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demografischer Faktoren

4.6 antisemitismus der Mitte?

In den letzten Jahren ist das Schlagwort vom »Anti-semitismus der Mitte« aufgekommen, wonach sich antisemitische Einstellungen zunehmend in der »Mitte der Gesellschaft« ausbreiteten und diese mithin kein Phänomen des politisch oder sozial randständiger Gruppierungen seien.220 Stephan Kramer, der ehemalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, beschrieb die judenfeindlichen Reaktionen während des Gaza-Konflikts 2014 so: »Es gibt eine fortschreitend um sich greifende Feindschaft gegen Juden, mehr und mehr auch in der Mitte der Gesellschaft.«221 Umgekehrt wird der Verweis auf »die Mitte« auch genutzt, um das Vorhanden-sein rechtsextremer und antisemitischer Einstellungen von sich zu weisen, da diese dort nicht anzutreffen sein können. Offen bleibt, was unter »Mitte« verstanden wird, und genau dies ist die rhetorische Stärke des Begriffs.

Mit »Mitte« wird nicht nur die Mehrheit, sondern auch Normalität, keine Abweichung ins Extreme suggeriert, was den Begriff zugleich gefährlich macht, unterstellt er doch, dass Personen, die sich einer vagen Mitte zuordnen lassen oder sich dort selbst verorten, keine politisch extremen Ansichten vertreten können. Diese Annahme findet sich dann auch implizit für den Antisemitismus. Heinz Fromm, der ehemalige Präsident des Verfassungsschutzes, wollte in der Öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags im Jahre 2008 in der Formel von der Mitte der Gesellschaft eher »einen Begriff in der politi-schen Auseinandersetzung« sehen, »mit dem man irgend-etwas erreichen oder irgendjemanden unter Druck setzen will, er ist aber nicht sehr präzise«.222 Dass die »Mitte« aber

220 Mitte-studien 2002–2014; schwarz-Friesel/Friesel/reinharz (hrsg.), ak-tueller antisemitismus.

221 zitiert in: »Feindschaft gegen Juden nimmt zu. zentralrat sieht antisemi-tismus in der Mitte der Gesellschaft«, in: Der tagesspiegel vom 27. 1. 2009.

222 heinz Fromm, in: Deutscher Bundestag, 16. wahlperiode, 2008, Proto-koll 16/70, Innenausschuss, wortprotoProto-koll, 70. sitzung, Öffentliche anhörung, 16. 6. 2008, vorsitz: sebastian edathy, MdB, ausschussdrucksache, s. 40.

durchaus zu menschenfeindlichen und rechtsextremen Ansichten neigen kann, bestätigen Umfragen immer wieder.

Zunächst muss allerdings geklärt werden, was genau »die Mitte« ist und welche Annahmen mit der Vermutung,

»der Antisemitismus fände sich zunehmend auch in der Mitte« verbunden sind. Sind dies alle nicht politisch extre-mistischen Bürger, hat man Angehörige der bürgerlichen Mittelschicht im Blick oder meint man eine quantitative Zunahme, sodass nun nicht mehr nur Angehörige der politischen Ränder, sondern zunehmend auch solche der politischen Mitte antisemitische Einstellungen hegen?223 Oder möchte man damit sagen, dass es eine Zunahme an antisemitischen Äußerungen aus diesem Spektrum gibt?

Letzteres trifft historisch so nicht zu. Die Umfragen in der Bundesrepublik weisen von jeher und v. a. in frühe-ren Jahfrühe-ren, in denen die Bevölkerung noch stärker durch den Einfluss des Nationalsozialismus geprägt war, auf die Verbreitung antisemitischer Einstellungen gerade in den konservativ bürgerlichen Kreisen und unter Akademikern nach, während etwa in den frühen 1950er-Jahren gerade in der Arbeiterschaft antisemitische Vorurteile weit weni-ger verbreitet waren.224 Dies ist heute mit Blick auf Bildung und Berufsstatus so nicht mehr der Fall. Antisemitische Einstellungen waren nach 1945 zudem niemals nur am extremen rechten Rand anzutreffen, sondern immer ein über die gesamte Gesellschaft, wenn auch ungleich gestreutes Phänomen. Dass sich antisemitische Einstellun-gen nicht alleine an den politischen Rändern finden, son-dern auch in der politischen Mitte unter den Wählern von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP, ist eine seit Jahrzehnten in empirischen Studien ermittelte Tatsache.225

Im Folgenden berichten wir über aktuelle Befunde zur sozialen, politischen und subjektiven Mitte, die hier zum einen sozial anhand von Schichtmerkmalen wie Ein-kommen, Bildung, Beruf, zum anderen politisch über die politische Selbstverortung der Befragten bzw. die Partei-enpräferenz und schlicht über die subjektive Selbstzuwei-sung zu einer »Mitte« definiert wird.

223 Kritisch zur Interpretationsfigur des »extremismus der Mitte«, insbe-sondere zur verwendung der Formel vom »rechtsextremismus der Mitte«, die heute ihren festen Platz in der anti-rechts-Bewegung und der politischen Publizistik hat, vgl. Michael Kohlstruck, Der rechtsextremismus und die Mitte, in: henrique richardo Otten/Manfred sicking (hrsg.), Kritik und leidenschaft.

vom Umgang mit politischen Ideen, Bielefeld 2011, s. 85–93.

224 werner Bergmann/rainer erb, Der antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1945–1989. ergebnisse der empirischen Forschung, Opladen 1991.

225 vgl. ebenda.

Abb. 4.9: Antisemitismus nach politischer Selbstpositionierung in Prozent (FES-Mitte-Studie 2016)

4.6.1 Antisemitismus in der sozialen Mitte

Sowohl bei der subjektiven (definiert über die Selbstein-stufung) als auch der objektiven Schichtzugehörigkeit (definiert über Bildung, Einkommen und Beruf) zeichnet sich ab: Befragte der sozialen Mitte sind auch auf mitt-lerem Niveau antisemitisch. Diejenigen, die sich selbst einer unteren Position in der Gesellschaft zuordnen, über wenig Bildung, Einkommen oder einen Beruf mit niedrigem Status verfügen, tendieren am stärksten zum traditionellen Antisemitismus, während die Befragten, die sich selbst »oben« verorten, die schwächste Zustim-mung zeigen. Nach den Befunden der Mitte-Studie von 2014 (nicht erfasst 2016) scheint es gerade der einkom-mensstarke Anteil der Mittelgruppe zu sein, der ver-gleichsweise am wenigsten traditionell antisemitischen Aussagen zustimmt.226 Ähnliches findet sich auch für den sekundären – und schwächer ausgeprägt – auch für den israelbezogenen Antisemitismus; hier weist ebenfalls die mittlere Einkommensgruppe eine mittlere Zustimmung auf, allerdings ist beim sekundären Antisemitismus der Unterschied zur unteren Einkommensgruppe nicht sig-nifikant, beim israelbezogenen Antisemitismus weist sie weder zur unteren noch zur oberen Einkommensgruppe signifikante Unterschiede auf.227 Bemerkenswert ist ferner:

Arbeitslose Personen fallen in der letzten Leipziger-Mit-te-Studie 2016 nicht durch besonderen Antisemitismus auf, vielmehr haben Hausfrauen und Ruheständler die

226 GMF-studie, s. 52.

227 ein abweichendes ergebnis ergibt sich für die erweiterung der einkom-mensmitte auf 80 Prozent der Befragten. Dann sind die Unterschiede zwischen den einkommensgruppen beim traditionellen und beim israelbezogenen anti-semitismus nicht mehr signifikant, nur beim sekundären antianti-semitismus sind signifikante Unterschiede festzustellen (GMF-studie 2011 – expertise, s. 53).

höchsten Zustimmungswerte (wobei hier eine Konfun-dierung mit dem Lebensalter wahrscheinlich ist und dies eher ein Alters- denn ein Effekt des Berufsstatus sein könnte).

4.6.2 Antisemitismus in der politischen Mitte

Was den Zusammenhang von politischer Selbstverortung auf einer zehn-Punkte-Skala von ganz links bis ganz rechts mit dem traditionellen Antisemitismus angeht, so findet sich in den aktuellen Studien ein Muster, das bereits in den Untersuchungen der 1980er- und 1990er-Jahre anzutreffen war: Von links nach rechts nimmt der Antise-mitismus nahezu kontinuierlich zu. Allerdings vertreten Personen, die sich ganz links einordnen, etwas häufiger antisemitische Einstellungen als die »eher linken« oder

»Linksliberalen«. Die Zustimmungswerte derer, die sich selbst in der politischen Mitte verorten (und dies sind rund 60 Prozent der Befragten) liegen zwischen der niedrigeren Zustimmung im linken Spektrum und dem höheren im rechten Spektrum und ähneln jenen »ganz links«. Die aktuell vorliegenden Studien zeigen im Großen und Gan-zen ein ähnliches Bild mit kleinen Abweichungen. In der letzten GMF-Studie von 2011 sowie den FES-Mitte-Stu-dien 2014 und 2016 zeichnet sich ein nahezu linearer Trend von zunehmendem Antisemitismus von »links«

über die »Mitte« nach »rechts« ab, der nicht nur für den klassischen, sondern auch für den sekundären und den israelbezogenen Antisemitismus deutlich wird. Das Aus-maß der Zustimmung zum klassischen Antisemitismus geht in der FES-Mitte-Studie 2016 im Vergleich zu 2014 in allen drei Gruppen, also denen, die sich als links oder eher links, als in der Mitte, oder als rechts oder eher rechts einstufen, leicht zurück (Abb. 4.9).

0 1

7

14 15

14 16

23

43 46

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

links eher links genau in

der Mitte eher rechts rechts

klassischer Antisemitismus israelbezogener

Antisemitismus

antIseMItIsche eInstellUnGen In Der BevÖlKerUnG | 73

Abb. 4.10: Antisemitismus nach Parteienpräferenz (Sonntagsfrage) (FES-Mitte-Studie 2016)

In der Leipziger-Mitte-Studie von 2014 findet sich kein Unterschied zwischen der »Mitte« und der »extremen Linken«. Allerdings zeigt sich eine deutlich geringere Ver-breitung im Vergleich mit »eher rechten« und »rechten«

Selbsteinstufungen. Beim sekundären Antisemitismus finden wir ein ähnliches Muster, nur dass hier zwischen den »ganz linken« und »eher linken« kein signifikanter Unterschied besteht, wohl aber zu denen, die sich in der

»Mitte« und rechts davon einordnen. Was den israelbe-zogenen Antisemitismus angeht, so steigt die Kurve der Mittelwerte von links nach rechts nur mäßig an und es zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den linken Positionen und der »Mitte«. Deutlich höher ist die Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitis-mus aber im politischen Spektrum rechts der Mitte. Der vielfach behauptete »linke Antisemitismus«, der sich in spezifischen politischen Milieus finden lässt, kann in den politischen Einstellungen von Befragten aus der breiten Bevölkerung, die sich selbst klar »links« positionieren, nicht nachgewiesen werden – Antisemitismus in der

breiten Bevölkerung ist deutlich am höchsten im rechten Spektrum ausgeprägt.228

Auch mit Blick auf die Parteienpräferenz bestätigt sich sowohl in der Leipziger- als auch der FES-Mitte-Studie 2016 (Abb. 4.10): Antisemitismus findet sich auch bei Wählerinnen und Wählern demokratischer Parteien, die sich der »Mitte« zuordnen. Allerdings fällt auf: Potenzielle Wählerinnen und Wähler der AfD neigen mit Abstand deutlich mehr zu Antisemitismus als die Wählerinnen und Wähler der im Bundestag vertretenen Parteien. Dies bestä-tigen auch detailliertere Analysen in der FES-Mitte-Studie 2016 zu Sympathisanten der AfD (d. h. Personen, die bei der Sonntagsfrage angeben, die AfD wählen zu wollen bzw. die sagen, sie finden die inhaltlichen Positionen der

228 Die empirische studie von Monika Deutz-schroeder/Klaus schroeder, linksextreme einstellungen und Feindbilder. Befragungen, statistiken und ana-lysen, Frankfurt a. M. 2016, die eine sehr weite verbreitung von antisemitismus unter linksradikalen und linksextremen in Deutschland feststellt, ist aufgrund methodischer schwächen, v.a. wegen der Kriterien der einstufung von Perso-nen als linksradikal bzw. linksextrem, in rezensioPerso-nen mehrfach scharf angegrif-fen worden. christoph David Piorkowski, studie schürt angst vor Gefahr von links. eine neue studie des seD-Forschungsverbundes der Freien Universität ist gefährlich unpräzise. Das ergebnis ist eine einseitige analyse der linken szene in Deutschland, in: Der tagesspiegel vom 28. 10. 2016; armin Pfahl-traughber, eine nicht überzeugende studie zu linksextremen einstellungen, in: humanistischer Pressedienst vom 15. 8. 2016, http://hpd.de/artikel/nicht-ueberzeugende-stu-die-linksextremen-einstellungen-13420 (eingesehen 14. 11. 2016). Pfahl-traug-hber schreibt dort: »Ihre linksextremismus-skala basiert nicht auf demokra-tietheoretischen erwägungen, sondern auf jeweiligen lektüreeindrücken, was nur ein Grund für besonders hohe ergebnisse ist, wobei sich die statistischen einzelerkenntnisse auch noch inhaltlich widersprechen.« Die ergebnisse der studie widersprechen zudem allen Befunden der bisherigen Forschung zum zusammenhang von politischer einstellung und antisemitismus. laut schroe-der/schroeder sollen 34  Prozent der als linksextremisten eingestuften Per-sonen der Behauptung zustimmen, »Juden hätten in Deutschland zu viel ein-fluss«. Unter Personen, die als linksradikale eingestuft wurden, waren es noch 16 Prozent. linksradikale/linksextremisten würden antisemitischen aussagen demnach deutlich häufiger zustimmen als der Durchschnitt der Bevölkerung.

6 5 7

2 2

19 11 27

20 22

15 20 47

38

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

CDU bzw. CSU SPD

FDP

Bündnis 90/Die Grünen Die Linke

AfD

Nichtwähler

klassischer Antisemitismus israelbezogener

Antisemitismus

AfD richtig): Nicht nur teilen diese deutlich stärker antise-mitische Einstellungen als Befragte, die nicht mit der AfD sympathisieren, zuletzt sind die antisemitischen Einstel-lungen unter AfD-Sympathisanten auch im Vergleich zu 2014 angestiegen.229 Über Wähler anderer Parteien, so auch der NPD, kann auf Basis der vorliegenden Daten keine Aussage getroffen werden, hier ist die Stichprobe der bekennenden NPD-Wähler schlicht zu klein. Dennoch finden sich hier Hinweise auf ebenfalls sehr hohe Zustim-mungswerte.

Bei Ost- wie Westdeutschen nimmt Antisemitismus in Abhängigkeit von der politischen Selbstverortung von links über die Mitte nach rechts zu (keine Interaktion der Variablen). Es fällt lediglich auf, dass Personen, die sich selbst ganz rechts positionieren, im Osten in der Tendenz weniger zu Antisemitismus neigen als jene, die sich »eher rechts« verorten und deutlich weniger als im Westen. Eine politische Positionierung rechts ist im Westen also ganz klar auch mit Antisemitismus verbunden, im Osten nicht (wobei Personen, die sich im Osten dazu bekennen, die NPD zu wählen, und die im Westen die Republikaner wäh-len, sehr stark zu einem israelbezogenen Antisemitismus neigen, aber die Stichprobe ist zu klein für eine zuverläs-sige Aussage; GMF-Survey 2002-2011). Umgekehrt verhält es sich mit der nicht eindeutig antisemitischen Kritik an Israel. Diese nimmt von rechts über die Mitte nach links zu, mit besonders hohen Werten bei Befragten im Osten, die sich »ganz links« positionieren.

Auch beim Ausmaß von Antisemitismus und Kritik an Israel in Abhängigkeit der Wahlpräferenz unterschei-den sich Ost- und Westdeutsche nicht oder kaum. Auch Befragte, die im Osten und Westen die Linkspartei präfe-rieren, unterscheiden sich hier nicht.

º Heutzutage ist Antisemitismus v. a. in unteren Schichten verbreitet, während die Zustimmung in der Mittel-schicht, definiert über Einkommen, Bildung und Beruf, im Mittelfeld liegt. Ein Anstieg findet sich hier nicht.

º Antisemitismus findet sich hingegen auch bei Befrag-ten, die sich selbst der politischen Mitte zuordnen bzw.

Parteien der politischen Mitte präferieren.

º Personen, die sich selbst »ganz links« einordnen oder die Linkspartei präferieren, neigen nicht mehr zu Anti-semitismus als Wähler und Wählerinnen der anderen demokratischen Parteien. Dies gilt auch für israelbezo-genen Antisemitismus.

229 andreas hövermann/eva Groß, Menschenfeindlicher und rechtsext-remer  – Die veränderungen der einstellungen unter afD-sympathisanten zwischen 2014 und 2016, in: zick/Küpper/Krause (hrsg.), Gespaltene Mitte – Feindselige zustände, Bonn 2016, s. 174.

ºPersonen, die die AfD präferieren, zeigen eine auffällig hohe Zustimmung zu allen drei Facetten von Antisemi-tismus.

4.7 religionszugehörigkeit