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Von 1854 bis 1857 hielten sich die Brüder in Asien auf. Sie reisten, wie treff end ge-schrieben worden ist, »im Stil und im Sinn von Humboldt«.23 Genau wie ihr Men-tor gruben sie Leichen aus, trieben fi ebernd über tropische Flüsse und verstanden es, einheimische Träger durch taktische Ziegenopfer auf unbestiegene Bergeshöhen zu locken. Am Kamet im Himalaya wuchsen sie sogar über Humboldt hinaus, als sie seinen alten Höhenrekord vom Chimborazo einstellten. Der Sammeleifer der Schlagintweits kannte keine Grenzen. Die Berichte an die East India Company ver-zeichnen ein wachsendes Heer von einheimischen »plant collectors«, »shooters« und

»porters«, die eine wachsende Anzahl von Kisten schleppten. Die Brüder verrichte-ten derweil die erforderlichen »Gesverrichte-ten der Präzision« an den »compasses«, wie die indischen Träger unterschiedslos sämtliche Messinstrumente nannten.24 Der Kon-trast zwischen Wildnis und Akkuratesse, der diese Reiseszenen oft grotesk wirken lässt, wurde durch die unübersichtliche politische Situation noch verschärft. Im

19 Hermann an Barth am 17. Mai 1854, Staatsbibliothek Berlin, Sammlung Darmstaedter, Hermann von Schlagintweit, Asien 1855 (5).

20 Zitiert nach Körner, Schlagintweit, S. 63.

21 Vgl. Emil Schlagintweit, »Schlagintweit«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 31, Leipzig 1890, S. 336–348, hier S. 338.

22 In gewisser Weise reisten die Schlagintweits also als Humboldts verspätete Stellvertreter. Vgl. dazu Wilhelm Kick, »Alexander von Humboldts Wirken für die Hochgebirgsforschung in Asien, besonders über die Brüder Schlagintweit«, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 113 (1969), S. 89–99.

23 Wilhelm Kick, »Alexander von Humboldt und die Brüder Schlagintweit«, in: Müller/Raunig (Hg.), Der Weg zum Dach der Welt, S. 76. Zu den Einzelheiten der Tour vgl. Hermanns vierbändi-ge Reisebeschreibung, von der noch die Rede sein wird: Hermann von Schlagintweit-Sakünlünski, Reisen in Indien und Hochasien, Bd. I–IV, Jena 1869–1880.

24 Vgl. Otto H. Sibum, »Reworking the mechanical value of heat. Instruments of precision and ge-stures of accuracy in early Victorian England«, in: Studies in History and Philosophy of Science 26 (1995), S. 73–106.

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›Great Game‹ – dem Vorläufer des kalten Krieges sozusagen – stritten sich England und Russland um Einfl usssphären in Zentralasien. Jeder, der im Himalaya mit Messinstrumenten unterwegs war, wurde daher als Spion der einen oder anderen Seite verdächtigt und musste mit dem Schlimmsten rechnen. Adolph, der mittlere Bruder, erfuhr das am eigenen Leib. 1857 fi el er in Kashgar einem örtlichen Des-poten in die Hände und wurde ohne viel Federlesen ermordet. Dabei war er, genau wie Hermann und Robert, seiner Arbeit meist in Verkleidung nachgegangen (Abb. 1).

Es ist höchst interessant zu lesen, wie die Schlagintweits – ähnlich wie später die von England zur Vermessung Tibets eingesetzten Pundits, die buddhistische Ge-betsketten zum Abzählen ihrer Schritte benutzten – Messinstrumente unter Hir-tengewändern versteckten oder einheimischen Potentaten erklärten, dass das, was-sie taten, völlig ungefährlich sei.25 Die Gesten des Messens werden dadurch auf bei-nahe ethnologische Weise verfremdet. Am Vorabend des Sepoy-Aufstandes, als die

25 Zu den Pundits vgl. Kapil Raj, »When human travellers become instruments. Th e Indo-British ex-ploration of Central Asia in the nineteenth century«, in: Marie-Noëlle Bourguet et al. (Hg.), In-Abb. 1: Robert von Schlagintweit in Verkleidung

Das paradigmatische/epigonale Leben der Brüder Schlagintweit 121 Herrschaft der East India Company zu dämmern begann, schiff ten sich die überle-benden Brüder Hermann und Robert mit 340 Kisten nach Europa ein.

In Humboldts Buchstaben

Ihr erster Gedanke nach der Rückkehr galt – natürlich – ihrem großen Gönner.

»Der Gegenstand, der uns beschäftigte, war so wichtig«, schrieb Hermann an Humboldt, »und die Länder, die wir durchreisen konnten, so ausgedehnt, dass wir kaum darüber nachzudenken wagen, ob, besonders in Ihren Augen, die erhaltenen Resultate diesen günstigen Umständen genügend entsprechen.«26 Doch seine Be-fürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Es hagelte Medaillen und Mitglied-schaften in wissenschaftlichen GesellMitglied-schaften und Akademien. Die Leopoldina in Halle verlieh Hermann den Beinamen ›Plinius Indicus‹. Von der Literarischen Ge-sellschaft in Kasan bekam er den exotischen Titel ›Sakünlünski‹, Übersteiger des Gebirges, angesteckt. Anstatt jedoch, wie es nahe gelegen hätte, eine Universitäts-karriere anzustreben, beantragten die Brüder ihre Erhebung in den bayrischen Adelsstand. Dem Gesuch wurde stattgegeben. Das vom Konservator der Königli-chen BayrisKönigli-chen Sammlungen entworfene Familienwappen zeigt ein Siegel des ti-betischen Klosters Mengnang und zwei bengalische, in den Farben Münchens ge-streifte Tiger – denselben bayrisch-asiatischen Eklektizismus also, der auch in Hermanns neuem Namen anklang.27 In seinen Schriften und Briefen fi rmiert er von nun an als Hermann von Schlagintweit-Sakünlünski: Ein Titel, der nach ei-nem standesgemäßen Wohnsitz rief. Mit ihrem väterlichen Erbe kauften die Brü-der Schloss Jägershof bei Bamberg, um ihre Sammlungen ausbreiten und auswer-ten zu können. In einem Fragebogen zu seiner wissenschaftlichen Vita, den er später für die Versammlung Deutscher Ärzte und Naturforscher ausfüllte, durfte sich Hermann daher mit Fug und Recht als »Gutsbesitzer« bezeichnen.28

Der Wille zum Amateurismus war Teil einer Humboldt-Mimikry, die in der zweiten Lebenshälfte der Schlagintweits immer deutlichere Formen annimmt.

Auch Humboldt hatte den Universitäten den Rücken gekehrt und sich zeitlebens dagegen gesträubt, ein Professioneller zu werden. Im Grunde ließ das sein Wissen-schaftsverständnis, das sich gegen disziplinäre Grenzziehungen sträubte, auch gar nicht zu. Das gleiche gilt für die Schlagintweits. Ihr Rückzug aufs Schloss verdank-te sich auch der Absicht, die kompletverdank-te indische Sammlung zu bewirtschafverdank-ten: Das

struments, Travel and Science. Itineraries of Precision from the Seventeenth to the Twentieth Century, London 2002, S. 156–188.

26 Hermann an Alexander von Humboldt am 17. Juni 1857, Staatsbibliothek Berlin, Sammlung Darmstaedter, Hermann von Schlagintweit, Asien 1855 (5).

27 Vgl. Körner, Schlagintweit, S. 65 f.

28 Der Fragebogen liegt heute in der Staatsbibliothek Berlin, Sammlung Darmstaedter, Hermann von Schlagintweit, Asien 1855 (5).

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Inventar, das die Brüder unverzüglich an den Preußischen König schickten, ver-zeichnet 14.777 laufende Nummern, darunter 9.577 geologische Handstücke, 1.800 Pfl anzenpräparate, 650 Baumdurchschnitte und Sämereien, 750 Tierpräpa-rate (inklusive einem Tiger und einem kleinen Elefanten), 400 menschliche Skelet-te, Schädel und Gesichtsmasken aus Gips, 1.400 ethnographische Artefakte und 200 tibetanische und indische Handschriften.29 In welches der neuen Universitäts-institute hätte dieses uferlose Material gepasst? Leider war der Status des ›gentle-man naturalist‹, den die Brüder anstrebten, in den 1860er Jahren selbst in seinem Mutterland Großbritannien bereits ein soziales Auslaufmodell. Von Deutschland, wo es keine vergleichbare Tradition gab und wo die disziplinäre Universität und der professionelle Professor im Begriff standen, den Wissenschaftsbetrieb zu monopo-lisieren, ganz zu schweigen. Vielleicht sind die tragischen Humboldtianer der Ge-neration Schlagintweit die letzten deutschen Wissenschaftsamateure.

Trotz dieser eigentlich ungünstigen Situation ging das erste Interesse der Brüder dahin, ihre Sammlung gegen alle zentrifugalen Kräfte zusammenzuhalten und ge-meinsam mit den hundert Foliobänden, die die schriftlichen Aufzeichnungen von der Reise enthielten, von vorne bis hinten auszuwerten. Nichts fürchtete Hermann mehr, wie er in einem Brief aus dieser Zeit feststellte, als »das fernere Zertheilen des einmal ausgewählten Ganzen«.30 Und doch tat er zunächst genau das. Auf Schloss Jägersburg, unter periodischen Schüben von Malaria leidend, bestand seine erste Tat darin, die Foliobände zu zerschneiden, in denen der Ertrag der Indientour festgehal-ten war. Die einzelnen Stücke, zumeist aus dem himmelblauen Papier der East India Company, klebte er anschließend zu einer endlosen Perlenschnur isolierter Beob-achtungen zusammen (siehe Abb. 2).31 Aus dieser Schnur sollte der Text des epi-schen Reisewerks gewebt werden. Zur Illustration von Hermanns cut and paste eini-ge Schnipsel aus dem Konvolut »Optische Erscheinuneini-gen der Atmosphäre«:

»Dekkan Morgens stets sehr schön aber schon gleichzeitig mit Sonnenaufg wel-lenartige Nebel die der Landschaft ein Decorationsähnliches Ansehen geben.« »Für photographische Arbeiten ist das Licht am günstigsten, wenn die Sonne ungefähr 45° Höhe hat.« »Feuchtigkeit verändert Durchsichtigkeit der Luft nicht unähnlich der Wirkung von Oel das auf mattes Glas gerieben wird.« »Blaue Farbe Maximum um 8 oder 9, dann weisser.«32 Dieser letzte Eintrag bezieht sich auf Messungen mit dem Cyanometer, einer Vorrichtung, die Naturforscher seit Saussure dazu benutz-ten, die Tönung des Himmels und den Dunstgehalt der Luft zu bestimmen. Insge-samt handelt es sich um Beobachtungen, die irgendwo zwischen Wissenschaft und

29 Zitiert nach Körner, Schlagintweit, S. 67.

30 Hermann von Schlagintweit an N.N. am 2. Juli 1862, Staatsbibliothek Berlin, Sammlung Darm-staedter, Hermann von Schlagintweit, Asien 1855 (5).

31 Die Bände befi nden sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek München, Schlagintweitiana, II.1.

32 Alle Zitate aus dem Band Optische Erscheinungen der Atmosphäre – Beobachtungen über Th au – Gletscher, Bayrische Staatsbibliothek München, Schlagintweitiana, II. 1. 21.

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Ästhetik angesiedelt sind, zwei Gebieten, die laut Alexander von Humboldt un-trennbar zusammen gehörten.

Mit seiner Collagetechnik stellte sich Hermann von Schlagintweit in eine ehrwür-dige Tradition. Der Papierschnipsel, auf dem eine einzelne Beobachtung festgehalten ist, reicht bis an die Wurzeln neuzeitlicher Empirie zurück. In sogenannten ›com-monplace books‹ – Kollektaneenbüchern – sammelten die Gelehrten der frühen Neuzeit alles, was ihnen bemerkenswert erschien, von lateinischen Klassikerzitaten bis zu meteorologischen Beobachtungen.33 In kurzen, schnörkellosen Eintragungen häuften sie ein Wissen an, das mit den Traktaten der scholastischen Naturphiloso-phie wenig gemein hatte: Tatsachenwissen. Das ›matter of fact‹ – als »Tatsache« spä-ter ins Deutsche übersetzt – war der Wissenschaftsschlager des 17. Jahrhunderts.

33 Vgl. Lorraine Daston, »Warum sind Tatsachen kurz?«, in: Anke te Heesen (Hg.), Cut and Paste um 1900. Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften, Berlin 2002, S. 132–144, hier S. 142. Speziell zum ›commonplace book‹ vgl. Ann Blair, »Humanist Methods in Natural Philosophy. Th e Com-monplace Book«, in: Journal of the History of Ideas 53 (1992), S. 541–51.

Abb. 2: Indische Reiseaufzeichnungen

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Kurz, kompakt und interpretationsunabhängig, aber auch sperrig, wenn es darum ging, sich in einen spekulativen Argumentationsgang zu fügen, etablierten sich Fak-ten als Herzstück der neuen Naturphilosophie. Francis Bacon, der Reformator der englischen Wissenschaft, empfahl, bis auf weiteres von allen Erklärungsversuchen abzusehen und sich stattdessen ganz auf die Sicherung von Tatsachen zu konzentrie-ren. Erst wenn das »Lagerhaus« des Wissens derart mit Fakten gefüllt sei, schrieb er, könne man daran gehen, die Natur auch in ihren ursächlichen Zusammenhängen zu erforschen. Wer vorschnell zu philosophieren beginne, laufe Gefahr, sich in bröckelnde dogmatische Lehrgebäude zu versteigen.34

Bacons eigene Naturgeschichte, die unvollendet gebliebene Sylva Sylvarum, machte mit diesem Vorsatz Ernst. Sie besteht aus langen Listen von unverbunde-nen Tatsachen über die Welt: ein Extrembeispiel für das neue Genre der Faktizität.

Schon zu Bacons Lebzeiten erschien das vielen als Faktenhuberei. Der Lordkanzler selbst befürchtete, seine wimmelnde Tatsachenwissenschaft könne ihre Rezipienten in Verzweifl ung stürzen. Auf manchen Zeitgenossen machte die Sylva denn auch den Eindruck, nicht mehr als ein »unverdauter Haufen von Einzelheiten« zu sein.35 Der Verzicht auf Synthese war auch eine Bankrotterklärung der Naturphilosophie.

»Schilderungen von Tatsachen«, hat die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Da-ston festgestellt, »haben [...] eine starke Tendenz, sich in Tabellen und in Listen aufzulösen.«36 Das zeigen die collagierten Manuskripte Hermann von Schlagint-weits in besonders eindrücklicher Form. Beim Versuch, die Ergebnisse seiner In-dienreise in Buchform zu publizieren, blieb der deutsche Naturforscher zweieinhalb Jahrhunderte nach Bacon im zähen Sumpf seiner Fakten stecken. Dem Zettelwerk fehlte schlicht die Kohäsion, die ein epischer Reisebericht erfordert hätte. Dabei kam es für einen Humboldtianer eigentlich vor allem auf die kosmischen Wechsel-wirkungen an. Doch durch den Imperativ, ganze Lebensräume darzustellen, schwoll auch der Strom zu berücksichtigender Daten dramatisch an. Fast könnte man von einem epistemischen ›double bind‹ sprechen, dem Hermann von Schlagintweit nicht entkam. 1858 schloss er mit dem Brockhaus Verlag einen Vertrag über neun englischsprachige Bände ab, die innerhalb von drei Jahren erscheinen sollten. Nach den magnetischen, meteorologischen, geologischen, botanischen, zoologischen und ethnographischen Ergebnissen waren für den letzten Band »Geographische Schilde-rungen« im Stil von Humboldts Ansichten der Natur vorgesehen. Bereits früh lassen sich Anzeichen kommender Schwierigkeiten ausmachen: Als der Bayrische König Hermann bei einem Audienztermin fragte, welche Ergebnisse die Reise erbracht habe, soll der Forscher stumm geblieben sein.37

34 Vgl. etwa Francis Bacon, Preparative toward a Natural and Experimental History, London 1620.

35 Zitiert nach Daston, »Tatsachen«, S. 142.

36 Ebd., S. 133.

37 Vgl. Finkelstein, »Conquerors«, S. 195.

Das paradigmatische/epigonale Leben der Brüder Schlagintweit 125 Die größten Probleme aber bereitete, wie gesagt, das Schreiben. Während die Li-teraturwissenschaftler das Epigonenphänomen des 19. Jahrhunderts als Form »wie-derholenden Schreibens« charakterisiert haben, wäre es im Fall Schlagintweit ange-messener, von einer wiederholenden Schreibhemmung zu sprechen.38 Humboldt selbst hatte nach seiner Rückkehr aus Südamerika feststellen müssen, dass seine Vi-sion einer Wissenschaft kosmischer Wechselwirkungen mit »großen Schwierigkei-ten der Komposition« behaftet war: »Da aber die Gegenstände unserer Forschungen überaus vielfältig gewesen waren«, heißt es später in der Reise in die Aequinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, »konnten wir die Resultate derselben nicht in der gewöhnlichen Form eines Tagebuches mitteilen.«39 Auch Hermann von Schlagint-weit laborierte glücklos an der Form seines Reisewerks. Die vertraglich vereinbarte Publikation verzögerte sich, nach dem vierten Band brach die Reihe schließlich ganz ab.40 Genau wie Humboldt, der sich erst nach Jahren dazu überreden ließ, seinen wissenschaftlichen Werken über Südamerika eine kürzere, erzählerische Schilde-rung seiner Abenteuer folgen zu lassen, machte sich Hermann schließlich gegen Ende der 1860er Jahre an einen ursprünglich auf zwei Bände angelegten, anschau-lichen Reisebericht auf Deutsch. Der erste Band erschien 1869, zwölf Jahre nach der Rückkehr. In der Folge schwoll das Projekt an. Aus zwei Bänden wurde vier, de-ren letzter elf Jahre nach dem ersten, 23 Jahre nach der Rückkehr aus Indien und zwei Jahre vor Hermanns Tod erschien.

Insgesamt handelt es sich um melancholische Dokumente: Der Autor berichtete ausführlich über seine Schreibschwierigkeiten. Und schilderte Tropen, die man nicht anders als traurig nennen kann: »Fast ist es allgemein erwartet, jedenfalls für die Tropen, daß alles, was dort die Landschaft bietet, unsere heimathlichen Formen an Schönheit übertreff en müsse«, schrieb Hermann. »Es giebt der öden nichtssa-genden Genichtssa-genden [jedoch, P.F.] auch dort genug, und ich werde niemals darüber schweigen, sei es auch besser, vom Leser, wenn es möglich wäre, beneidet zu sein als bedauert.«41 Was auf diese triste Eröff nung folgt, ist ein Textmassiv, dem man auf jeder Seite ansieht, wie wenig es Hermann gelungen war, sich von der Perlenschnur seiner Tatsachenschnipsel zu lösen: Sein Werk ist ein Steinbruch von Fakten, eine mühsam als Text kaschierte Tabelle in mehreren Bänden.

Auf dem Kontinent waren die Reaktionen verhalten. »Wir würden fürchten, zu vieles zu berühren, was ohne Zahlen nicht besprochen werden kann«, schrieb etwas

38 Vgl. Meyer-Sickendiek, Epigonalität, S. 90.

39 Alexander von Humboldt, Reise in die Aequinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, Frankfurt a.

M. 1991, S. 12.

40 Vgl. Hermann de Schlagintweit et al., Results of a Scientifi c Mission to India and High Asia, under-taken between the years 1854 and 1858, by Order of the Court of Directors of the Honourable East In-dia Company, Bd. I–IV, Leipzig 1861–66.

41 von Schlagintweit, Reisen, Bd. 1, IX f. Zur Melancholie als Modus indischer Reisebeschreibungen vgl. David Arnold, Th e Tropics and the Traveling Gaze. India, Landscape, and Science, 1800–1856, Seattle 2006.

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ratlos die Allgemeine Zeitung zur Entschuldigung dafür, das neu erschienene Indi-enwerk nur kursorisch zu erwähnen.42 In England wehte ein kälterer Wind. Der anonyme Rezensent des Athenaeum beklagte 1861

the absurdity of sending the Messr. Schlagintweit to report on climates, rivers and mountains, with which we were already perfectly familiar, and re-make collections of natural history, which were actually rotting in the cellars of Leadenhall Street. [...]

Th ere is a suspicion abroad that the Schlagintweits’ appointment was one of the most gigantic jobs that ever disgraced the annals of science.

Es war die Objektverhaftung der Brüder, die Unfähigkeit, sich zu irgendeiner Art von Synthese oberhalb ihrer Tatsachen zu erheben, der dieses harsche Urteil galt:

We hold the Brothers de Schlagintweit quite incapable of taking a comprehensive view of any given subject. Place good instruments in their hands, and they will take astronomical, magnetic and meteorological observations with accuracy; but ask them to furnish a comprehensive account, founded upon their observation, or of what they might have seen with their naked eyes, and they will thoroughly disappoint you. [...]

Th ey constantly loose themselves in details, with which every tourist, every guide-book to India have made us familiar.43

Man kann nur vermuten, dass der Ton weniger scharf gewesen wäre, hätte Hum-boldt noch seine schützende Hand über die bayrischen Brüder gehalten. Aber Humboldt war 1859 gestorben. Und es gibt viele Anzeichen dafür, dass der helle Stern der Schlagintweits mit Humboldts Tod zu sinken begann. Nicht nur, dass mit Humboldt der Vordenker, Architekt und Vermittler der Indienreise von der Bildfl äche verschwand. Für ihre aristokratische Naturforschung waren die Brüder auch auf fi nanzstarke Gönner angewiesen, die dazu beitrugen, die Kosten zu de-cken. Zumal die Verstaatlichung der East India Company im Gefolge der Sepoy-Rebellion sie ihres wichtigsten Geldgebers beraubte. Das Motiv klingt unmittelbar nach der Rückkehr aus Indien an, als der Spediteur, der die Verpackung und Lage-rung der Sammlung in Berlin besorgte, auf Bezahlung drang. Wer sprang in die Bresche? Natürlich Humboldt. Wie immer in solchen Fällen nutzte er seine guten Verbindungen aus und wandte sich direkt an den preußischen Kultusminister, den er wissen ließ, der Wert der 340 Kisten übersteige die Forderungen der Speditions-fi rma bei weitem.44 Sein Gesuch fand Gehör. Nach seinem Tod wurde für die Schlagintweits vieles anders. Auf Schloss Jägersburg schlich sich Geldnot ein.

42 N.N., »Das v. Schlagintweitsche Reisewerk über Indien und Hochasien«, in: Allgemeine Zeitung, Außerordentliche Beilage, 6. Juni 1862.

43 Th e Athenaeum, 17. August 1861, S. 215 f.

44 Vgl. Beck, Gespräche, S. 418.

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Mit der Zeit zeigte sich, dass gerade der Humboldt’sche Anspruch, die Samm-lung vollständig in ein panoramatisches Gesamtwerk zu überführen, zu ihrer un-aufhaltsamen Zerstreuung führte. Um die endlose Arbeit am Reisewerk – seiner

»Lebensaufgabe«, wie er schrieb45 – fi nanzieren zu können, sah sich Hermann ge-zwungen, mit seinen Schätzen hausieren zu gehen: Konnte das India Museum in London, wo schon keine regulären Gelder mehr fl ossen, nicht wenigstens die Mus-tersammlung tibetanischer Textilien (Abb. 3) übernehmen? Waren die 650 Proben von tropischen Harthölzern nicht für die britische Admiralität interessant? Und konnten der preußische oder bayrische König nicht dazu bewogen werden, die in-dischen Raritäten für ihre staatlichen Sammlungen anzukaufen? »Nachdem ich durch Ihre gütigen Mittheilungen auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht wurde, welche in fi nancieller Beziehung den Ankauf unserer zoologischen Gegen-stände so wesentlich verzögern«, schrieb Hermann 1862 an einen nicht näher be-zeichneten Angehörigen der bayrischen Ministerialbürokratie,

45 Hermann von Schlagintweit an den preußischen Staats-Minister von Mühler am 28. April 1862, Staatsbibliothek Berlin, Sammlung Darmstaedter, Hermann von Schlagintweit, Asien 1855 (5).

Abb. 3: »Fibres from diff erent Plants, but chiefl y from Nettles, woven by Lepchas«

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erlaube ich mir nochmals, mit den Herrn der Academie & des Ministeriums zu spre-chen & auch diese um ihre Ratschläge zu bitten. Von beiden Seiten wurde mir versi-chert, daß der Ankauf auf das Wärmste empfohlen wurde, ebenso daß jeder der

erlaube ich mir nochmals, mit den Herrn der Academie & des Ministeriums zu spre-chen & auch diese um ihre Ratschläge zu bitten. Von beiden Seiten wurde mir versi-chert, daß der Ankauf auf das Wärmste empfohlen wurde, ebenso daß jeder der