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Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie

4. Gefahren des Übergangs

»Bei […] Fontane fährt man ab und kommt an; die Reisen fallen, wie auf der Ko-mödienbühne in die Pausen«62. Diese Bemerkung Walter Müller-Seidels triff t auf die Mehrzahl der in Fontanes Romanen geschilderten Landpartien zu. Sie sind ri-sikolos, fußen auf sorgfältiger Planung und vermitteln lediglich die Illusion von Fremderfahrung. Eine von Kultur unberührte Natur scheint es nicht zu geben, so dass die Reise lediglich von einem bergenden Kulturraum zum andern führt. Fon-tanes Figuren jedoch, insbesondere seine weiblichen Protagonistinnen, packt mit-unter ein Verlangen, aus dem ungefährdeten und inauthentischen Raum bürgerli-cher Projektionen auszubrechen. Effi spricht das deutlich aus, wenn sie auf die Warnung, sich nicht zu weit aus der Kutsche zu beugen, entgegnet: »wenn ich hi-nausfl öge, mir wär’ es recht, am liebsten gleich in die Brandung«.63

Fontanes Texte schließen das Unvorhergesehene und Unbekannte nicht gänz-lich aus. Insbesondere begegnet es an den räumgänz-lichen Übergängen, also bei der Be-wegung von Ort zu Ort. Hier tun sich bisweilen unvermittelt Abgründe auf – ge-nauer: eine abgründige Natur, eine nicht domestizierbare Elementargewalt. Die Texte codieren das Fremde als Landschaftsräume mit verschwimmenden Grenzen, als Sumpf, Eisfl äche, Schloon. Zwar führen Fontanes Landpartien von einem mar-kierten, fest umgrenzten Raum zum anderen, dazwischen aber, auf dem Weg oder der Passage, können die Grenzen aufweichen, kann der Boden seine Festigkeit ver-lieren und der Raum sich ins Unbestimmte öff nen. Das prominenteste Beispiel für eine derartige Erfahrung des – in wörtlichem Sinn – Bodenlosen bildet die weih-nachtliche Schlittenfahrt in Effi Briest. Im Sommer pfl egt der Schloon auszutrock-nen, so dass man ungefährdet über ihn hinweg fahren kann, im Winter aber

[d]a wird es ein Sog, und am stärksten immer dann, wenn der Wind nach dem Lande hin steht. Dann drückt der Wind das Meerwasser in das kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, daß man es sehen kann. Und das ist das Schlimmste von der Sache, darin steckt die eigentliche Gefahr. Alles geht nämlich unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann über solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist, dann sinkt man ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor wäre.64

Hier zeigen sich plötzlich Lücken und Untiefen in der bürgerlichen Erfahrungs-welt. Sie machen den Ehebruch, den Bruch mit den bürgerlichen Konventionen, sichtbar als Verlust von räumlicher Geschlossenheit, Verlässlichkeit und Kontinui-tät. Auf diese Weise wird der Ehebruch, den der Erzähler dezent ausspart, dann

62 Demetz, Formen des Realismus, S. 118.

63 HFA 1.4, S. 157.

64 HFA 1.4, S. 159.

Der Ausfl ugsort in Fontanes literarischer Topographie 91 doch narrativ vermittelt und als Riss im geschlossenen Kosmos der bürgerlichen Welt kenntlich gemacht. Auch wenn die eigentliche sexuelle Vereinigung eine Leerstelle im Text bildet und folglich dem Leser unzugänglich bleibt − Fontanes li-terarische Topographie holt das Ausgesparte mittelbar ein, indem sie es topogra-phisch markiert und den räumlichen Kontinuitätsbruch mit Bildern, Zitaten und mythischen Vorstellungen umstellt.

Ein wichtiges Glied in der Kette der Bilder und Verweise bildet das eigentliche Ziel der Schlittenpartie, das Forsthaus Ring, das sich als heterogener und inauthen-tischer Raum präsentiert. Ähnlich wie in Hankels Ablage ist die Wohnung der Försterfamilie gekennzeichnet durch die Kopräsenz von Dingen, die auf unter-schiedliche soziale Sphären verweisen.65 So hängen auch im Forsthaus Gemälde, die den Raum mit anderen Räumen überblenden, etwa Darstellungen der Marien-burg, des Danziger Klosters Oliva sowie eine Reproduktion des Altarbilds Das jüngste Gericht des niederländischen Malers Hans Memling (ca. 1430/40–1494).

Dieses Weltgerichtsbild, das Jesus als Weltenrichter zeigt, der die Glückseligen ins Paradies, die Verdammten aber in die Hölle schickt, weist voraus auf Effi s ›Sünden-fall‹ und spiegelt ihre Angst vor der eigenen Verführbarkeit. Im Gegenzug be-schwört sie selber immer wieder Clemens Brentanos Gedicht von der Gottesmauer herauf, das sie zwar nicht wörtlich zitiert, dessen Inhalt sie aber Crampas während eines Spaziergangs in Form der folgenden »kleinen Geschichte« wiedergibt:

Da war irgendwo Krieg, ein Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde mächtig fürchtete, betete zu Gott, er möge doch ›eine Mauer um sie bauen‹, um sie vor dem Landesfeinde zu schützen. Und da ließ Gott das Haus einschneien, und der Feind zog daran vorüber.66

Auch Effi s Ängste und innere Schutzmechanismen werden also in räumliche Vorstel-lungen transponiert. Die Raumsemantik dient der Inszenierung psychischer Vorgän-ge. Der befestigte, durch Schnee hermetisch abgeschlossene Ort des Gedichts, ein Sinnbild der Jungfräulichkeit Marias,67 bildet die räumliche Gegenvorstellung zum Schloon, der tückisch und unberechenbar unter der Schneedecke lauert.

Schluss

Manet bedient sich einer Technik, die ich als Überblendung bezeichnet habe. Er überblendet eine gegenwärtig anmutende Situation mit biblischen und mythologi-schen Bildthemen (die Bildkomposition seines Frühstück im Grünen lehnt sich

65 Motiviert wird das durch die Herkunft der Förstersfrau aus einer reichen Kaufmannsfamilie.

66 HFA 1.4, S. 151.

67 Schuster, Th eodor Fontane, S. 1 f.

92 Katharina Grätz

sondere an Raff aels Urteil des Paris an). Dadurch entsteht eine Figuration, die irritiert, weil sie mit allen Wahrnehmungskonventionen bricht, eine neue Raumkonstellation schaff t, die weder in der Gegenwart noch in der künstlerischen Tradition ihre Ent-sprechung fi ndet. Wir haben gesehen, dass Fontane ebenfalls mit Strategien der Über-blendung arbeitet. Manets Frühstück im Grünen und Fontanes Romane richten die Aufmerksamkeit dabei auf ähnliche Aspekte: auf das Verhältnis von Großstädter und Natur, auf die Geschlechterrollen, auf Sehnsüchte und Projektionen des bürgerlichen Daseins. Freilich zeigen sich auch Diff erenzen zwischen Fontanes narrativem und Manets malerischem Verfahren. Fontane rückt fi gurengebundene Wahrnehmungen in den Mittelpunkt, Räume werden in seinen Romanen perspektivisch erschlossen.

Er überblendet die erzählerisch repräsentierten Räume mit imaginären Räumen, die als mentale Vorstellungsmuster oder materielle Bildwerke aufgerufen werden und in jedem Fall Projektionscharakter besitzen. Wie Manets Bild können auch Fontanes Texte eine Erschütterung eingefahrener Wahrnehmungskonventionen auslösen – je-doch in signifi kant anderer Weise: Sie schaff en ein Bewusstsein für milieu- und men-talitätsgeschichtlich geprägte Wahrnehmungsmuster, die Realität zum Käfi g bürgerli-cher Ideologie werden lassen.

Gut zu sehen ist das an dem ›Frühstück im Grünen‹, das Botho und Lene in Han-kels Ablage unter einer großen Ulme einnehmen. Es gibt Kaff ee, Tee, Eier und Fleisch; in einem »silbernen Ständer« werden »Schnittchen von geröstetem Weißbrot«68 gereicht. Die dabei zu vernehmenden Arbeitsgeräusche empfi ndet Botho nicht als störend, sondern integriert sie mühelos in sein touristisches Erleben.

Zu erkennen ist, wie Bothos sozialromantische Wahrnehmung den Raum projektiv überformend vereindeutigt, während der Text auf seine Mehrfachcodierung ver-weist.

Hier müssen wir öfter unser Frühstück nehmen. […] Himmlisch! Und sieh nur da drüben auf der Werft, da kalfatern sie schon wieder und geht ordentlich im Takt.

Wahrhaftig, solch Arbeitstaktschlag ist doch eigentlich die schönste Musik.69

68 HFA 1.2, S. 389.

69 Ebd.