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Antisemitismus unter muslimischen Befragten

demografischer Faktoren

4.7 religionszugehörigkeit und antisemitismus

4.7.2 Antisemitismus unter muslimischen Befragten

Spätestens seit der antisemitischen Welle des Jahres 2002, in der erstmals Muslime in einigen europäischen Ländern als Tätergruppe antisemitischer Übergriffe ins Blickfeld gerieten, wird in der deutschen wie europäischen Öffent-lichkeit und Wissenschaft über die Frage der Verbreitung des Antisemitismus unter Muslimen kontrovers disku-tiert. Die Zuwanderung von muslimischen Flüchtlingen aus dem Nahen Osten im Jahre 2015 hat zu besorgten Warnungen vor einer Zunahme des Antisemitismus von-seiten jüdischer Organisationen geführt.235 Trotz des von vielen Seiten als dringlich erachteten Problems fehlt es bisher in Deutschland an einer repräsentativen Befragung unter der muslimischen Bevölkerung. Es gibt jedoch eine Reihe von Studien, die zumindest gewisse Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage der Verbreitung und zu den Ursachen antisemitischer Einstellungen in dieser Bevölke-rungsgruppe bieten.

4.7.2.1 was ist auf die »muslimische religionszugehörigkeit«, was auf andere variablen zurückzuführen?

Der Faktor »muslimische Religionszugehörigkeit« ist mit einer Reihe von anderen Variablen konfundiert, die nicht immer auseinandergehalten werden, was aber gerade mit Blick auf Schlussfolgerungen für Prävention und Inter-vention von Bedeutung sein kann – weniger in Bezug auf die Zielgruppe, an die sich die Intervention richtet, sondern vielmehr über welche Wege sie geht und welche Themen sie aufgreift.

In der Kategorisierung »Muslime« ist sowohl im All-tagsverständnis als auch in der Wissenschaft die Reli-gionszugehörigkeit mit der ethnischen Herkunft bzw.

mit der Nationalität vermischt, und es ist nicht immer klar, inwieweit sich die Einstellungen tatsächlich auf die Religionszugehörigkeit oder aber auf die politische Sozi-alisation in der Herkunftsregion zurückführen lassen. In der Wissenschaft wird die Frage nach wie vor kontrovers diskutiert, ob wir es primär mit einem religiös motivierten Antisemitismus zu tun haben, der sich auf Aussagen des Korans stützt, oder mit einem antizionistisch begründeten arabischen Nationalismus, der sich der Versatzstücke des

235 zentralrat der Juden fürchtet neuen antisemitismus, in: Die welt vom 28. 6. 2016, http://www.welt.de/politik/article156658717/zentralrat-der- Juden-fuerchtet-neuen-antisemitismus.html (eingesehen 23. 8. 2016); abra-ham cooper, viele muslimische Migranten sind antisemitisch, in: Der tages-spiegel vom 6. 6. 2015 (abraham cooper ist Ko-vorsitzender des simon wie-senthal zentrums in los angeles).

modernen europäischen Antisemitismus bedient.236 Regio-nale Narrative und Propaganda, die Migranten über die familiäre Sozialisation, aber auch über die Nutzung von Medien der Herkunftsländer erreichen, dürften hier eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Für Letzteres spricht die unterschiedliche Ausprägung antisemitischer Einstellun-gen unter Muslimen weltweit.237 Wir dürften es gegenwär-tig aber mit einer Mischform zu tun haben, da der Koran zunehmend antijüdisch ausgelegt wird, um den Kampf gegen Israel ideologisch zu unterfüttern.238 Die internati-onalen Studien der Anti-Defamation League (ADL) zeigen außerdem, dass antisemitische Einstellungen etwa unter bosnischen Muslimen zwar auch weiter verbreitet sind als unter bosnischen Christen, allerdings weniger weit als etwa unter Muslimen in arabischen Staaten und dort, wie z. B. im Libanon, auch christliche Personen auffällig stark zum Antisemitismus neigen.239 Hier spielt offenbar weniger die Religion als vielmehr die Sozialisation in den Herkunftsländern eine Rolle. Die Rede von Muslimen verdeckt die Unterschiede, die etwa zwischen bosnischen, türkischen und arabischen Zuwanderern bestehen.

Eine weitere Komplikation kommt dadurch hinzu, dass Muslime in Deutschland zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten ins Land gekommen sind und wir es mit Personen der ersten, zweiten oder gar dritten Generation zu tun haben, von denen sehr viele bereits in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert worden sind – Personen also, die nicht selbst Migranten sind, sondern nur einen sogenannten familiären Migrationshintergrund haben.

Ferner könnten andere sozio-demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Bildung eine Rolle spielen.

Personen, die aus muslimischen Ländern nach Deutsch-land eingewandert sind, sind überproportional jung und weniger gut gebildet. Diese Faktoren werden aber selten statistisch erfasst, sodass auch hier dann nicht klar ist, wel-cher Anteil tatsächlich auf die Religion, welwel-cher auf andere Faktoren zurückzuführen ist. Diese Einschränkungen sind nicht zuletzt für die Intervention wichtig.

236 Götz nordbruch, antisemitismus als Gegenstand islamwissenschaftlicher und nahost-bezogener sozialforschung, in: werner Bergmann/Mona Körte (hrsg.), antisemitismusforschung in den wissenschaften, Berlin 2004, s. 241–

269.

237 aDl Global 100: a survey of attitudes toward Jews in over 100 countries around the world. executive summary. Online unter: http://global100.adl.org/

public/aDl-Global-100-executive-summary.pdf (eingesehen 10. 4. 2016); aDl Global 100: 2015 Update in 19 countries. Online unter: http://global100.adl.

org /#map/2015update (eingesehen 10. 4. 2016); Günther Jikeli, antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in europa. ergebnisse einer studie unter jungen muslimischen Männern, essen 2012, s. 270.

238 Juliane wetzel, Moderner antisemitismus unter Muslimen in Deutsch-land, wiesbaden 2014, s. 4.

239 aDl Global 100: a survey of attitudes toward Jews in over 100 countries.

4.7.2.2 Befunde zu muslimischen Jugendlichen und jungen erwachsenen in Deutschland Zum Antisemitismus von Muslimen in Deutschland liegen bisher eine Reihe qualitativer bzw. quantitativ-qualitativer Studien vor, die sich ausnahmslos auf Jugendliche, in eini-gen Fällen auch nur auf männliche Jueini-gendliche, konzen-trieren.240 Zusammenfassend konstatieren diese Studien, dass antiisraelische Äußerungen, die dann auf alle Juden generalisiert werden, unter den Jugendlichen gebräuch-lich sind. Der Nahostkonflikt wird als die Hauptquelle für antisemitische Äußerungen angesehen, wobei die Jugendlichen dabei auf eine imaginierte muslimische oder ethnische Kollektividentität zurückgreifen, um sich selbst zu versichern, dass es eine von allen Muslimen geteilte Ablehnung von Juden gebe und dass dies demnach eine

»normale Haltung« sei.241 Diese Ablehnung wird von den Jugendlichen aber selten religiös begründet. Je stärker sich die Jugendlichen im Nahostkonflikt mit den Palästinen-sern identifizieren, desto deutlicher fällt auch die Ableh-nung von Juden aus, v. a., wenn sie nicht zwischen der Politik Israels und Juden unterscheiden. Diese Identifika-tion fällt bei Jugendlichen mit arabischem oder palästi-nensischem Hintergrund stärker aus als etwa bei jenen mit türkischem Hintergrund.242 Neben dem Nahostkonflikt spielen als Kontexte für antisemitische Einstellungen auch die globalen politischen Verhältnisse, v. a. Antiamerika-nismus (wohl wegen der Parteinahme der USA für Israel) und Verschwörungstheorien über eine angebliche jüdische Macht eine wesentliche Rolle, da Juden als Beherrscher von Regierungen, Massenmedien und Wirtschaftsunter-nehmen imaginiert werden.243 Wie sehr diese von vielen muslimischen Jugendlichen als »normal« betrachteten

240 Jikeli, antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen; Gabriel Fréville/susanna harms/serhat Karakayali, antisemitismus – ein Problem unter vielen, in: wolfram stender/Guido Follert/Mihri Özdogan (hrsg.), Konstellatio-nen des antisemitismus, wiesbaden 2010, s. 185–198; Jürgen Mansel/viktoria spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt: soziale Beziehungen, Konfliktpo-tentiale und vorurteile im Kontext von erfahrungen verweigerter teilhabe und anerkennung bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, Universi-tät Bielefeld 2010; susanna harms, antisemitismus – ein Problem unter vielen.

eine Befragung in Jugendclubs und Migranten- und Migrantinnen-Organisatio-nen, Berlin 2009. Online unter http://www.amira-berlin.de/Material/Publikati-onen/64.html (eingesehen 7. 4. 2016). Im Fokus stehen zumeist die einstellun-gen männlicher muslimischer Jueinstellun-gendlicher, doch vermutet die amira-studie, dass antisemitische einstellungen unter den weiblichen Jugendlichen nicht we-niger verbreitet seien, diese würde aber aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen erziehung weniger offen geäußert (Fréville u. a., antisemitismus – ein Problem unter vielen, s. 190 f.).

241 Jikeli, antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen, s.  312 f.;

werner Bergmann, zur entwicklung antisemitischer einstellungen der Bevölke-rung. vortrag zu ergebnissen zur einstellungsforschung zum »antisemitismus in Deutschland«. expertenkreis antisemitismus beim BMI, 15. 2. 2010.

242 Ob dies tatsächlich einer geringeren verbreitung entspricht oder ob, wie befragte akteure in der amira-studie vermuten, türkischstämmige Jugendliche ihre Meinung nur weniger offen kommunizierten, muss offen bleiben. GMF-ex-pertise, s. 58.

243 wie die studie von Jikeli »antisemitismus und Diskriminierungswahrneh-mungen junger Muslime« zeigt, gilt dies ebenso für muslimische Jugendliche in england und Frankreich.

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judenfeindlichen Anschauungen Teil eines konsistenten Weltbilds oder nur eine oberflächliche Übernahme von judenfeindlichem Gedankengut aus ihrem Milieu sind, mit dem man sich nicht wirklich identifiziert, bedarf weite-rer Untersuchungen. Dennoch ist die Warnung einiger Autoren, man könne bei Personen muslimischen Glaubens keinesfalls per se antisemitische Einstellungen und Welt-bilder unterstellen, zu berücksichtigen.244

Die früheste, wenn auch nicht repräsentative Umfrage zum Thema »Muslime in Deutschland« von Brettfeld/Wetzels aus dem Jahre 2007, bei der 2683 Jugendliche, darunter 500 Muslime, befragt wurden, hat die Einstellung zu Juden nur mit einem Item erhoben. Der Aussage »Menschen jüdischen Glaubens sind überheblich und geldgierig«

stimmten 16 Prozent der muslimischen Befragten zu. Die Zustimmung lag bei den nichtmuslimischen Jugendlichen bei sieben Prozent, bei denen ohne Migrationshinter-grund bei fünf Prozent. Je religiöser sich die muslimischen Jugendlichen selbst einschätzten, desto häufiger stimmten sie der Aussage zu.245 Zwar unterschieden sich muslimische Jugendliche nicht von anderen Jugendlichen in der Zustim-mung zur generellen Aussage »Auch andere Religionen haben ihre Berechtigung und sind zu achten«, doch scheint dies gegenüber Juden nur eingeschränkt zu gelten. Mögli-cherweise werden Juden weniger als eine religiöse, denn als eine ethnisch bzw. national definierte Gruppe gesehen.

Auch in der schon etwas älteren Schüler- und Schüle-rinnenbefragung des Kriminologischen Instituts Nie-dersachsen fielen Jugendliche aus islamisch geprägten Herkunftskulturen durch ein besonders hohes Ausmaß an Antisemitismus auf, wobei sich allerdings auch für Jugendliche aus anderen migrantischen Kontexten hier leicht höhere Werte zeigten. Der Besuch des Gymnasiums trug bei türkischstämmigen Jugendlichen dazu bei, das Ausmaß an Antisemitismus zu reduzieren (bei anderen Gruppen war dies aufgrund der zu kleinen Stichprobe nicht überprüfbar). Ebenso waren muslimische (und insbesondere die türkischstämmigen) Mädchen weniger antisemitisch eingestellt als muslimische Jungen.246 Die Befunde verweisen auf die Bedeutung weiterer Faktoren, die neben der Religion eine Rolle spielen.

244 GMF-expertise, s. 58; Fréville u. a., antisemitismus – ein Problem unter vielen; Mansel/spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt, s.  225; harms, antisemitismus, s. 85.

245 Die stärke der religiosität wurde unterschieden nach: fundamental (23  Prozent), traditionell konservativ (22  Prozent), orthodox religiös (sieben Prozent), gering religiös (drei Prozent) (Katrin Brettfeld/Peter wetzels, Muslime in Deutschland: Integration, Integrationsbarrieren, religion sowie einstellun-gen zu Demokratie, rechtsstaat und politisch motivierter Gewalt, Berlin: Bun-desministerium des Innern, 2007, s. 280).

246 Dirk Baier/christian Pfeiffer/Julia simonson/susann rabold, Jugendli-che in Deutschland als Opfer und täter von Gewalt: erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des Kriminologischen Forschungsinstituts niedersachsen, hannover 2009, tab. 6.14. und abb. 6.16.

Auch in der groß angelegten Studie über junge Muslime in Deutschland von Frindte u. a., in der 200 junge deutsche Muslime, 517 nichtdeutsche Muslime und 200 junge deut-sche »Nichtmuslime« (14 bis 32 Jahre alt) befragt wurden, stimmten Muslime deutlich häufiger als »Nichtmuslime«

verschiedenen Facetten von Antisemitismus zu, darunter auch einem israelbezogenen Antisemitismus.247 Zugleich wurden Unterschiede zwischen Muslimen unterschiedli-cher Herkunftsländer und -regionen sichtbar. Türkisch-stämmige Muslime neigten weniger zum Antisemitismus als jene aus nordafrikanischen bzw. arabischen Ländern.

Und Muslime, die als Herkunftsland Afghanistan, den Irak, Iran oder Pakistan angeben bzw. die aus der Balkanregion stammen, stimmten im Durchschnitt nicht nur seltener Antisemitismus zu als jene aus arabischen Ländern und der Türkei, sondern auch als in Deutschland geborene Muslime. Zugleich lassen sich keine Unterschiede zwi-schen Muslimen unterschiedlicher Glaubensrichtungen feststellen. Ausnahme sind hier die Aleviten, die weniger dazu neigen, Israel die alleinige Schuld am Nahostkonflikt zuzuweisen, die ansonsten aber ähnlich antisemitisch sind wie Muslime anderer Glaubensrichtungen. Während sich antisemitische Einstellungen bei deutschen Muslimen als recht stabil erwiesen, sind die der nichtdeutschen Mus-lime, die gegebenenfalls noch enger an die Herkunftslän-der gebunden sind, weniger stabil und könnten eher von politischen Ereignissen in der Herkunftsregion beeinflusst sein, so die Vermutung der Autoren.

4.7.2.3 Befunde zu muslimischen erwachsenen in Deutschland

Eine aktuelle repräsentative Umfrage zu »Integration und Religion aus der Sicht der Türkischstämmigen in Deutsch-land« bestätigt, dass die persönliche Haltung von erwach-senen türkischstämmigen Muslimen gegenüber Juden deutlich negativer ausfällt als die gegenüber Christen.

Gaben 80 Prozent an, gegenüber Christen eine sehr bzw.

eher positive Haltung zu haben, waren dies bezüglich der Juden nur 59 Prozent. Christen wurden nur von fünf Pro-zent sehr oder eher negativ gesehen, Juden von 21 Profünf Pro-zent.

Auffällig ist dabei, dass 30 Prozent bei der Frage nach der persönlichen Einstellung zu Juden die Antwortvorgabe

»weiß nicht/keine Angabe« wählten, im Fall der Christen waren es nur halb so viele. Noch negativer als gegenüber

247 Frindte/Boehnke/Kreikenbom/wagner, lebenswelten junger Musli-me in Deutschland, s.  227–247. Die erhebung der Daten fand in den Jahren 2009–2010 statt. 25 Prozent der Muslime stimmten zwei israelfeindlichen sta-tements (»Israel ist allein für die entstehung und Fortsetzung der nahostkon-flikte verantwortlich« und »es wäre besser, wenn die Juden den nahen Osten verlassen würden«) zu, während junge nichtmuslime hier nur zu fünf Prozent zustimmten. Mansel/spaiser kamen in ihrer studie unter schülern 2010 zu ei-nem ähnlichen ergebnis, wonach muslimische schüler, besonders jene aus den arabischen ländern, häufiger antisemitische einstellungen (sowohl israelbezo-gene als auch religiöse und traditionelle) vertraten als schüler ohne Migrations-hintergrund (abschlussbericht Forschungsprojekt 2010).

Juden war die Haltung zu Atheisten: 27 Prozent wählten hier die Kategorien sehr oder eher negativ (49 Prozent sehr oder eher positiv, wiederum hohe 24 Prozent die Vorgaben

»weiß nicht/keine Antwort«).248 Die hohe Zahl der »weiß nicht-Antworten« bzw. Antwortverweigerungen interpre-tieren die Autoren als »eine zumindest latente Abwehrhal-tung« gegenüber Juden und Atheisten.249

In den repräsentativen Umfragen des GMF-Surveys zeich-nen sich darüber hinaus zwei bemerkenswerte Befunde ab: Während bei Katholiken und Protestanten das Ausmaß an Religiosität keine Rolle für den Antisemitismus spielt, steigt bei Muslimen das Ausmaß antisemitischer Einstel-lungen mit dem selbstberichteten Grad der Religiosität an (wobei sich nur geringfügig mehr Muslime als Katho-liken und Protestanten als religiös einstufen).250 Und:

Während sich bei jungen Befragten unter 30 Jahren ein deutlicher Unterschied zwischen Muslimen und Nicht-muslimen zeigt (junge Muslime sind antisemitischer als die gleichaltrigen Nichtmuslime), findet sich bei den über 60-Jährigen kaum ein Unterschied. Außerdem sind junge Muslime nicht antisemitischer als ältere Nichtmuslime.

Offenbar haben junge Muslime die positive Entwicklung der letzten Jahrzehnte hin zu weniger Antisemitismus nicht oder noch nicht – und das ist eine ganz wesentliche Frage – nachvollzogen. Dies wirft Fragen an die Präven-tion auf, z. B. inwieweit junge Muslime, die häufig nicht als dazugehöriger Teil der deutschen Gesellschaft verstanden und adressiert werden, sich von bestehenden Präventi-onsanstrengungen angesprochen fühlen bzw. von diesen angesprochen werden (→ Prävention).

4.7.2.4 Diskriminierung als mögliche Ursache antisemitischer einstellungen bei muslimischen einwanderern

Neben der Frage der Verbreitung antisemitischer Einstel-lungen in der muslimischen Bevölkerung stellt sich die Frage nach deren Ursachen. Neben dem Nahostkonflikt und der Ablehnung Israels werden von Jürgen Mansel und Viktoria Spaiser auch Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung von Muslimen in der deutschen Gesell-schaft als Ursache genannt (Abb. 4.11).251 Die

Abwertungs-248 Integration und religion aus der sicht von türkischstämmigen in Deutschland. repräsentative erhebung von tns-emnid im auftrag des exzel-lenzclusters religion und Politik an der Universität Münster von Detlef Pollack/

Olaf Müller/Gergeley rosta/anna Dieler, Münster 2016, abb. 4, s. 5.

249 ebenda, s. 5.

250 eigene analysen des GMF-surveys 2002–2011; hier ist die stichprobe der Muslime, die für diese auswertung zur verfügung steht, recht klein, sodass die Befunde lediglich als hinweis gedeutet werden sollten.

251 Mansel/spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt. Diskriminierungs-erfahrungen reichen vom »schief anschauen« wegen eines Kopftuchs über Be-schimpfung als terrorist und Beleidigung des Islams bis hin zur ablehnung bei Bewerbungen für ausbildungsplätze.

erfahrung variiert hier je nach Herkunftsland. So fühlten sich Jugendliche aus arabischen Ländern deutlich häufiger diskriminiert als türkischstämmige Muslime. Warum sich aber eigene Diskriminierungserfahrungen in eine Ableh-nung von Juden transformieren sollen, erscheint zunächst nicht plausibel. Mansel/Spaiser weisen zu Recht darauf hin, dass der Weg von einer erlebten Diskriminierung der türkisch-arabischen Eigengruppe keineswegs kausal zu antisemitischen Einstellungen führt.252 Ein Erklärungsver-such verweist auf den internationalen Kontext, wonach die eigenen Diskriminierungserfahrungen mit dem Bild von Muslimen als »weltweit gedemütigtem Opfer« fusioniert und »die Juden« als weltweit mächtige Gruppe und Israel als Aggressor im Nahostkonflikt zu Feindbildern werden können. Man solidarisiert oder identifiziert sich mit den Palästinensern, die als »Opfer israelischer Aggression«

gesehen werden. Die Studie von Brettfeld/Wetzels weist zudem auf einen Zusammenhang von Ausgrenzungser-fahrung mit religiöser Intoleranz und Demokratiedistanz hin, die ebenfalls antijüdisch ausgerichtet werden kann.253 Anstatt die Ausgrenzungserfahrung in Deutschland primär mit dem Nahostkonflikt in Verbindung zu bringen, wäre zu untersuchen, wieweit nicht im Inland selbst von muslimischer Seite eine »Opferkonkurrenz« zu Juden wahrgenommen wird, da Letztere in ihren Augen erin-nerungs- und tagespolitisch eine privilegierte Stellung einnehmen und zudem noch eine besondere Beziehung der Bundesrepublik zum Staat Israel existiert. Berichte über antisemitische Einstellungen und Übergriffe erfahren vergleichsweise breite öffentliche und politische Resonanz.

So ist dies bereits der zweite Antisemitismusbericht des Bundestages, es gibt aber keinen Bericht über Muslimen- und Islamfeindlichkeit. Der Verdacht könnte aufkommen, dass eine allein auf die Vergangenheit ausgerichtete Erin-nerungskultur der Mehrheitsgesellschaft leichter fällt und auch bequemer ist. Mit der Erinnerung an die jüdischen Opfer des Holocaust und den daraus abgeleiteten Mah-nungen entledigt man sich zugleich der kritischen Refle-xion aktueller Diskriminierungen, sodass sich aktuelle Opfer (auch jüdische) vernachlässigt fühlen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur findet sich ausführlicher im Kapitel → Prävention. Hier sei nur der Gedanke angeführt, dass die Ausrichtung der deutschen Erinnerungspolitik einen nichtintendierten negativen Nebeneffekt haben könnte und Muslime sich als »Opfer zweiter Klasse« fühlen, deren in Studien nachgewiesene und im Alltag gefühlte Diskriminierung ignoriert wird.

Dies könnte zum psychologischen Effekt der Reaktanz und damit zur Abwertung von Juden beitragen.

252 ebenda, s. 235.

253 Brettfeld/wetzels, Muslime in Deutschland 2007 – GMF-expertise, s. 59.

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Abb. 4.11: Empirisches Modell zur Entstehung von israelbezogenem Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte

Darstellung in anlehnung an Mansel und spaiser 2012, s. 234254

Neben der Marginalisierungs- und Diskriminierungser-fahrung nennen die Studien weitere mögliche Einflussfak-toren für die Entwicklung antisemitischer Einstellungen.

So werden muslimische Jugendliche in ihrer politischen Sozialisation stärker von der religiösen Gemeinschaft geprägt als andere Jugendliche in Deutschland. Sie rezipie-ren zudem häufiger als andere Jugendliche mit Migrati-onshintergrund Nachrichten und Internetseiten aus ihren Herkunftsländern, in denen antisemitische Propaganda und Vorurteile in vielfältigen Sendeformaten verbreitet werden (→ Medien). Die dort gezeigten Bilder des Nahost-konflikts haben eine stark emotionalisierende Wirkung.255 Eine Studie der ADL zeigt den negativen Einfluss des Inter-net auf die Einstellung zu Juden.256 Mansel und Spaiser sehen einen Zusammenhang von Diskriminierungserfah-rungen in der Schule hinsichtlich der eigenen Religion und der Nutzung der Medien aus den Herkunftsländern zur Aufwertung der eigenen, beschädigten sozialen Identität.

Wie bei anderen Abwertungsprozessen auch, werden als schwächer oder als Konkurrenz wahrgenommene soziale Gruppen zur Aufwertung der Eigengruppe abgewertet.257

254 GMF-expertise, s. 60.

255 ebenda, s.  59; Mansel/spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt, s. 233.

256 aDl, Global 100: a survey of attitudes toward Jews 2014, s. 48.

257 Der Prozess der Fremdgruppenabwertung zur eigengruppenaufwertung ist ausführlich im rahmen der theorie der sozialen Identität geprüft, die ei-ne der einflussreichsten Grundlagen der sozialpsychologischen vorurteilsfor-schung darstellt.

º Das Ausmaß antisemitischer Einstellungen ist unter muslimisch sozialisierten Jugendlichen und Erwach-senen mit Einwanderungshintergrund höher als unter nichtmuslimischen. Zugleich zeichnen sich deutliche Unterschiede zwischen Muslimen aus unterschiedli-chen Herkunftskulturen bzw. -regionen ab. Insbeson-dere Migranten aus arabischen bzw. nordafrikanischen Ländern neigen zum Antisemitismus. Neben der Reli-gion scheint also offenbar v. a. die HerkunftsreReli-gion von Bedeutung zu sein. Hier gilt es zu differenzieren.

º Während junge Muslime deutlich antisemitischer sind als gleichaltrige Nichtmuslime, unterscheiden sich ältere Muslime und Nichtmuslime über 60 Jahre kaum voneinander; junge Muslime sind ähnlich antisemitisch wie ältere Nichtmuslime.

º Während junge Muslime deutlich antisemitischer sind als gleichaltrige Nichtmuslime, unterscheiden sich ältere Muslime und Nichtmuslime über 60 Jahre kaum voneinander; junge Muslime sind ähnlich antisemitisch wie ältere Nichtmuslime.