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Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie

1. Literarische Topographie und Raumsemantik bei Fontane

Landpartie und Sommerfrische nehmen in Fontanes Romanen die Stelle exotischer Reiseabenteuer ein. Mit der Neigung für das Nahe, Kleinräumige und Regionale steht er nicht allein, vielmehr stellt die Fixierung auf regionale Kulturlandschaften und ihre Geschichte ein Charakteristikum des deutschsprachigen literarischen Rea-lismus dar, das Fontane mit Autoren wie Stifter, Keller und Raabe verbindet.7 Weil

4 Am Beispiel von Effi Briest hat Schuster nachgewiesen, dass die scheinbar realistisch-mimetischen De-tails des Romans christlichen Bildmustern nachgestaltet sind. Siehe Peter-Klaus Schuster, Th eodor Fon-tane: Effi Briest, ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen 1978.

5 Fontanes Werke werden zitiert nach: Th eodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, München 1962–1997 [= Hanser-Fontane-Ausgabe, im Folgenden:

HFA Abt.Bd., Seite]. HFA 1.2, S. 50.

6 Peter Demetz, Formen des Realismus: Th eodor Fontane. Kritische Untersuchungen, München 1964. Ein Aufsatz von Dieter Mayer bringt kaum Neues, er schließt sich weitgehend an die Überlegungen von Demetz an. Siehe Dieter Mayer, »Die Landpartie als literarisch-gesellschaftlicher Topos bei Fontane und nach der Jahrhundertwende«, in: Michael Krejci, Karl Schuster (Hg.), Literatur, Sprache, Unter-richt. Festschrift für Jakob Lehmann zum 65. Geburtstag, Bamberg 1984, S. 63–70.

7 Während Fontane immer Berlin und die Mark Brandenburg in den Blick nimmt, zeigt sich Keller auf Zürich fi xiert, Stifter auf die Landschaft des Böhmerwalds und Raabe auf das Weserland.

Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie 79 der bürgerliche Realismus sich im Zeitalter der imperialen und kolonialen Welt-eroberung mit Vorliebe auf regionale Nischen zurückzieht, musste er sich immer wieder den Vorwurf der Provinzialität gefallen lassen. Dabei ist allerdings in Rech-nung zu stellen, dass der Beschwörung von Heimat und regionaler Identität eine kompensatorische Funktion zukommt, dass sie eine Reaktion darstellt auf die massi-ven Modernisierungsschübe und die damit verbundenen lebensweltlichen Verände-rungen im Ausgang des 19. Jahrhunderts.8 Überdies haben aktuelle, im Kontext der interkulturellen Germanistik entstandene Untersuchungen das Bild des ›provinziel-len Realismus‹ korrigiert, indem sie auf die Präsenz kolonialer Th emen in zentralen Werken des Realismus wie Raabes Stopfkuchen oder Fontanes Effi Briest aufmerksam machten.9 Somit lässt sich aus heutiger Sicht resümieren, dass sich die realistischen Autoren zwar weitgehend dem populären Genre des Reise- und Abenteuerromans verweigern, ihre Texte aber die Begegnung mit dem Fremden und kulturell Anderen nicht gänzlich aussparen, sondern sie ins vertraute Umfeld verlegen.

Insbesondere bei Fontane, für den der Vorwurf der Provinzialität wohl die we-nigste Berechtigung hat, fi ndet das Globale seine Refl exe im Nahen. Bezeichnend hierfür ist eine Figur wie der weit gereiste Ingenieur Robert von Leslie-Gordon in Cécile, der als Kabel verlegender Ingenieur an der Spitze des Fortschritts steht. Er liest die Times, raucht Havanna-Zigarren und scheint über gesellschaftliche Kon-ventionen erhaben, da er »die Wandelbarkeit moralischer Anschauungen, wie sie Race, Bodenbeschaff enheit und Klima mit sich führen, in hundertfältiger Abstu-fung persönlich erfahren hat«.10 Seinen literarischen Auftritt aber erhält dieser Re-präsentant moderner weltumspannender Kommunikationstechnik im Harz, wo seine souveräne Weltläufi gkeit schnell Risse bekommt. Ein Gleichnis für das (nicht nur in Cécile angewandte) Verfahren, Großes im Kleinräumigen zu spiegeln, bietet der Stechlin-See, der sich zu Zeiten auf geheimnisvolle Weise mit Wasser füllt,

»wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java zu rollen und zu grollen beginnt«,11 so dass das märkische Fleckchen unterirdisch mit der Welt zu kommunizieren scheint. Nicht exotische Ferne, sondern das eigene vertraute Le-bensumfeld bildet den Grund von Fontanes literarischem Schaff en. Er leistet die

8 Auch die intensive Hinwendung zur Historie lässt sich als kompensatorischer Refl ex deuten, der einer Verlustangst entspringt, die in der Erfahrung beschleunigter lebensweltlicher Veränderung wurzelt. So erklärt es sich, dass gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also in einer Zeit, die in einem nie da gewesenen Ausmaß von technischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen gezeichnet war, das Sammeln, Restaurieren, Aufbewahren und Ausstellen von historischen Relikten einen exzep-tionellen kulturellen Stellenwert gewann. Vgl. hierzu Katharina Grätz, Musealer Historismus. Die Ge-genwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe, Heidelberg 2006, insbes. S. 83 f.

9 Beispielhaft sei hier auf das Buch von Axel Dunker verwiesen: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008.

10 HFA 1.2, 20. Kap.

11 HFA 1.5, S. 7.

80 Katharina Grätz

literarische Erschließung eines regional gebundenen »Kulturraums«12 in vielfältigen Dimensionen, ohne Brüche und Ungleichzeitigkeiten auszusparen.

Wesentlicher noch als die Spannung von Globalem und Regionalem ist die Spannung von Stadt und Provinz, von urbanem und ländlichem Raum. Ein guter Teil von Fontanes Romanen spielt in der deutschen Metropole Berlin, wobei die Figuren immer wieder Ausfl üge an die Peripherie der Stadt oder zu nahe gelegenen Erholungsorten unternehmen. Sowohl städtische als auch ländliche Schauplätze werden realistisch vergegenwärtigt. In seinen Berlin-Romanen nennt Fontane Stadtteile und Straßennamen und bezieht sich derart genau auf die großstädtische Topographie, dass sich das Geschehen anhand eines Stadtplans nachvollziehen lässt. Und nicht bloß die damals populären Berliner Ausfl ugsorte fi nden sich in den Romanen wieder, sondern auch deren Gastronomie: Für Löbbekes Kaff eehaus in L’Adultera und Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen standen reale Vorbilder Pa-te.13 In Hankels Ablage verbrachte Fontane im Mai 1884 vierzehn Tage, um vor Ort an seinem Roman Irrungen, Wirrungen zu schreiben. Freilich sind nicht alle Schauplätze des Romans der Realität nachgestellt, doch auch die fi ktiven Orte und Räume vermitteln den Eindruck des Realistischen. Fontane ging im Streben nach Realitätsillusion so weit, dass er für die erfundenen Örtlichkeiten in Irrungen, Wir-rungen eine detaillierte Lageskizze anlegte – sogar das Spargelbeet der Dörr’schen Gärtnerei ist dort eingezeichnet.14 Dieser »faktophile Realismus«15 intendiert die Grenzverwischung zwischen Realität und Fiktion; der fi ktionale Entwurf wird in der, dem zeitgenössischen Leser vertrauten, Realität situiert und scheint sich dieser bruchlos einzufügen.16

12 Das Kulturraumkonzept, wie es insbesondere in den amerikanischen Area Studies angewandt wird, ist freilich großräumig auf interkulturelle Konstellationen bezogen und tendiert dazu, kulturelle Binnen-diff erenzen regionaler Art gerade auszublenden. Erkenntnis fördernd für das Verständnis von Fontanes literarischer Raumkonzeption ist aber die Vorstellung, dass Räume Kulturstandards prägen, indem sie die Maßstäbe des Wahrnehmens, Denkens und Handelns festlegen (so etwa Alexander Th omas, »Psy-chologische Wirksamkeit von Kulturstandards im interkulturellen Handeln«, in: ders., Interkulturelles Organisationstraining für die USA, Saarbrücken 1991, S. 55–69).

13 Laut Gotthart Wunberg ist fast jeder Schauplatz von Fontanes Romanen »mit den entsprechenden Jahrgängen des Baedeker nahezu genau auszumachen«, Gotthart Wunberg, »Rondell und Poetensteig.

Topographie und implizite Poetik in Fontanes Stechlin«, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte.

Festschrift für Richard Brinkmann, S. 458–473, hier S. 462.

14 Fontane hegte Skrupel hinsichtlich der perspektivisch ›richtigen‹ topographischen Gestaltung. Etwa beschäftigte es ihn, ob es überhaupt möglich wäre – wie in Irrungen, Wirrungen geschildert – von der Landgrafenstraße aus die Charlottenburger Kuppel zu sehen. Siehe Walter Killy, »Abschied vom Jahr-hundert. Fontane: ›Irrungen, Wirrungen‹«, in: ders., Wirklichkeit und Kunstcharakter. Neun Romane des 19. Jahrhunderts, München 1963, S. 193–211, hier S. 210.

15 Richard Brinkmann, »Der angehaltene Moment. Requisiten − Genre − Tableau bei Fontane«, in: Jörg Th unecke (Hg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles, Nottingham 1979, S. 360–380, hier S. 378.

16 Searle sieht darin eine verbreitete Strategie realistischer Literatur: »Im Falle realistischer oder naturalis-tischer fi ktionaler Werke nimmt der Autor auf wirkliche Orte und Ereignisse Bezug, vermischt diese

Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie 81 Nun triff t ein Roman allerdings keine Realitätsaussagen, sondern etabliert, mag er auch noch so realistisch scheinen, eine eigene fi ktionale Welt. Jedes aufgerufene Detail trägt zu ihrer Konstitution bei. Das Einzelne steht also nicht um seiner selbst willen, sondern ist integraler Bestandteil des innerliterarischen Bedeutungs-gefüges. Weder referiert es nur auf außerliterarische Realität, noch besitzt es allein mimetische Funktion, vielmehr entfaltet es Funktion und Bedeutung im Textzu-sammenhang. Beispielhaft hierfür ist der kunstvolle Erzählanfang von Effi Briest, der scheinbar bloß detailliert den Schauplatz schildert, dabei aber unter der Hand das Bezugssystem etabliert, innerhalb dessen sich das Romangeschehen abspielt.

Die vorgestellten Details und Realien − wie Sonnenuhr, Heliotrop, wilder Wein und die Schaukel −, die zunächst lediglich mimetische Qualität zu besitzen schei-nen, werden im Verlauf der Handlung kenntlich als Leitmotive, die Effi s Geschich-te begleiGeschich-ten, spiegeln und deuGeschich-ten. Sie erhalGeschich-ten damit entscheidende Funktion für die Figurendarstellung.

Grundsätzlich gilt, dass Fontanes Texte den Handlungsraum häufi g aus Figu-renperspektive vermitteln, ihn also nicht als objektive Gegebenheit präsentieren, sondern als subjektiv wahrgenommenen, anthropologischen Raum, in dem sich die Befi ndlichkeiten der Figuren spiegeln. Für die literarische Darstellung der Landpartien ist das von zentraler Bedeutung. Sie erscheinen weniger als realitätsge-treues Abbild kultureller Praxis, sondern zeigen den fi gurenperspektivischen Um-gang mit dem Kulturmuster ›Landpartie‹ und vermitteln auf diese Weise Einblick in das Rollenverständnis der Figuren und ihr Verhältnis zur Umwelt.