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im Spannungsfeld von Volkskunde und Statistik

V. Landadel und Staatsbürokratie

Auch Droste-Hülshoff s Entscheidung für eine bestimmte Darstellungsweise ist als eine unmittelbar politische zu verstehen. Freilich hat sie sich an der methodologi-schen Auseinandersetzung zwimethodologi-schen Statistik und Volkskunde nicht beteiligt. Den-noch sei hier der Versuch unternommen, ihr Westfalen-Projekt als Reaktion auf die statistische Praxis der preußischen Bürokratie zu deuten. Es handelt sich dabei, die-se Th ese ist zu verfolgen, um eine literarische Form des ständischen Widerstands gegen die staatliche Verwaltung.98 Diese Deutung soll darauf aufmerksam machen, dass Fragen, die aus der Writing-Culture-Debatte99 in die neuere germanistische Diskussion eingegangen sind, bisher jedoch vorwiegend im Rahmen ›postkolonia-ler Studien‹ behandelt wurden, auch mit Blick auf die Zeit vor 1871 zu stellen sind – und in Ansätzen zu dieser Zeit bereits gestellt wurden. Noch bevor das Deutsche Kaiserreich kolonial expandierte, zeigte die ›innerdeutsche‹ Expansion des König-reichs Preußen nicht nur, dass die ethnographische bzw. statistische Wissenspro-duktion in einem Zusammenhang steht mit Verhältnissen der Macht, sondern auch, dass die Gegenstände ›Volk‹ bzw. ›Bevölkerung‹ in einem Konstitutionszu-sammenhang stehen mit unterschiedlichen Darstellungs- und Wissensformen. Im Unterschied zu den indigenen Bevölkerungen der afrikanischen Kolonien began-nen jene der deutschen Provinzen unmittelbar nach der Annexion mit der Produk-tion eines Wissens von sich selbst.

Die Verwaltungsreformen führten bekanntlich in verschiedener Hinsicht zu ei-ner Entmachtung des regional legitimierten Adels: Noch die Kreisverwaltungen, an deren Spitze nicht adelige Landräte, sondern ernannte Direktoren standen, sollten einer direkten staatlichen Kontrolle unterstellt werden. Des Weiteren wurde die althergebrachte Patrimonialgerichtsbarkeit durch eine staatliche Gerichtsverwal-tung ersetzt; die gutsherrliche Polizei wurde durch eine Gendarmerie abgelöst.

Schließlich wurde die vor 1815 im ostelbischen Preußen begonnene Bauernbefrei-ung auch in Westfalen vorangetrieben. Die aus dem Mittelalter überkommene Ag-rarverfassung mit der Grundherrschaft eines Adels, dem die Bauern zu Diensten und Abgaben verpfl ichtet waren, sollte endgültig beseitigt werden.

Dagegen versuchte der westfälische Adel seine altständischen Rechte und Insti-tutionen auch mit publizistischen Mitteln zu verteidigen. Federführend waren da-bei nahe Verwandte von Droste-Hülshoff .100 Selbstverständlich spricht auch sie

98 Hinweise auf den Widerstand der Landstände und anderer lokaler Kollektive gegen die Statistik als Instrument etatistischer Politik fi nden sich bei Rassem/Stagl, »Einleitung«, S. 27.

99 Vgl. George E. Marcus, James Cliff ord (Hg.), Writing Culture. Th e Poetics and Politics of Ethnogra-phy, Los Angeles 1986.

100 Siehe zum Folgenden Peter Heßelmann (Hg.), August Freiherr von Haxthausen (1792–1866).

Sammler von Märchen, Sagen und Volksliedern, Agrarhistoriker und Rußlandreisender aus Westfalen, Münster 1992; Friedrich Keinemann, Vom Krummstab zur Republik. Westfälischer Adel unter preu-ßischer Herrschaft, 1802–1945, Bochum 1997.

Annette von Droste-Hülshoff s »Westfalen-Werk« 69 gust von Haxthausen, ihrem Onkel, gegenüber mit Bezug auf den »ansässigen Adel« von »unserer Parthey«.101 Haxthausen publizierte 1829 unter dem Titel Ue-ber die Agrarverfassung in den Fürstenthümern Paderborn und Corvey102 eine Darstel-lung der ländlichen Zustände in ihrer EntwickDarstel-lung von der Antike bis zur Gegen-wart mit lobender Hervorhebung der altständischen Ordnung. Auch diese Darstellung zielte auf die politische Praxis und zwar auf eine Veränderung der preu-ßischen Provinzialverfassung zugunsten des Adels. Der Kronprinz und spätere Kö-nig Friedrich Wilhelm IV. zeigte an Haxthausens Ausführungen Interesse und sorg-te für seine Aufnahme in den preußischen Staatsdienst.103 Von 1830 bis 1838 bereiste er sämtliche Provinzen und Regierungsbezirke Preußens, um die agrarwirt-schaftlichen Verhältnisse zu erkunden. Seine Ergebnisse stellte er in Form von Gut-achten und Memoiren den für die Gesetzgebung zuständigen Ministerien für Justiz und Inneres zu. Diese Schriften richten sich off en gegen die liberalen Tendenzen der Bürokratie – auch darum blieben sie weitgehend wirkungslos.

Ein 1833/34 anonym in Berlin erschienenes Gutachten stellt eine »immer mehr zunehmende Verwirrung in allen Innern und äußern, organischen und ad-ministrativen, Lebens- und Rechtsverhältnissen« fest und sagt voraus, »daß nach wenigen Jahren jeder Rest eines organischen Volkslebens, jede gesellschaftliche Ei-genthümlichkeit, jeder innere politische gegliederte Zusammenhang«104 völlig ver s chwunden sein werden. Haxthausen unterstreicht, dass die »gegenwärtigen Administrativ-Behörden« unheilvoll vorantreiben, was »das französische Gou-verne ment«105 begonnen habe. Als Konsequenz seiner Ausführungen verlangt er ein »die ländliche Verfassung in jenen Provinzen regenerierendes Gesetz«. Dieses müsse »notwendig die Prinzipien wahrer organischer Freiheit in sich enthalten«, und »der gegenwärtige factische Zustand der dortigen Gemeinde Verhältnisse, der Kulturzustand, die Bedürfnisse, Ansichten und Sitten der Landbevölkerung«

müssten »die Basis sein, worin jene wurzeln und demnächst von selbst aufblühen und sich entfalten können«.106 Schärfer artikuliert sich der ständische Widerstand gegen die preußische Provinzialadministration in der zeitgleich erschienenen Schrift Ueber die Grundlagen unserer Verfassung. Werner von Haxthausen beklagt, man habe »die sogenannte Regierung oder Verwaltung zu einer rein technischen

101 Brief an Haxthausen vom 2. August 1844, HKA X 1, S. 203.

102 August von Haxthausen, Ueber die Agrarverfassung in den Fürstenthümern Paderborn und Corvey und deren Confl icte in der gegenwärtigen Zeit. Nebst Vorschlägen, die den Grund und Boden belasten-den Rechte und Verbindlichkeiten daselbst aufzulösen, Berlin 1829.

103 Siehe dazu Wolfgang Bobke, August von Haxthausen. Eine Studie zur Ideengeschichte der politischen Romantik, Diss., München 1954, S. 38–65.

104 [August von Haxthausen], Gutachten über den nach den Beschlüssen eines Königlich Hohen Staats-raths redigirten Entwurf einer ländlichen Gemeinde-Ordnung für die Provinzen Westphalen und Rheinland, Berlin 1834, S. 141.

105 Ebd., S. 149.

106 Ebd., S. 143 f.

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Sache umgestempelt«.107 Die Gesetzgebung liege ganz in den Händen der »in sol-chen technissol-chen Kenntnissen examinierten und bestandenen Beamten«108, das heißt nach Haxthausen aber: »in der sogenannten öff entlichen Meinung und Willkür der Liberalen«, die beabsichtigten, »alles Besondere, Individuelle und Ei-genthümliche, was sich noch gerettet hatte, binnen Kurzem zu vernichten und die Maschinerie bis ins feinste Geäder des allgemeinen Lebens fortzusetzen und zu vollenden«.109

Ähnliche Vorstellungen artikulierten die Brüder Haxthausen in einem ganz an-deren Zusammenhang110: Angeregt durch Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens von Brentano sammelten sie westfälisches Volksgut, das sie auch an die Brüder Grimm weitergaben. Schon 1806 hatten Werner und Fritz von Haxthausen eine Volksliedsammlung angelegt. Wilhelm Grimm besuchte die Fa-milie 1811 und 1813 und regte sie dazu an, Märchen, Sagen, Lieder, Sprüche und anderes nach seinen Vorgaben schriftlich zu dokumentieren. In dieses Sammelpro-jekt wurde auch Annette von Droste-Hülshoff einbezogen. Der Haxthausen-Kreis hat den Grimms nicht nur einen großen Teil der Kinder- und Hausmärchen gelie-fert, sondern auch Material für die Deutschen Sagen. 1850 ließ August selbst ano-nym einen Band mit Volksliedern erscheinen.111 Das in diesem Kreis vorherrschen-de Volksliedverständnis wurvorherrschen-de in vorherrschen-der Wünschelruthe folgenvorherrschen-dermaßen formuliert:

Das »ursprüngliche Volkslied«, dem der anonyme Verfasser einen »großartigen na-thurnotwendigen Charakter« zuschreibt, sei »mit dem Volke und seiner Geschichte entstanden und keineswegs reines Erzeugnis irgend eines, auch selbst keines Volks-dichters«, wobei diese doch »früher«, als es noch keine Unterschiede der Bildung gab, sehr wohl »das Organ des ganzen Volkes waren«.112

Das Sammeln solcher Lieder hatte auch einen politischen Zweck. Haxthausen hat es später als Reaktion auf die »französisch[e] Unterdrückung«113 beschrieben.

Was anfangs auch nationalistisch motiviert sein mochte, konnte nach 1813 dem regionalen, ständischen Widerstand gegen die neue Herrschaft der zunächst als Be-freier begrüßten Preußen dienen. Es ist kein Zufall, dass die Brüder Haxthausen

107 Ueber die Grundlagen unserer Verfassung. Manuscript von Werner Freiherrn von Haxthausen zu Bö-kendorf 1833, Unveränderter Abdruck mit einer Lebensskizze, nebst Porträt und Facsimile des Verfas-sers, neu hg. von Hermann von und zu Brenken, Paderborn 1881, S. 19 f.

108 Ebd., S. 20.

109 Ebd., S. 51 f.

110 Siehe zum Folgenden Dietmar Sauermann, Volkskundliche Forschung in Westfalen 1770–1970. Ge-schichte der Volkskundlichen Kommission und ihrer Vorläufer, Bd. 1: Historische Entwicklung, Müns-ter 1986, S. 8–17.

111 August von Haxthausen, Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen, gesammelt aus münd-licher Tradition und seltenen alten Gesangbüchern, Paderborn 1850.

112 »Ueber die Altdeutschen Volks- und Meisterlieder«, in: Wünschelruthe. Ein Zeitblatt 42 (25. Mai 1818), ND Nendeln 1971, S. 165 f.

113 August von Haxthausen, Studien über die innern Zustände, das Volksleben und insbesondere die länd-lichen Einrichtungen Rußlands, Bd. 3, Berlin 1852, S. 4.

Annette von Droste-Hülshoff s »Westfalen-Werk« 71 auch die publizistische Off ensive gegen die Provinzialadministration angeführt haben:114 Leitend waren hier wie dort Denkweisen, die das historisch ›Gewachsene‹

und ›Eigentümliche‹ zur Geltung brachten, all das also, was man durch die nach Vereinheitlichung strebende Rationalität der neuen Regierung und deren adminis-trative Techniken bedroht sah.

Annette von Droste-Hülshoff nahm die Studien ihres Onkels wohlwollend zur Kenntnis: »Das Buch«, bemerkt sie zu den Aufzeichnungen über seine Russlandrei-se, »beschäftigt sich mit den verschiedensten Interessen, – bald politisch – bald wis-senschaftlich – mitunter hochpoetisch, wenn es auf die Sitten, Gebräuche, Volks-glauben, Volkspoesie kömmt.«115 Ihr Westfalen-Projekt, zu dessen Verfolgung sie durch Haxthausen immer wieder gedrängt wurde,116 steht dazu durchaus in einem Verhältnis der Konkurrenz. Doch fi nden sich in ihren Briefen auch Äußerungen, die von einer gewissen Distanz zeugen. Ihr Vorhaben, »das Landvolk zum Stoff e [zu] wählen mit seinen duseligen Begriff en, seltsamen Ansichten, lächerlichen Schlußfolgen«117, sah sie mit der Gefahr verbunden, dass sie »durch zu große Vor-liebe und Idealisieren mancher an sich unbedeutenden Eigenschaft« sich »lächer-lich machen«118 konnte.

Von einer gewissen Distanz zum volkskundlichen Projekt der politischen Roman-tik zeugen auch die Texte selbst. Zum einen ist ein ironischer Zug nicht zu überse-hen: Bevor Droste in ihren Westphälischen Schilderungen auf die Sitten zu sprechen kommt, geht sie auf »Clima, Naturform« und »Erwerbsquellen« des Landes ein.

Ähnlich waren die älteren Staatsbeschreibungen aufgebaut. Conring hatte seiner ver-gleichenden Staatenkunde die aristotelische Unterscheidung von causa materialis (Territorium und Bevölkerung), causa formalis (Regierungsform), causa fi nalis (Staats-verfassung) und causa effi ciens (Gewerbe, Verwaltung, Staatsfi nanzen) zugrunde ge-legt.119 Unter den aus der Geographie in die Statistik übernommenen Begriff en

»Land« und »Leute« ließ sich nach Achenwall »alles zusammenfassen«.120 Zwar be-merkt er, dass man die Leute sowohl quantitativ als auch qualitativ, »sowohl nach ih-rer Anzahl, als nach ihren Eigenschaften«, und zwar im Hinblick auf ihren »Charak-ter« betrachten kann.121 Vorrangig aber hatte die Staatskunde Quantitäten und deren

114 Vgl. Winfried Woesler, »Westfälische Literatur und Reichsidee im 19. Jahrhundert«, in: Karl Tep-pe, Michael Epkenhans (Hg.), Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus, Paderborn 1991, S. 321–334, hier S. 326.

115 Brief an Schücking vom 25. August 1845, HKA X 1, S. 309.

116 Weber, Westfälisches Volkstum, S. 10.

117 Brief an Schlüter vom 28. April 1840, HKA IX 1, S. 100.

118 Brief an Schlüter vom 17.(?) Dezember 1838 unter dem Datum des 13. Dezember, HKA VIII 1, S. 329 f.

119 Vgl. John, Geschichte der Statistik, S. 57–61.

120 Gottfried Achenwall, Staatsverfassung der heutigen vornehmsten Reiche und Völker im Grundriße, Göttingen 41762, S. 7.

121 Ebd., S. 9 f.

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Relation im Blick: das Verhältnis von Einwohnerzahl und Größe des Territoriums, die ›Bevölkerungsdichte‹ also.122 Im Anschluss an die auf Montesquieu zurück gehen-de Volksgeistlehre und die Tradition gehen-der Klimatheorie konnte das Verhältnis von Land und Leuten dagegen kausalgenetisch betrachtet werden. Riehl sollte es unter-nehmen, »den Zusammenhang von Volksart und Landesart, das organische Erwach-sen des Volksthumes aus dem Boden nachzuweiErwach-sen«.123 Zwar nimmt auch Droste ei-nen »Einfl u[ß] der Natur auf ihre Zöglinge«124 an, um »Cultur, Sitten, Charakter, und selbst Körperbildung« seiner Bewohner als eine »Folge« von klimatischen und topographischen Gegebenheiten des Landes zu begreifen. Auf diese geht sie in einem ersten grundlegenden Teil ein, um dann in den beiden folgenden Teilen den »Volks-charakter« der Westfalen zu beschreiben. Doch geht sie davon aus, dass die »die ge-wöhnliche Folgenreihe« im Falle des Sauerländers zumindest »gestört« ist.125 Denn hier »verdünnen« die »Handelsverhältniss[e]« die »Sitten«.126 Als eben so veränder-lich wie der Charakter des Volkes erweist sich unter der Einwirkung von Industriali-sierung und Handel auch die »Physiognomie des Landes«. Der Mensch – dieser Ge-danke war schon der älteren Klimatheorie vertraut – unterliegt nicht nur den Wirkungen der Natur, er wirkt auch auf diese zurück und verändert z.B. durch Land- und Forstwirtschaft seine Lebensbedingungen selbst. Wer diese Wechselwir-kung im Blick hatte, konnte im 19. Jahrhundert das Land nicht mehr als einen »Bo-den« ansehen, aus dem ein »Volkstum« in einem organischen Wachstumsprozess her-vorgeht: »So wird es nach vierzig Jahren nimmer seyn«, weiß Annette von Droste-Hülshoff , »bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose Getraidseen den Charakter der Landschaft theilweise umgestaltet haben, wie auch ihre Bewohner von den uralten Sitten und Gebräuchen mehr und mehr ablassen.«127

Hier wird zum anderen ein melancholischer Zug dieser Volkskunde erkennbar.

Schon 1838 hatte Droste ihr Vorhaben erklärt, in dem Buch über Westfalen »Sit-ten, Charakter, Volksglauben, und jetzt verloren gegangene Zustände desselben zu schildern«.128 Das »Westfalen-Werk« steht im Zeichen des Verlusts. Während die Westphälischen Schilderungen ihn kommen sehen, wird er in den Entwürfen voraus-gesetzt: Durch die »gewaltigen neuen Errungenschaften der letzten Jahrzehente«, die »wohl nur Weniges auf dem alten Flecke gelassen« haben, sieht Droste hier den gegenwärtigen Zustand Westfalens bestimmt. Es sei »auff allend, daß eine Gegend die ihre Nationalität mit einer eigensinnigen Laune festhielt, die zum Sprichwort geworden ist, sie mit einem Mahle auf eine Weise aufgegeben hat, die es selbst

122 Vgl. Könenkamp, »Volkskunde und Statistik«, S. 6.

123 Wilhelm Heinrich Riehl, Wanderbuch, Stuttgart 1869, S. 34.

124 HKA V 1, S. 52.

125 HKA V 1, S. 45.

126 HKA V 1, S. 52.

127 HKA V 1, S. 48.

128 Brief an Schlüter vom 13. Dezember 1838, HKA VIII 1, S. 330, Hervorh. M.T.

Annette von Droste-Hülshoff s »Westfalen-Werk« 73 schwierig macht ihre früheren Formen zu errathen«.129 Den Verlust an Eigentüm-lichkeit führt sie auf eine Reihe von Ursachen zurück: Aufklärung und Sprachnor-mierung, Militärdienst und Verwaltung, auf die Ausdehnung der Industrie, ver-mehrten Verkehr mit dem Ausland und nicht zuletzt auf eine verkehrstechnische Revolution: den Ausbau des Eisenbahnnetzes.130 Das Zusammenwirken dieser Fak-toren hatte auch in Westfalen eine »früher unerhörte Zusammenstellung von Men-schen der verschiedensten Heimathe Religionen und Ansichten«131 hervorgebracht.

Konsequent handelt die Judenbuche vom Westfalen nicht des 19., sondern des 18. Jahrhunderts. Der Bemerkung, man müsse Dörfer wie das hier beschriebene

»jetzt in fremden Welttheilen aufsuchen«132, ist die Auff assung zu entnehmen, dass eine Volks- und Sittenkunde Westfalens nur im Rückblick noch möglich ist. Die Anlage der Westphälischen Schilderungen zeugt in dieser Hinsicht jedoch von einer gewissen Unentschiedenheit. Hier nimmt die Volkskunde zu ihrem Gegenstand eine Haltung ein, die in der späteren Geschichte der Ethnographie häufi g zu beob-achten sein sollte. Droste-Hülshoff betreibt eine »›Rettungs‹-Ethnographie«:133 Eine in Aufl ösung begriff ene Volkskultur soll durch ihre Beschreibung zumindest vor dem Vergessen bewahrt werden. Ihr Vorhaben ist getragen von Resignation:

»Fassen wir deßhalb das Vorhandene noch zuletzt in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe die schlüpferige Decke, die allmählig Europa überfl ießt, auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat.«134 Diese Haltung ist auch dort zu beobachten, wo im

»Westfalen-Werk« ein fi ktiver Erzähler auftritt. So bedrückt den Redaktor in Bei uns zu Lande, dass so vieles »Landesgetreue, was so reich und wahrhaftig gelebt, fortan kein anderes Dasein haben sollte, als in dem Gedächtnisse weniger Altern-der, die auch nach und nach abfallen, wie das Laub vom Baume, bis der kalte Zug-wind der Ereignisse auch kein Blatt mehr zu verwehen fi ndet«. Auch sein Vorhaben lautet: »Schreib auf, was du weißt«.135

Doch bestimmt dieser melancholische Zug nicht den Modus der Darstellung.

Vielmehr wird er auf eigentümliche Weise konterkariert durch eine off enkundige Lust am Sensuellen. Wie auch immer Drostes Volkskunde ihren Gegenstand ge-schichtlich verortet, jedes ihrer ›Sittengemälde‹ und ›Genrebilder‹ sucht ihn vor

129 HKA V 2, S. 258 f.

130 »Seit etwa zwei Jahrzehenden, d. h. seit der Dampf sein Bestes thut das Landeskind in einen Welt-bürger umzublasen«, mache »die civilisierte Welt« »Fortschritte zu der Alles nivellirenden Unbe-fangenheit der wandernden Schauspieler, Scheerenschleifer und vacirenden Musikanten«, HKA V 1, S. 125.

131 HKA V 2, S. 258 f.

132 HKA V 2, S. 396.

133 James Cliff ord, »Über ethnographische Allegorie«, in: Eberhard Berg, Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text, Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M. 1993, S. 200–

239, hier S. 222.

134 HKA V 1, S. 48.

135 HKA V 1, S. 128.

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Augen zu stellen als wäre er gegenwärtig und sinnlich wahrnehmbar. Die Westphä-lischen Schilderungen erzeugen diese Wirkung, indem sie den Leser in die bewegli-che Beobachterposition eines »Reisenden für Völker- und Länderkunde«136 verset-zen. Mit dem häufi g gebrauchten »Du«137 wird einer angesprochen, dem »eine lange Tagereise hindurch«138 ebenfalls das Beschriebene widerfahren würde, dem es als »poetisch Reisende[m]«139 aber wirklich – diese Illusion sucht der Text zu erzeu-gen – widerfährt. Als ›teilnehmender Beobachter‹ wird er in Situationen wie die ei-ner Hochzeitsfeier derart hinein versetzt, dass ihm auch der Zeitpunkt bezeichnet wird, »wo es für ihn gerathener seyn möge, sich zu entfernen«.140 Vor allem sucht der Text eine Überfülle von Sinneswahrnehmungen zu evozieren und zwar nicht nur solche des Gesichtssinns wie etwa einen »äußerst heitern Anblick durch die Fülle und Mannigfaltigkeit der Blumen und Kräuter« oder die »mit einer Haide-blumendecke farbig überhauchten Weidestrecken […], aus denen jeder Schritt Schwärme blauer, gelber und milchweißer Schmetterlinge aufstäuben läßt«. Neben den visuellen sucht der Text auch auditive Sensationen zu vermitteln, so dass der lesend Reisende sich, »fast betäubt vom Geschmetter der zahllosen Singvögel« und durch »Blätterduft« auch olfaktorisch stimuliert, mitten »in dem Herzen des Müns-terlandes« glaubt.141

Zwar lassen solche detailreichen und lebendigen Schilderungen sich ebenso wie Tabellenwerke rhetorisch als Formen des Vor-Augen-Stellens begreifen: Die einen wie die anderen bringen eine gewisse Anschaulichkeit hervor. Doch hat allein die deskriptive Evidenzerzeugung – dadurch ist sie von der tabellarischen deutlich un-terschieden – jene eigentümliche Wirkung, auf die zunächst vor allem die forensi-sche Redekunst zielte und nach ihr eine literariforensi-sche Illusionskunst im Wettkampf mit der Malerei: Nichtgegenwärtiges innerlich präsent zu machen und dabei den Wortcharakter der Rede scheinbar aufzuheben.142 Indem die in den griechischen und lateinischen Lehrbüchern der Rhetorik als ekphrasis, evidentia, hypotyposis oder descriptio behandelten Verfahren der Beschreibung innere Bilder erzeugen, erwe-cken sie den Eindruck eines gewissen Kontinuums von Wahrnehmung und Dar-stellung. Die Zahlentabelle setzt dagegen einen Bruch mit dem Sensuellen voraus.

Drostes Schilderungen stehen somit zur amtlichen Statistik auch insofern im Wi-derspruch, als sie das Primat der sensuellen Wahrnehmung einer zahlenmäßigen Erfassung und weiterhin einer mathematischen Konstruktion der Welt gegenüber behaupten, wie sie sich in den Publikationen Adolphe Quetelets bereits

ankündig-136 HKA V 1, S. 58.

137 Siehe z. B. HKA V 1, S. 64.

138 HKA V 1, S. 46.

139 HKA V 2, S. 396.

140 HKA V 1, S. 58.

141 HKA V 1, S. 46 f.

142 Siehe dazu Ansgar Kemmann, »Evidentia, Evidenz«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, hg. von Gert Ueding, Tübingen 1996, Sp. 33–47.

Annette von Droste-Hülshoff s »Westfalen-Werk« 75 te.143 Die Entscheidung für die Zahl hatte die Operationalisierung des statistischen Wissens vorbereitet. Zwar dient die Tabelle wie das Gemälde der Veranschauli-chung, doch ist das statistische Tableau strukturell für die Operationen des Verglei-chens und Verrechnens ausgelegt. Es ist für einen Blick bestimmt, der nach Relati-onen zwischen Zahlwerten sucht, nicht aber nach einer Wirklichkeit vor dem Bild.

Während das Verfahren der verbalen Deskription sich in einer Metaphorik der Ma-lerei begreift, die es als eine abbildende Nachahmung dessen erscheinen lässt, was in der Welt des Sichtbaren vor jeder Darstellung gegeben ist, lässt die politische

Während das Verfahren der verbalen Deskription sich in einer Metaphorik der Ma-lerei begreift, die es als eine abbildende Nachahmung dessen erscheinen lässt, was in der Welt des Sichtbaren vor jeder Darstellung gegeben ist, lässt die politische