• Keine Ergebnisse gefunden

Erfahrung mit Diskriminierung – Befunde der qualitativen Befragungen

Beständigkeit antisemitischer Stereotype Die traumatisierenden Nachwirkungen Holocaust sowie

5.6.7 Erfahrung mit Diskriminierung – Befunde der qualitativen Befragungen

Für viele Jüdinnen und Juden, die aus einem anderen Land, insbesondere der früheren Sowjetunion oder Israel, nach Deutschland eingewandert sind, ist es nicht immer

1 ...in Deutschland lebende Jüdinnen/Juden nicht als Teil der

deutschen Gesellschaft wahrnimmt.

...in Deutschland lebende Jüdinnen/Juden für die israelische Politik verantwortlich macht.

...denkt, dass Jüdinnen/Juden besonders reich sind.

...sich darüber ärgert, dass der Holocaust auch heute noch thematisiert wird.

...denkt, dass Jüdinnen/Juden typische äußerliche Merkmale haben.

...den Boykott israelischer Waren/Produkte unterstützt.

...immer besonders erwähnt, wer von seinen oder ihren Bekannten jüdisch ist.

nein, auf keinen Fall eher nein eher ja ja, auf jeden Fall

Abb. 5.7: »Wäre es in Ihren Augen antisemitisch, wenn eine nichtjüdische Person …« (in Prozent)

leicht, das Motiv für ihre Diskriminierung zu erkennen:

Werden sie diskriminiert, weil sie jüdisch sind oder weil sie anhand ihres Aussehens oder der Sprache als Migrant oder Migrantin wahrgenommen werden? 41 Prozent der Befragten geben an, in den letzten zwölf Monaten auf-grund ihrer Religion oder ihres Glaubens (dies sind deut-lich mehr als in der FRA-Studie, die hier von 24 Prozent berichtet), 33 Prozent aufgrund ihrer Herkunft, 16 Prozent aufgrund ihres Aussehens bzw. der Sprache manchmal, häufig oder sehr häufig benachteiligt oder ausgegrenzt worden zu sein.

5.6.7.1 verkrampftes verhältnis/»Othering«

als subtile Form von antisemitismus

Eine Kategorie ist die Feststellung eines verkrampften Ver-hältnisses und einer fehlenden Normalität in deutsch-jü-dischen Beziehungen. Dieser Befund zieht sich durch alle Interviews und macht deutlich, dass jüdisches Leben in Deutschland trotz aller Bemühungen aus der Sicht der Befragten keine Selbstverständlichkeit darstellt. Dazu gehört auch das Erleben von »Othering« – die Zuordnung als Fremde bzw. Nichtzugehörige.354 Erlebt wird dies als eine subtile Form des Antisemitismus. Daneben lässt sich der Umgang der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft mit Jüdinnen und Juden in Deutschland z. T. aber auch aus der NS-Geschichte erklären. Nachfahren der Täterinnen und Täter stehen Nachfahren der Opfer gegenüber. »Norma-lität« im Sinne eines unbefangenen Umgangs, der frei ist von unterschiedlichsten Erinnerungskonstruktionen, ist in Anbetracht dieser Vergangenheit fast nicht möglich.

Problematisch wird dies dann, wenn die Befangenheit der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft erneut zu Ausgren-zungen und Abwertungen führt.

So berichten viele Interviewte über ihre Erfahrungen von Fremdzuschreibungen und symbolischen Ausschlüssen in alltäglichen Interaktionen. Eine Befragte erzählt dazu:

»Es gibt immer ein ›wir‹ und ein ›ihr‹ […] aus allem wurde so was Spezielles gemacht, ›Wie macht ihr das?‹ ja ›Wie bringt ihr eure Kinder ins Bett?‹« Andere Interviewpartner haben ähnliche Erfahrungen: »Du bist wie im Zoo!« V. a.

diese Metapher, wie ein Tier im Zoo betrachtet zu werden, wiederholte sich in einigen Interviews und zeigt einen exotisierenden Blick auf Juden und jüdisches Leben in Deutschland, der zugleich auch oft negativ konnotiert ist und impliziert, Juden seien ein »Fremdkörper, der stört, aber ausgehalten werden muss«. Eine Interviewpartne-rin erzählt, dass sie von ihren besten Freundinnen als eine Fanatikerin gesehen wurde, als sie wegen Kaschrut (Hebräisch für jüdische Speisegesetze) einen koscheren

354 stuart hall, the spectacle of the »Other«, in: Ders. (hrsg.), representa-tion. cultural representations and signifying Practices, london 1997, s. 223–

290.

Wein zu einem Treffen in einem Café mitbrachte hat, bzw. als sie sagte, dass sie den Schabbat einhält. Eine Interviewte nennt die besondere Position des Anderen als die »unsichtbare gelbe Kennzeichnung«, in der man sich nicht als integraler Teil der Gesellschaft, sondern als Anderer empfindet. Die sehr verbreitete Frage »Was macht ihr da in Israel?« trägt zusätzlich zu dieser Fremdpositi-onierung bei:355 »Ich spreche muttersprachlich deutsch, sehe eindeutig nicht ausländisch aus, bin hier geboren, weiß jeder. Hm, hab nie woanders gelebt, was die meisten Leute auch wissen, die mit mir zu tun haben. Einzigallein, dass ich Jüdin bin und hebräisch spreche und ganz häufig die Situation (erlebe): ›Wie ist es bei euch?‹ […] und damit ist Israel gemeint.«

Die fehlende Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland beeinflusst die Verständigung von Juden und Nichtjuden auch über das Thema Antisemitismus: »Man merkt sofort, dass sie [Nichtjuden, Anm. d. Verf.] Angst haben, über Antisemitismus zu sprechen. Sie werden extrem vorsichtig und misstrauisch«. Andere berichten, dass das Thema Antisemitismus nicht ernst genug und eher moralistisch von vielen Nichtjuden gesehen wird und den Juden unterstellt wird, dass »sie in ihrer negati-ven Einschätzung der Lage bezüglich des Antisemitismus übertreiben.«

5.6.7.2 Diskriminierung aufgrund verschiedener zugewiesener Merkmale

Juden in Deutschland haben mit vielfältigen Diskriminie-rungen zu kämpfen. Diese unterschiedlichen Formen der Diskriminierung stehen nicht nebeneinander, sondern sind miteinander verflochten und verstärken sich gegen-seitig.356 So macht eine Teilnehmerin der Interviews die Beobachtung, dass Antisemitismus in der letzten Zeit mit Fremdenfeindlichkeit einhergeht und oft an Islamfeind-lichkeit anknüpft. Sie verweist auf ein Beispiel, in dem der Koch in einem Restaurant wegen einer Bitte, jüdische Essensvorschriften zu berücksichtigen, genervt reagiert:

»Und den Koran sollten wir jetzt auch auslegen?« Eine andere Interviewte berichtet: »Wahrscheinlich denkt er jetzt, die ›Scheiß Mosis‹ mit ihren Essensvorschriften und Extrawürste und Ausländer, […] aber ich wette, dass wenn ich vor drei Jahren zu dem gekommen wäre, hätte

355 79 Prozent der Befragten gaben an, in den letzten zwölf Monaten für die Politik des staates Israel verantwortlich gemacht worden zu sein (43 Prozent davon sogar »häufig« oder »sehr häufig«).

356 Diese verflechtungen und gegenseitige verstärkung verschiedener For-men von Diskriminierung wird auch mit dem Begriff der Intersektionalität belegt, der aus der Us-amerikanischen feministischen Bewegung schwarzer Frauen stammt und von der Juristin Kimberlé crenshaw 1989 in den Diskurs eingeführt wurde (Kimberlé crenshaw, Demarginilizing the Intersection of ra-ce and sex: a Black Feminist critique of antidiscrimination Doctrine, Feminist theory and antiracist Politics, in: University of chicago legal Forum, 1 (1989), s. 139–167).

erFahrUnGsräUMe UnD PersPeKtIven Der JÜDIschen BevÖlKerUnG IM UMGanG MIt antIseMItIsMUs | 107

er sich nicht aufgeregt.« Ähnlich thematisiert dieselbe Interviewpartnerin die Beschneidungsdebatte: »Keiner hat sich getraut, an uns zu wackeln vorher, bis das Thema mit der muslimischen Beschneidung kam.« Ein befragter Teilnehmer an der Studie weist ebenfalls auf die Parallele zwischen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit hin:

»Ich hatte auch mal eine ältere Kundin, die gesagt hat […]:

›Die Flüchtlinge werden schlimmer als die Juden!‹«

5.6.7.3 Direkte, offene und diffuse Formen von antisemitismus

In den qualitativen Interviews wurden verschiedene Formen des Antisemitismus und der Diskriminierung genannt, die von direkter und offener Gewalt, bis hin zu diffusen Formen reichen. Dafür sollen im Folgenden Bei-spiele vorgestellt werden, um die Bandbreite der Diskri-minierungserfahrungen und die Auswirkungen auf die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden zu illustrieren.

Vandalismus

Im Rahmen des Treffens mit jüdischen Sozialarbeitern wurden Vandalismus-Vorfälle und Schmierereien wie

»Juden raus!«, »Adolf, wir brauchen dich!«, Hakenkreuzen an der Tür usw. thematisiert. Eine Teilnehmerin verweist auf einen Vorfall, bei dem in den Lack ihres Autos ein Davidstern geritzt wurde. Dadurch sei ihr klargemacht worden, dass sie als Jüdin fremd bleibt, obwohl sie in Deutschland geboren und aufgewachsen ist.

Antisemitische Witze

Eine weitere Form des Antisemitismus, mit der es Betrof-fenen besonders schwerfällt umzugehen, sind antisemiti-sche Witze, wenn die Beteiligten lachen und die Betroffe-nen aus einer scheinbar angenehmen Atmosphäre durch ihre Reaktion einen Konflikt kreieren. Eine Interviewte erinnert sich etwa an eine Situation, in der sie mit ihrer Tochter auf dem Kinderspielplatz ein fünf- bis sechsjähri-ges Mädchen hörte, das ihrer Freundin einen Witz erzählt:

»Was sagt man, wenn man Juden sieht? Gib Gas!« Oft werden solche Witze als »nicht durchdacht«, »nicht böse gemeint«, »von besoffenen Menschen«, von »Verrückten«

oder von »Nazis« erzählt, um so die schmerzhafte bzw.

schockierende Erfahrung erträglicher zu machen bzw.

nicht zu generalisieren.

Philosemitismus

Philosemitische Reaktionen mit einem antisemitischen Beigeschmack sind eine weitere Form der Diskriminie-rung. Eine Interviewte berichtet hierzu: »Als ich meinen jüdisch klingenden Namen beim Tierarzt am Telefon sagte, um eine Frage zu stellen, war seine begeisterte Reaktion,

dass er gerne eine Bekanntschaft mit einem tollen jüdi-schen Juwelier, den er kennt, vermitteln kann.«357 Strukturelle Diskriminierung

Mehrere Interviewpartner berichten von fehlendem Verständnis, wenn sie wegen jüdischer Feiertage nicht zur Arbeit gehen. Einige Interviewte erzählen über Schwie-rigkeiten bei der Verschiebung eines Prüfungstermins an der Universität. Ein Interviewpartner berichtet von einem Vorfall, bei dem er an einem Schabbat früher aus einem Kurs des Arbeitsamts nach Hause gehen wollte. Er habe sich entschuldigt, aber seine Argumentation wurde nicht akzeptiert.

º Antisemitismus begegnet den Befragten in vielfältigen Ausdrucksformen, wobei hier z. T. die Diskriminierung aufgrund unterschiedlicher Merkmale wie Religion, Herkunft, Aussehen oder Sprache ineinandergreifen. Die Spannbreite reicht von häufigen, subtilen Formen von Antisemitismus bis hin zu offen geäußerten antisemiti-schen Stereotypen.

5.6.7.4 antisemitismus in verschiedenen lebenskontexten

Viele Befragte der qualitativen Teilstudien berichten von Erfahrungen mit Antisemitismus in Lebenskontexten, in denen sie als Einzelne einem Arbeitgeber, einer öffent-lichen Institution oder Ärzten in Abhängigkeitsverhält-nissen gegenüberstehen. Einige Interviewte geben daher an es zu vermeiden, ihre jüdische Zugehörigkeit etwa an ihrem Arbeitsplatz zu erwähnen: »Ich wusste, wenn ich sagen würde, ich bin Jüdin, gibt es immer ein Thema fürs Gespräch.« Jüdisch-Sein wird von der Interviewpartne-rin in diesem Fall mit der Sorge verbunden, dass über die Maßen persönliche Fragen gestellt, bzw. die private Biografie öffentlich diskutiert werden könnte. Eine Sozial-arbeiterin in einer jüdischen Organisation in Ostdeutsch-land berichtet von einer Situation, in der sie sich als Migrantin an das Arbeitsamt gewandt hatte, um Starthilfe für Möbel und Kaution zu erhalten. Die Mitarbeiterin des Arbeitsamts verwies als Reaktion auf die Anfrage auf die jüdische Herkunft und die antisemitische Annahme, Juden seien reich: »Warum beansprucht ihr Geld, bitten Sie doch ihre Leute, sie haben immer viel Geld.« Eine andere Interviewte berichtet ebenfalls über ihre Erfahrungen beim Arbeitsamt. Sie war von einer jungen Beraterin in antisemitischer Form ausgelacht und respektlos behandelt worden. Sie habe sich danach derart unwohl gefühlt, dass sie ein Medikament gegen Herzschmerzen habe nehmen müssen.

357 aufzeichnungen aus dem Forschungstagebuch der beiden qualitativen teilstudien der externen expertise für den Uea.

Auch im medizinischen Bereich erfahren Juden immer wieder Antisemitismus. Eine Sozialarbeiterin, die ältere jüdische Zuwanderer zu ärztlichen Untersuchungen begleitet, berichtet über die Bemerkung einer Ärztin:

»Warum beklagen sich denn deine Leute so? Man kann denken, dass sie mehr Krankheiten als Andere haben!«

Sie fügt hinzu, dass immer wieder Fragen von den Ärzten an die älteren jüdischen Zuwanderer gestellt werden:

»Warum sind Sie hierhergezogen? Warum sprechen Sie kein Deutsch?« Sie spricht weitergehend von einer gereizten oder genervten Grundstimmung in den Treffen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Sozialarbeitern.

Neben dem Arbeitskontext wurde v. a. im Kontext von Schule auf antisemitische Vorfälle verwiesen, die sich hier in besonders aggressiver und direkter Form zeigen. Dabei überwiegen drei Unterkategorien:

1) Provokationsangriffe mit positiven Bezügen auf NS-Zeit; Hitler, Gas, Lager, Verbrennung wurden in unterschiedlichen Interviews thematisiert (initiiert von deutschen Schülern ohne Migrationshintergrund und muslimischen Schülern deutscher oder nicht-deutscher Herkunft).

Eine Interviewpartnerin berichtet, dass der Freundin ihrer Tochter (15 Jahre alt) in einem Gymnasium ein Zettel mit den Sätzen »Du dreckige Jüdin! Magst du Zyklon B?« in ihre Tasche gelegt wurde. Durch eine Schrifterkennung wurden zwei Jungen, von denen das Mädchen eine solche Tat niemals erwartet hätte, als Täter identifiziert. Dieses Gefühl, dass man nie weiß, wann solche Aussagen kommen können, ist für viele Interviewte charakteristisch: »Es sind kleine ruhige Orte, schöne Städte und alles ist quasi gut, aber der Eindruck täuscht.«

2) Stark ausgeprägte antiisraelische Haltungen, die sowohl von Schülerinnen und Schülern als auch von einigen Lehrkräften zum Ausdruck gebracht wurden.

Einige Interviewpartner berichten, wie auch seitens der Lehrkräfte medial geprägte (oft umgangssprach-lich formulierte) antiisraelische Einstellungen den Schülerinnen und Schülern vermittelt werden.

3) Nutzung des Wortes »Du Jude!« als Schimpfwort (oft auch an Nichtjuden gerichtet), angeknüpft an die klas-sischen Vorurteile über »geizige«, »reiche«, »listige«,

»vertrauensunwürdige« Juden.

»Juden« wird hier als direkte Beleidigung anderer jüdi-scher oder auch nichtjüdijüdi-scher Schüler verwendet. So wird in einem Interview etwa die Situation geschildert, in der ein Schüler zu einem anderen, nach seiner Wei-gerung etwas herauszugeben, sagt: »Bist du Jude oder

was?« Die Beschimpfungen »du Jude!« oder »mach doch keine Judenaktion!« werden als Synonyme für Unzuverlässige oder Verräter, Betrüger, geizige oder schwache Menschen benutzt.

ºBesonders häufig begegnet den Befragten Antisemitis-mus im Internet, aber auch in anderen Medien und v. a.

in der Schule. Als besonders gravierend empfinden sie es, Antisemitismus in machtvollen Abhängigkeitsver-hältnissen ausgesetzt zu sein.

5.6.8 Erleben von und Sorge vor unmittelbaren