit mit jungen und alten Gemeindemitgliedern auswirkt oder im Religionsunter-richt vorkommt, lässt sich nicht überprüfen. Deswegen werden hier exemplarisch eine öffentlich wirksame theologische Debatte sowie Diskussionen im Hinblick auf christliche Solidarität mit den Palästinenserinnen und Palästinensern im Rahmen der sogenannten Kairos Erklärung vorgestellt. Die im Kontext des bevorstehenden Lutherjahres zu erwartenden Publikationen, Veranstal-tungen und Diskussionen werden den Erkenntnisstand voraussichtlich erweitern.

9.2.1.1 Die »slenczka-Debatte«: zur relevanz des alten testaments für das christliche selbstverständnis

Im Berichtszeitraum fand die »bedeutendste und schärfste akademische Debatte«725 statt, die die Frage des Ver-hältnisses der Kirche zum Alten Testament aufgriff, die innerhalb der Evangelischen Kirche immer wieder kon-trovers diskutiert wird und offenbar ungeklärt ist. Durch den Bezug zur Geschichte des christlichen Antijudaismus sowie zum Antisemitismus und dem damit einherge-henden Einfluss auf die Beziehungen zwischen Christen-tum und JudenChristen-tum heute wurde die Debatte von einer

722 expertise für den zweiten Uea: christian wiese, Gutachten antijudais-mus/antisemitismus in der evangelischen theologie und Kirche, o. s. 

723 ekkehard stegemann, Der holocaust als Krise der christlichen theologie.

Juden und christen II, tagung der evangelischen akademie Bad herrenalb, no-vember 1979, s. 4 f.

724 http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/ekd-synode- distanziert-sich-von-judenmission (eingesehen 26. 11. 2016).

725 wiese, Gutachten, s. 3

größeren Öffentlichkeit wahrgenommen und in Teilen skandalisiert. Ausgelöst hat die Kontroverse ein Aufsatz des Theologen Notger Slenczka von der Humboldt–Univer-sität zu Berlin, der in einem Artikel die Position vertreten hatte, das Alte Testament solle für die Kirche keine nor-mative Geltung haben. Damit warf er die Frage auf, ob das Christentum eine Traditionslinie zwischen sich und dem Judentum sieht oder aber einen Traditionsbruch voraus-setzt und damit die jüdische und christliche Religion als nicht miteinander zu vereinbarende Glaubensrichtungen definiert. Slenczka knüpfte damit an Texte und Diskussi-onen aus dem 19. Jahrhundert an und war sich bewusst, dass seine Formulierungen in deutlichem Widerspruch zu den seit 1945 im Kontext des jüdisch-christlichen Dialogs entwickelten Positionen standen, da er von sich aus aus-führte, seine Überlegungen könnten »unter dem Verdacht des ›Antijudaismus‹« stehen.726 Die in der Debatte um den Artikel erhobenen Vorwürfe gegen Slenczka reichten von der Einordnung seiner Aussagen in eine christliche Tradi-tionslinie des Antijudaismus bis hin zu Argumentations-mustern der völkischen Bewegung innerhalb des Protes-tantismus in der späten Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus.727 Es gab heftige Kritik seitens der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, von Vertreterinnen und Vertretern der Fakultät für Evangeli-sche Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin sowie von jüdischen Intellektuellen, die mit dem protestanti-schen Diskurs vertraut sind. Die Kommentare setzten sich theologisch mit dem Ansatz Slenczkas auseinander und warfen ihm einen Mangel an historischer Reflexion vor.728 Slenczka selbst wehrte sich gegen die Vorwürfe und wies die Nähe zu antisemitischen Theologen aus der NS-Zeit zurück, verweigerte jedoch mehrfach eine wissenschaft-liche Diskussion seiner Thesen. Von zentraler Bedeutung war, dass er an keiner Stelle die Bereitschaft zeigte, sich mit der jüdischen Perspektive auseinanderzusetzen, v. a.

mit der von jüdischen Theologen, die auf die Bedeutung des Alten Testaments für Juden und Christen hingewie-sen hatten.729 Dass es in der öffentlichen Debatte sowohl Positionierungen für seine Thesen als auch dagegen gab, verdeutlicht die Notwendigkeit eindeutigerer Forschun-gen zu kirchlich-theologisch motivierten antisemitischen Haltungen innerhalb der evangelischen Kirche.

726 ebenda, s. 84.

727 ebenda, s. 10.

728 z. B. Micha Brumlik, tenach. antijudaismus im neuen Gewand?, in Jü-dische allgemeine, 23. 4. 2015, http://www.jueJü-dische-allgemeine.de/article/

view/id/22056 (eingesehen 15. 12. 2016).

729 Franz rosenzweig, weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel, in: Gs III, 837–840, wiese, Gutachten, s. 16.

9.2.1.2 antisemitismus und »Israelkritik« im Kontext der evangelischen Kirche

Weitere Hinweise für mögliche antisemitische Haltun-gen innerhalb der Evangelischen Kirche finden sich im Kontext von Äußerungen zum Nahostkonflikt sowie zur Solidaritätsarbeit und entsprechenden Solidaritätsbekun-dungen mit den Palästinenserinnen und Palästinensern.

Dies betrifft zum Beispiel Veröffentlichungen und Aufrufe in Zusammenhang mit dem Ökumenischen Solidaritäts-netzwerk Kairos Europa, anhand derer auch die Komplexi-tät der Fragestellung sowie die der Grauzonen (→ Defini-tion) in der Beurteilung einer Äußerung als antisemitisch deutlich gemacht werden können. So ließe sich etwa der Text auf der Internetseite Kairos/Kairos Palästina Solidari-tätsnetz730 von stark israelkritisch bis hin zu antisemitisch einordnen. Thematisch geht es hier um die »israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik« sowie um Boykott-forderungen gegen Waren aus »völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen in der Westbank«. Dabei sind zwei Aspekte von Bedeutung. Hinsichtlich des Boykottaufrufs, kann man auf der Seite zu lokalen Initiativen und deren Aufrufen navigieren. Im Appell des Netzwerks Heidelberg heißt es, man verpflichte sich »zur Unterstützung des gewaltlosen Widerstands gegen die israelische Politik der Besatzung, Kolonisierung und Blockade palästinensi-scher Gebiete – einschließlich Maßnahmen wie Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS)« und unterscheidet nicht mehr zwischen Siedlungen und dem Staat Israel.731 Weiterhin fällt auch die Gestaltung der Hauptseite des Solidaritätsnetzwerks auf. So könnte die Darstellung der unter dem Titel »70 Jahre Israel – 70 Jahre Entrechtung der Palästinenser« abgebildeten Landkarten durch den starken farblichen Kontrast und v. a. der isolierten Dar-stellung Israels und der palästinensischen Gebiete ohne die angrenzenden Regionen als Analogie zu dem vielfach genutzten Bild einer weltbeherrschenden Krake verstan-den werverstan-den.

Insbesondere im Rahmen der Evangelischen Kirchentage stellt sich regelmäßig die Frage, ob das Auftreten von Palästina Solidaritätsgruppen die Grenze einer Kritik zum Antisemitismus überschreitet. So wird diskutiert, ob deren vermeintliches oder tatsächliches, ganz der Solidarität mit einem unterdrückten Volk gewidmetes Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung v. a.

deswegen problematisch ist, weil an keiner Stelle die Ver-antwortung palästinensischer Vertreter, arabischer Staaten oder stark fundamentalistischer Organisationen, die seit 1948 das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellen,

730 www.kairoseuropa.de (eingesehen 11. 11. 2016).

731 http://kairoseuropa.de/wp-content/uploads/2016/10/KPs-appell-final.

pdf (eingesehen 11. 11. 2016).

benannt wird. Eine empirische Untersuchung steht in diesem Bereich ebenfalls noch aus.

9.2.2 Antisemitismus und Katholische Kirche

Auch im Hinblick auf die Katholische Kirche hat es seit dem Bericht des ersten UEA keine wissenschaftlichen Untersuchungen gegeben, die Aufschluss über antisemi-tische Einstellungen auf Gemeindeebene geben. Vor dem Hintergrund der von Experten formulierten Annahme, dass Aussagen und Entscheidungen von Papst Benedikt XVI. Auswirkungen auf die verstärkte Tradierung anti-semitischer Haltungen haben könnten, hat der jetzige Expertenkreis entschieden, erneut Bezug zu nehmen auf Initiativen, die vor dem Berichtszeitraum lagen.732 Neben der im letzten Bericht bereits genannten Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der Priesterbruder-schaft Papst Pius X., von denen einer als Holocaustleugner bekannt ist, betrifft dies insbesondere die Genehmigung, in der Liturgie des Karfreitagsgottesdienst wieder auf Passagen zurückgreifen zu können, in denen der jüdische Glaube abgewertet und eine »Judenmission« gefordert wird. Bis 1965 war es in der Karfreitagsmesse im Rahmen des Fürbittengebets üblich , Juden als »treulos« und »ver-blendet« zu bezeichnen und bei der um ihre »Erleuch-tung« betreffenden Bitte, nicht auf die Knie zu gehen.

Zwischen 1962 und 1970 war es dann aber innerhalb der Katholischen Kirche gelungen, diese Perspektive sukzes-sive zu modifizieren und schließlich in eine Formulierung umzuwandeln, die alle für Juden demütigenden Passagen vermied und einen positiven Blick auf das Judentum richtete.733 Die neuen Gebete entsprachen damit dem 1965 formulierten Nostra aetate, der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils, die das Verhältnis der Katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen definierte und das Auserwähltsein des Judentums bestätigte. Sie war die Voraussetzung für eine selbstkritische Auseinander-setzung der Katholischen Kirche mit ihrer Rolle bei der jahrhundertelangen Verfolgung von Jüdinnen und Juden.

Die Entscheidung, in lateinischen Messen auch wieder ältere Fassungen des Fürbittengebets nutzen zu dürfen, wurde innerhalb der Katholischen Kirche stark kriti-siert, und insbesondere von Mitgliedern deutscher und internationaler Gesprächskreise Juden und Christen erfolgte die Bitte an den Vatikan, diese Entscheidung zurückzu-nehmen, jedoch ohne Erfolg. Es gab aber auch vereinzelt Zustimmung und sogar weitergehende Forderungen, wie beispielsweise seitens des emeritierten Münchner Professors Robert Spaemann, der die Judenmission nicht

732 expertise für den zweiten Uea: hanspeter heinz, antisemitismus in der katholischen Kirche am Beispiel der Karfreitagsfürbitte.

733 ebenda, s. 3.

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nur in der Karfreitagsfürbitte erwähnt haben will, sondern auch in der Liturgie überhaupt.734 Angesichts der engen Verknüpfung von Karfreitagsliturgie und Judenmis-sion mussten sowohl die Entscheidung Benedikts XVI.

als auch unterstützende Äußerungen mit großer Sorge aufgenommen werden, zumal die Judenmission nicht nur von einer mangelnden Wertschätzung gegenüber einer anderen Religion zeugt, sondern auch auf eine gewaltvolle Geschichte zurückblickt. So war auch einer der Kritik-punkte des Gesprächskreises Juden und Christen, wenn »die Kirche zum Gebet zur Bekehrung der Juden einlädt, legt sich die Angst vor einer erneuten Judenmission nahe, auch wenn sie milde, d. h. ohne jede Nötigung und ohne Zwang erfolgen soll«.735

9.2.3 Fazit

Sowohl für die Evangelische als auch für die Katholische Kirche in Deutschland gilt, dass es auf Leitungs- bzw.

offizieller Ebene ein Bewusstsein für antijudaistische und antisemitische Traditionen gibt. Im Rahmen unterschied-licher Initiativen werden zudem Bestrebungen unter-stützt, sich kritisch mit durch alte Liturgien tradiertem Antijudaismus und aktuellem Antisemitismus auseinan-derzusetzen. Dennoch bleibt nach wie vor offen, inwieweit diese Initiativen auf Gemeindeebene, in der Theologieaus-bildung oder im schulischen Religionsunterricht ankom-men.

Angesichts der Befunde zu schulischem Religionsun-terricht (→ Prävention), den inzwischen Generationen von Schülerinnen und Schülern durchlaufen haben und der deswegen sowohl Jugendliche als auch Erwachsene betrifft, ist zu befürchten, dass es keine hinreichende Wis-sens- und Bewusstseinsbasis gibt, um sich produktiv mit den genannten Phänomenen auseinanderzusetzen.

9.3 antisemitismus und muslimische