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Michael Neumann (Konstanz)

1. »die eigentliche Heimat und Bedeutung dieser Dinge«. Zeichen im Raum

Das Ziel der nachstehenden Überlegungen bildet der Versuch, anhand der Lektüre von Th eodor Storms bekannter Novelle Immensee (1850) die Voraussetzungen von Raumsemantiken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erhellen. Storms Novelle ist in dieser Hinsicht besonders auskunftsfähig, weil sie die grundlegenden Veränderungen der Raumsemantik, die das Zeitalter imperialer Ansprüche und Auseinandersetzungen prägen,1 im Blick auf die lebensweltlichen Implikationen der Wachstumsmoderne diskutiert. Storms entsprechendes Interesse weist seine Litera-tur als einen Schauplatz aus, der gerade aufgrund der Th ematisierung von geogra-phisch begrenzten Lebenswelten, die mit der Dynamik der Moderne in Kontakt tre-ten, zur Ausstellung spezifi scher Problemlagen führt. Diese lassen die Ränder der Moderne als Entstehungsort von Denkfi guren hervortreten, deren Virulenz sich im-mer dann zeigt, wenn das Aufeinandertreff en von Modernisierungsschüben und Lebenswelten Konfl ikte der Ungleichzeitigkeit evoziert. Das Hierarchiegefüge von Bedingungen und Gründen, innerhalb dessen Storm die Entstehung von Raumse-mantiken verortet, ist dabei anscheinend protoevolutionär bestimmt; seinen Rah-men bildet eine Kompatibilität, die erst im Ausgang des 19. Jahrhunderts die kul-turtheoretischen Adaptionen evolutionistischer Denkfi guren prägen wird,2 nämlich jene zwischen individuellen Dispositionen, kulturellen Mustern, geographischen Voraussetzungen und ökonomischen Bedingungen.3 Storm fragt nach den Voraus-setzungen und Folgen von Globalisierungseff ekten, deren theoretische Fassung sich in diesem Hierarchiegefüge wiederfi ndet. Er thematisiert in seinen Texten entspre-chende Konfl ikte, um auf diese Weise den Preis, den die imperiale Homogenisie-rung widerstreitender Raumsemantiken und konkurrierender Zeichenpraktiken fordert, näher zu bestimmen. Aus Storms Rücksicht auf diese Rahmenbedingungen

1 Vgl. Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frank-furt a. M., New York 2006, S. 280–301; sowie Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt.

Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 32009, S. 907–1055.

2 Kurt Bayertz, »Sozialdarwinismus in Deutschland 1860–1900«, in: Eve-Marie Engels (Hg.), Charles Darwin und seine Wirkung, Frankfurt a. M. 2009, S. 178–202.

3 Vgl. Peter J. Bowler, Evolution. Th e History of an Idea, Berkeley 32003, S. 224–324.

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resultiert eine Aktualität des Realismus, die sich nur beim ersten Hinsehen der Ver-bindung zur Globalisierungsgeschichte verdankt.4 Genaueren Lektüren erschließt sich, dass hier die grundsätzlichere Frage nach der narrativen Fundierung von Welt-verhältnissen zur Diskussion steht. Sie wird in einem Jahrhundert relevant, an des-sen Ende die Sprachwisdes-senschaft durch die medientechnisch indizierte Einsicht in die »Beliebigkeit der Zeichen« revolutioniert wird;5 es liegt auf der Hand, dass sich diese Einsicht mit den globalen Raumordnungen und Erschließungsphantasmen der Moderne berührt. Die Tendenz zur »Reinheit« der Zeichen und Praktiken,6 die den konstruktivistischen Gründungsszenarien der Moderne spätestens seit der Jahr-hundertwende abgelesen werden kann, produziert indes bereits im 19. Jahrhundert besonders dort Widersprüche, wo sowohl der Wert als auch die Funktionsweisen symbolisch fundierter und erzählerisch vermittelter Weltverhältnisse eine Aufmerk-samkeit erfahren, die nicht zuletzt kulturanthropologischen Interessen folgt. Die

»symbolische Wirksamkeit«7 tradierter Raumsemantiken und Zeichenpraktiken, deren Funktionsweise sich allenfalls »im Feld« erschließt, kann nur dort literarisch thematisiert werden, wo die Relation zwischen Raumerfahrung, Zeichenpraktiken und Erzählung fokussiert wird; die Voraussetzung dafür bildet das Reisen.8 Dessen Relevanz für die Erforschung von Sprachen und Erzählformen ist eine Erfi ndung jener romantischen Philologie, die auch für die Ambivalenz der entsprechenden po-litischen Implikationen verantwortlich zeichnet. Ihr verdankt sich das Postulat, dass sich Einblicke in das Wesen der Sprache und die »Wirksamkeit« dessen, was man sich von der Welt erzählt, nur im »Verkehr mit dem Volke« gewinnen lassen. Die-sem »Verkehr«, »den ich namentlich auf meinen Fußwanderungen pfl ege«, schreibt noch der Philologe Friedrich Polle im Ausgang des 19. Jahrhunderts seine linguisti-sche Kompetenz zu. Seine Sammlung von Anekdoten und Gesprächen überführt er in eine entwicklungsgeschichtlich fundierte Sprachpragmatik, die der Orientierung

4 Auf diese Dimension realistischer Literatur hat Patrick Ramponi aufmerksam gemacht: »Orte des Globalen. Zur Poetik der Globalisierung in der Literatur des deutschsprachigen Realismus (Frey-tag, Fontane, Raabe)«, in: Stefanie Kugler, Ulrich Kittstein (Hg.), Kulturelle Ordnungen der Erzähl-prosa des Realismus, Würzburg 2007, S. 17–59.

5 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [frz. EA: 1916], Berlin 2001, S. 79 ff . Vgl. dazu Robert Brain, »Standards und Semiotik«, in: Michael Franz et al. (Hg.), Electric Laokoon. Zeichen und Medien von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin 2007, S. 200 –223.

6 Grundlegend dazu: Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a. M. 1993, insbes. S. 1–10 und S. 106–110.

7 Den Begriff entlehne ich einem Aufsatz Iris Därmanns, die Lévi-Strauss’ Überlegungen zur »Wirk-samkeit der Symbole« (in: ders., Strukturale Anthropologie I, übers. von Hans Naumann, Frankfurt a. M. 1997, S. 204–225) diskutiert: Iris Därmann, »Symbolische und pikturale Wirksamkeit bei Lévi-Strauss und Lacan«, in: dies., Steffi Hobuß, Ulrich Löke (Hg.), Konversionen. Fremderfahrun-gen in ethnologischer und interkultureller Perspektive, Amsterdam u. a. 2004, S. 123–143.

8 Vgl. Peter J. Brenner, »Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts«, in: ders. (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a. M. 1989, S. 14–48.

Zur realistischen Verortung von Zeichenpraktiken 133 an Systemreferenzen und Zeichenmodellen anthropologische und ethnologische Systematisierungen kulturhistorisch begründeter Sprachhandlungen entgegensetzt.

In dieser Orientierung kann Polle stellvertretend zitiert werden, um den semioti-schen Kern der Faszinationskraft von Sprachen zu illustrieren, in denen die Wirk-lichkeit selbst ihren Ort hat. Der Gegensatz zur Einsicht Ferdinand de Saussures wird hier besonders deutlich: Das »Altertum«, heißt es bei Polle, lehre ebenso wie die »wilden Völker fremder Erdteile« und jener »Bruchteil« der »Gesellschaft« »in unserem verfeinerten Europa«, den man »mit dem Worte Volk bezeichnet«, dass

»die Untrennbarkeit von Ding und Namen« fest »im Volksbewußtsein« verankert sei. Daraus folge die »wahre Ansicht, daß nicht ein zufälliges, sondern ein nothwen-diges Band den Namen an den Gegenstand fesselt […]«:

Es wird uns in der Th at schwer die ganze Tragweite zu ermessen, die der Name, das Wort im Volksbewußtsein hat und nicht bloß bei den alten Völkern und bei den Na-turvölkern, sondern auch bei uns und zu unsrer Zeit. Behexung freilich fi ndet außer durch Worte auch durch den bösen Blick statt, aber dieser hat nur die einseitige Kraft, daß er schadet: das Wort verrichtet tausendfache Wunder.9

Die Erfassung der »ganze[n] Tragweite« generiert im 19. Jahrhundert den Wert des Wanderns. Die sprunghafte Vermehrung von Verkehrsmöglichkeiten und Kon-taktszenen im Zeitalter der Eisenbahn erhält dadurch eine poetologische Pointe.

Freilich wird es zugleich notwendig, den Verlust der »tausendfache[n] Wunder«

aufgrund der Voraussetzungen ihrer Erfassung im Rahmen globaler Erschließungs-geschichten ins Auge zu fassen. In seiner entsprechenden Schwerpunktsetzung ist sich Storm sowohl mit der zeitgenössischen Völkerpsychologie als auch mit Ethno-logie und Volkskunde einig. Im Anschluss an das Programm der romantischen Phi-lologie formulieren sie Positionen, die der adäquaten Archivierung erzählter Raum-semantiken und mündlich tradierter Weltverhältnisse gelten: »Wenn Sammlungen von Sagen und Aberglauben den Kultur- und namentlich den wissenschaftlichen Kreisen das Verständnis des Volksglaubens vermitteln«, schreibt der Philologe und Sammler Wilhelm Schwartz,

so gehören dazu als Ergänzung eines richtigen Bildes von dem ganzen Denken und Empfi nden der »volksthümlichen« Kreise in jenen, wie in den mannichfachen Le-bensverhältnissen, gleichsam Gallerien von kleineren Genrebildern, in denen sich auch in jenen Schichten das allgemein Menschliche, wenngleich in primitiveren, be-schränkteren und oft roheren Lebensformen abspiegelt. [/] Derartiges erscheint zu-mal für eine wissenschaftliche Volkskunde heutzutage um so notwendiger, je mehr das ganze europäische Kulturleben sich immer ideeller wie rationeller entwickelt, und

9 Friedrich Polle, Wie denkt das Volk über die Sprache. Gemeinverständliche Vorträge zur Beantwortung dieser Frage, Leipzig 1889, S. 3 f., S. 36, S. 124 und S. 122.

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Litteratur, Wissenschaft und Kunst die Kluft erweitert haben, welche überall schon da entsteht, wo, neben einem natürlichen, den mehr ländlichen Kreisen anheimfal-lenden Volkstum, sich ein reicheres Kulturleben an einzelnen Centralstellen in beson-deren Lebensgestaltungen zu entfalten beginnt.10

In seinem Wanderbuch (1869) hatte Wilhelm Heinrich Riehl diese Forderung nach einer narrativen Kontextualisierung des Wissens von »primitiveren, beschränkteren und oft roheren Lebensformen« bereits unter dem Begriff der »Signatur« eines Raums eingeführt. Die »Signatur« sei »der Knoten, an welchen sich das ganze Ge-webe unserer forschenden und darstellenden Arbeit knüpft […].«11 Riehls Projekt einer »sociale[n] Ethnographie von Deutschland«12 verortet den Beginn des Wis-sens ebenso in der Erfahrung des Raums wie wenige Jahre später Edward B. Tylor.

Tylors grundlegendes Buch Die Anfänge der Cultur (1873) verbindet diese episte-mologische Prämisse indes mit einer evolutionären Perspektive. Es wird dadurch zum Ausweis des normativen Drucks, unter den kulturwissenschaftliche Gegen-stände geraten, wenn sie mit den Begriff en der Evolution konfrontiert werden:

Wenn im Laufe der Zeit der Zustand eines Volkes eine allgemeine Umgestaltung er-fahren hat, so fi ndet sich trotzdem gewöhnlich Vieles, das off enbar seinen Ursprung nicht in den neuen Verhältnissen hat, sondern einfach in dieselben übergegangen ist.

Gestützt auf diese Ueberlebsel wird es möglich zu erklären, dass die Civilisation des Volkes, wie wir sie bei demselben beobachten, aus einem frühern Zustande stammen muss, in welchem wir die eigentliche Heimat und Bedeutung dieser Dinge zu suchen haben: und deshalb müssen wir Sammlungen solcher Th atsachen als Fundgruben für historische Kenntnisse veranstalten. Wenn wir solches Material behandeln wollen, so ist die Erfahrung dessen, was thatsächlich geschehen ist, der Hauptführer, und die di-rekte Geschichte muss uns zuerst und vor Allem lehren, wie alte Gebräuche ihren Platz behaupten können inmitten einer neuern Cultur, welche sie entschieden niemals her-vorgebracht haben würde, sondern im Gegentheil aufs Eifrigste zu verdrängen sucht.13 Auf diese Konfi guration von Sammlung, Entwicklung und Verdrängung soll zu-nächst in einer etwas grundlegenderen Perspektive eingegangen werden, um die

10 Wilhelm Schwartz, »Volkstümliche Schlaglichter«, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1 (1891), H. 1, S.  17–36, hier S. 17.

11 Wilhelm Heinrich Riehl, Wanderbuch, als zweiter Th eil zu »Land und Leute«, in: ders., Die Naturge-schichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. 4, Stuttgart 1869, S. 4 und S. 18.

12 Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, in: ders., Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage ei-ner deutschen Social-Politik, Bd. 1, Stuttgart, Augsburg 41857, S. VII.

13 Edward B. Tylor, Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Phi-losophie, Religion, Kunst und Sitte. Unter Mitwirkung des Verfassers ins Deutsche übertragen von J.W.

Spengel und Fr. Poske. Erster Band, Leipzig 1873, S. 71.

Zur realistischen Verortung von Zeichenpraktiken 135 kulturanthropologischen und poetologischen Bedingungen der Beziehung zwi-schen Räumen, Zeichen und Erzählungen zumindest in ihren Umrissen zu skizzie-ren. Im Anschluss daran wird Th eodor Storms frühe medienanthropologische Spe-zifi kation dieses Verhältnisses diskutiert; sie zeigt die Geschichte der Raumsemantik als Folge des Medienbegriff s, der in der Art und Weise, in der Individuen mit den Geschichten von Räumen umgehen, seine Konturen erhält.

2. »Gallerien von kleineren Genrebildern«. Die Ethik des Museums

Das protoevolutionäre Moment in der eingangs erwähnten Konstellierung von Raum und Zeit schlägt sich in einer temporalen Aufspaltung der Raumsemantik nieder. Das zeigt sich einerseits darin, dass die Semantik einen Raum als Ressource seiner zukünftigen Gestaltung erscheinen lassen kann.14 Sie generiert auf diese Wei-se vor dem Hintergrund neuzeitlicher Landnahmen eine Zeichenordnung, in der das ökonomische Kalkül die Erfahrung des Raums auf eine bessere Zukunft jenseits seiner gegenwärtigen Verfasstheit verpfl ichtet. Im 19. Jahrhundert eignet dieser Auf-fassung eine Konnotation, die sich als »amerikanisches Versprechen« apostrophieren ließe;15 – sie hat nicht erst seit Hegels Rede vom amerikanischen »Ausweg der Kolo-nisation« einen imperialen Zug,16 wie noch Friedrich Ratzel bestätigt: »So macht es der Amerikaner.«17 Andererseits fi ndet eine temporale Ausrichtung der Raumse-mantik auch dort statt, wo die Geschichte des Raums als notwendiges Korrelat sinn-stiftender Erzählungen fi guriert. In diesem Fall handelt es sich um die wechselseitige Bezeugung wahrnehmbarer Sinnschichten,18 die die Bewohner eines Raumes als überlieferter Verweisungszusammenhang umfangen. In der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunderts steht hinter diesen Beobachtungen, denen Herder den Namen der

»Volkspoesie« gab,19 ein anthropologisches Argument über die Funktionsweise der menschlichen Psyche. Dadurch werden sie dem Verdacht bloßer Historizität

14 Vgl. Alexander Honold, »Pfadfi nder. Zur Kolonialisierung des geographischen Raums«, in: Alex-ander C.T. Geppert, Uff a Jensen, Jörn Weinhold (Hg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 137–156.

15 Vgl. dazu meinen Aufsatz: »Die Legitimät der Transgression. Zur Rationalität hegemonialer Ge-walt in Gustav Freytags Roman ›Soll und Haben‹«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), Sonderheft: Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, S. 265–280, hierzu insbes. S. 265–271.

16 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Bd. 12, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 113. Zu Hegels Anverwandlung der Kolonialgeschichte vgl. Susan Buck-Morss, Hegel, Haiti, and universal history, Pittsburgh 2009.

17 Friedrich Ratzel, »Amerikanische Landschaft«, in: ders., Die Vereinigten Staaten von Amerika, Ers-ter Band: Physikalische Geographie und NaturcharakErs-ter, München 1878, S. 429–432, hier S. 432.

18 John D. Niles, Homo narrans. Th e Poetics and Anthropology of Oral Literature, Philadelphia 1999, S. 2 ff .

19 Vgl. Bernd Auerochs, »Poesie als Urkunde. Zu Herders Poesiebegriff «, in: Martin Keßler, Günter Arnold (Hg.), Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerks, Berlin u. a. 2005, S. 93–113.

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ben: »Wenn man auch zugeben muss, dass solche Ueberlebsel (Tylors survivals) sich auch in der Poesie, wie überhaupt in allen Producten des Volksgeistes, erhalten ha-ben können«, konzediert ein Aufsatz über »Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie« aus dem Jahr 1889,

so muss man andererseits bedenken – und das soll hier mit Nachdruck hervorgeho-ben werden – dass dieselhervorgeho-ben und ähnliche Vorstellungen auch im psychischen Mecha-nismus ihren Ursprung haben und dass es verfehlt wäre alle Personifi cationen und Symbolisirungen für alte mythologische Vorstellungen zu erklären. Oertliche und zeitliche Association zweier Vorstellungen sind wir noch heutzutage geneigt dem be-kannten post hoc, ergo propter hoc gemäß für causale zu halten, und eine so aufge-fasste Causalität ist von jeher der eigenste Quell alles Aberglaubens.20

Den entsprechenden Zeichen kann zumindest auf den ersten Blick keine eindeutige Zeitlichkeit attestiert werden. In ihrer »symbolischen Wirksamkeit« eignet ihnen ein verbindlicher Charakter, der die Bedeutung der chronologischen Akkumulation von Geschichte zugunsten mythischer Urszenen zurücktreten lässt: »Kennt man eine Localität, die sehr geeignet ist, als Schauplatz einer jener Begebenheiten zu die-nen,« heißt es in Hajm Steinthals zeitgenössischem Vortrag »Mythos und Religion«,

»so wird sie auch unmittelbar dafür anerkannt und gilt als Beweis der Richtigkeit und Wahrheit der Erzählung.«21 Eine genaue Bestimmung der Geltungsbedingun-gen semantischer OrdnunGeltungsbedingun-gen ist dadurch an die Kenntnis von ErzählunGeltungsbedingun-gen und Räumen gebunden, die jeweils komplexe Zeithorizonte aufrufen. Diese Komplexi-tät sperrt sich jener semantischen Homogenisierung, in der Zeichenpraxis und Raumbedeutung voneinander gelöst werden, um die Orientierung eines Kollektivs auf die Zukunft jenseits seiner bedeutungsstiftenden kulturellen und räumlichen Grenzen zu richten. Die von Claude Lévi-Strauss postulierte Unterscheidung »war-mer« und »kalter« Gesellschaften, die er in seinem Buch über »Das wilde Denken«

anstelle der üblichen Trennung von »geschichtlichen« und »geschichtslosen« Völkern vorschlug,22 kann auf dieser Diff erenzierung der temporalen Komplexität unter-schiedlicher Raumsemantiken abgebildet werden. Zur Signatur »kalter Gesellschaf-ten« gehört in der hier verfolgten Perspektive die komplexe Zeitlichkeit mündlich tradierter Raumsemantiken; der fortschrittliche Dezisionismus, der seine Emanzi-pation von der Verbindlichkeit erzählerischer Raumordnungen im Vorgriff auf die Verheißungen der Zukunft nicht zuletzt im Rekurs auf den Begriff der »Arbeit«

20 Dr. Franz Krejčí, »Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie«, in: Zeitschrift für Völkerpsycho-logie und Sprachwissenschaft 19 (1889), H. 2/3, S. 115–141, hier S. 141 f.

21 Hajm Steinthal, Mythos und Religion, Berlin 1870, S. 19.

22 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1968, S. 270.

Zur realistischen Verortung von Zeichenpraktiken 137 legitimiert,23 wäre dagegen ein Merkmal »warmer« Gesellschaften. Es zählt zur Cha-rakteristik »kalter« Gesellschaften, dass sie, wie Jan Assmann im Anschluss an Lévi-Strauss formuliert, nicht durch einen Mangel gekennzeichnet sind, »sondern [durch]

eine positive Leistung […]. Kälte ist nicht der Nullzustand der Kultur, sie muß er-zeugt werden.« Zur Erzeugung von »Kälte« gegenüber der Möglichkeit eines histo-rischen Wandels, der die Stabilität gesellschaftlicher Zusammenhänge durch die emphatische Besetzung zukünftiger Geschichte unter Druck setzt, bedarf es der Hilfe von »Institutionen und Sozialmechanismen«, die einen bestimmten Modus des Erinnerns etablieren: »Um dieser Erinnerung willen muß das Eindringen von Geschichte verhindert werden.«24 Zu den Modi stabilisierenden Erinnerns gehören Kulte, Riten und all jene Formen narrativ gestifteter Verbindlichkeit, die Storms Zeitgenossen als »Volksaberglauben« beschreiben: »Unter den geistigen Mächten, welche unser Volksleben bewegen u. beherrschen«, heißt es in Adolf Wuttkes Samm-lung Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart,

ist der Aberglaube eine der bedeutendsten, in vielen Kreisen eine größere als die Reli-gion u. manchmal fast an deren Stelle getreten. Der Wissenschaft u. der ReliReli-gion gleichsehr entgegengesetzt u. von beiden aufs äußerste bekämpft, zeigt er eine überra-schend zähe Ausdauer u. unverwüstliche Lebenskraft, gleich jenem Hauskobold, den man durch Anzünden des Hauses loswerden wollte, u. der, als die Familie mit ihren Besitztümern davonfuhr, ganz munter vom hintern Th eile des Wagens rief: »wenn wir nicht wären entronnen, so wären wir alle verbronnen.«25

Bei Storm wird das Argument, das Lévi-Strauss angesichts der evolutionären Ver-zeitlichung fremder gesellschaftlicher Organisationsformen und semiotischer Ord-nungen in Anschlag bringen wird, gleichsam von seiner historischen Rückseite her thematisiert. Die Gefährdung der gesellschaftlichen Überlebensfähigkeit schreibt sich bei ihm von der Möglichkeit her, dass das Faszinationsmoment überkomme-ner »Institutionen und Sozialmechanismen« eines Raumes, der bereits mit jenen Veränderungen in Kontakt getreten ist,26 die das 19. Jahrhundert als Fortschrittsge-schichte erzählt, zu einem Rückfall in die Muster und Institutionen »kalter« Gesell-schaften führt. Angesichts der Relativierung der Verbindlichkeit kultureller

23 Vgl. Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 279–315.

24 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hoch-kulturen, München 62007, S. 68.

25 Adolf Wuttke, Der Volksaberglaube der Gegenwart. Zweite, völlig neue Bearbeitung, Berlin 1869, S. 1.

26 Zu den traumatischen Implikationen von Erstkontaktszenarien vgl. Klaus Scherpe, »First Contact-Szene. Kulturelle Praktiken bei der Begegnung mit dem Fremden«, in: Gerhard Neumann, Sigrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnogra-phie, München 2000, S. 149–166.

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nungen ist die Tragik der entsprechenden Konfl iktlagen unvermeidlich, wie noch der Schimmelreiter zeigt. Die Bruchlinien innerhalb von Erinnerungsgemeinschaf-ten, die sich mit ihrer eigenen Unterlegenheit auseinandersetzen müssen, verlaufen zumeist entlang jener Generationsgrenzen, deren nachhaltige Moderierung be-stimmten Initiationsritualen vorbehalten war.27 Das Fortbestehen der daran ge-knüpften Hierarchien und Machtverhältnisse erscheint zumindest aus der Perspek-tive eines evolutionären Fortschritts als handfeste Bedrohung einer zukünftigen Prosperität, die das Leben von der Komplexität tradierter Erzählungen emanzi-piert. Die Verluste, die in diesem Prozess imperialer Mobilisierungen anfallen, wer-den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff der mangelnwer-den

»Anpassung« an die Erfordernisse der Moderne erklärt.28 Die Annahme, dass dar-aus Probleme für die überkommene Vielfalt kultureller Ausdrucksformen entste-hen müssen, teilt Claude Lévi-Strauss mit Th eodor Storm. Aus dem vollzogenen Kontakt von »kalten« und »warmen« Gesellschaften resultiert mit dem Verschwin-den der »Kälte« auch die Möglichkeit, dass sich bestimmte kulturelle Praktiken und Techniken aus sich selbst heraus stabilisieren; sie werden Gegenstand musealer Interessen oder konservativer Politik. Denn die Konfrontation mit den Fähigkeiten und Medien überlegener Gesellschaften denunziert nicht nur die kulturellen Grundlagen »kalter« Gesellschaften, vielmehr irritiert sie deren Selbstverständnis

»Anpassung« an die Erfordernisse der Moderne erklärt.28 Die Annahme, dass dar-aus Probleme für die überkommene Vielfalt kultureller Ausdrucksformen entste-hen müssen, teilt Claude Lévi-Strauss mit Th eodor Storm. Aus dem vollzogenen Kontakt von »kalten« und »warmen« Gesellschaften resultiert mit dem Verschwin-den der »Kälte« auch die Möglichkeit, dass sich bestimmte kulturelle Praktiken und Techniken aus sich selbst heraus stabilisieren; sie werden Gegenstand musealer Interessen oder konservativer Politik. Denn die Konfrontation mit den Fähigkeiten und Medien überlegener Gesellschaften denunziert nicht nur die kulturellen Grundlagen »kalter« Gesellschaften, vielmehr irritiert sie deren Selbstverständnis