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Gerstäckers Tahiti (1854) – eine »ethnographische Monographie in Romanform« 12 ?

Ethnographie und Realismus in der deutschen Südseeliteratur

2. Gerstäckers Tahiti (1854) – eine »ethnographische Monographie in Romanform« 12 ?

Das erste Beispiel ist Friedrich Gerstäckers Roman Tahiti entnommen. Die Genre-zuordnun gen schwanken zwischen historischem, ethnographischem und exoti-schem Roman, womit auch bereits die Problematik bezeichnet wäre. Denn bis heu-te wird in der Forschung kontrovers diskutiert, ob dieser Roman – den Tahiti-Mythos variierend13 – die Flucht in eine aben teu erliche »Tagtraumwelt«14 gestaltet oder ob er mit seiner Fülle an historischen und ethnographischen Realien einen Beitrag zur Epoche des Realismus leistet. Meine Th ese ist, dass das, was von Zeitgenossen als Ethnographie verstanden wird, weitgehend von exotistischen Darstellungskonven-tionen überformt ist und eine ethnographische Darstellung im Sinne einer dichten Beschreibung, welche die fremden Kulturpraktiken verständlich machen würde, in dem Text nicht auffi ndbar ist, auch wenn Zeitgenossen den Roman für realistisch gehalten haben.

10 Dies hat Nicolas Pethes für die medizinische und juristische Fallgeschichte als populäres Medium des ausgehenden 18. Jahrhunderts festgestellt. Vgl. Nicolas Pethes, »Vom Einzelfall zur Mensch-heit, Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Li-teratur«, in: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe, Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 63–92, hier S. 73.

11 Gabriele Dürbeck, »Inszenierungen des Fremden in populären Medien zwischen Wissenschaft und Vermarktung (1860–1910)«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4 (2009), S. 501–518.

12 Vgl. die Rezension in: Das Ausland (1854), S. 769–771, zitiert nach Sabine Schott-Tannich, Der ethnographische Abenteuer- und Reiseroman des 19. Jahrhunderts im Urteil der zeitgenössischen Rezen-senten, Diss., Kassel 1993, S. 232.

13 Nach Anselm Maler sei das »Erlebnis [...] von konventionellen Wertungs- und Deutungsklischees der zeitgenössischen Tahitilegende bestimmt«, Anselm Maler, »Friedrich Gerstäcker und die Süd-seelegende seiner Zeit«, in: Kevin Carpenter, Bernd Steinbrink (Hg.), Ausbruch und Abenteuer.

Deutsche und englische Abenteuerliteratur von Robinson bis Winnetou, Ausstellungskatalog, Olden-burg 1984, S. 83–88, hier S. 86.

14 Bernd Steinbrink, Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts. Studien zu einer vernachlässigten Gattung, Tübingen 1983, S. 138 und S. 144.

Ethnographie und Realismus in der deutschen Südseeliteratur 97 In Gerstäckers Roman wird der Konfl ikt zwischen protestantischen und katho-lischen Missionaren sowie der indigenen Bevölkerung um die Vorherr schaft auf Ta-hiti seit den 1830er Jahren dargestellt, welche in der Zerstörung des ehemaligen

›Paradieses‹ gipfelt. Die Handlung wird historisch bis zum Zeitraum 1842–1844 geführt, als französische Kriegsschiff e in den Konfl ikt auf Tahiti intervenieren, den Aufstand der Einheimischen blutig niederschlagen und die Briten zum Rückzug zwingen, woraufhin die Insel offi ziell zum französischen Protektorat erklärt wird.

Eingefl ochten ist die Liebesgeschichte zwischen dem Matrosen René, der von ei-nem französischen Walfängerschiff desertiert ist, und der protestantisch missionier-ten Einheimischen Sadie.15 Die Ehe zerbricht durch Untreue, Verrat, unüberwind-bare kulturelle Diff erenzen und nicht zuletzt durch den Kolonialkrieg; Sadie stirbt an gebrochenem Herzen. Die gemeinsame Tochter führt jedoch ein nach traditio-nellen Sitten ausgerichtetes Leben auf der kleinen Insel Atiu, ein vom europäischen Zugriff noch unbescholtenes Eiland jenseits der europäischen Schiff fahrtslinien.

Der Tahiti-Mythos wird damit aufrechterhalten.

Die handlungstragenden Konfl ikte kulminieren in einem Gesellschaftsball, der von Madame Belard, einer Vertreterin der fran zösischen Oberschicht auf Tahiti, ausgerichtet wird. Auf dem Ball lernt der Protagonist René die Amerikanerin Su-sanne Lewis kennen. Obwohl diese aus ihren rassistischen Ein stellungen kein Hehl macht – »Sie dürfen mir nicht verübeln, daß ich nicht viel für braune Haut übrig habe«16 – verliebt sich René in sie und wird mit ihr die Insel verlassen. Ein weiterer Konfl ikt entsteht dadurch, dass ein französischer Offi zier von Sadie einen Tanz er-zwingt, gegen den sie sich sträubt, da sie, protestantisch erzogen, Tanzen für Sünde hält. Durch Renés Einschreiten wird ein Duell unvermeidlich. Für den Offi zier en-det es tödlich, beschädigt aber zugleich Re nés Beziehung zu seiner Frau, die einem solchen Ehrkonfl ikt verständnislos gegenübersteht.

Inmitten dieser Konfl ikte, die das tragische Ende vorweg nehmen, wird mit der Darstellung eines angeblich einheimischen Tanzes ein weiteres konfl iktträchtiges Th ema eingeblendet: In einer Orchesterpause versammeln sich die Tahitierinnen, welche die französische Gastgeberin aus Mangel an Europäerinnen eingeladen hat.

Der Erzähler bezeichnet sie wiederholt als ›wildes Mädchen‹, das sich schon rein

15 Der Stoff geht auf die – für die nordamerikanisch-deutschen Literaturbeziehungen paradigmati-sche – Erzäh lung Inkle und Yariko zurück, die am 13. März 1711 in der moraliparadigmati-schen Wochen-schrift Th e Spectator von Joseph Addison und Richard Steele publiziert wurde. Die Geschichte vom Edelmut einer indianischen Wilden gegenüber der wirtschaftlich-kolonialen Gewinnsucht des Eu-ropäers wurde in der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts wiederholt aufgenom-men und variiert. Vgl. Th omas Koebner, »Das verbotene Paradies. Fünf Anmerkungen zum Süd-see-Traum in der Literatur«, in: ders., Zurück zur Natur. Ideen der Aufklärung und ihre Nachwir-kung. Studien, Heidelberg 1993, S. 66–84.

16 Friedrich Gerstäcker, Tahiti, hg. von Wolfgang Bittner und Th omas Ostwald in Verbindung mit der Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft, Braunschweig, Berlin 1987, S. 266. – Diese Ausgabe wird im Folgenden als ›G‹ mit Seitenzahl in Klammern im Text zitiert.

98 Gabriele Dürbeck

äußerlich von den Französinnen unterschieden. Über dem Pareu, einer Art Wickel-rock, tragen sie ein loses Oberge wand, von dem es heißt, dass es »die Formen des Körpers mehr verrate[n] als verhüll[e]« (G 255); außerdem hätten die meisten nack-te Füße, nur einige von ihnen trügen Schuhe und Strümpfe, die ihnen aber, wie der Er zähler bemerkt, unbequem seien. Als »Typus dieser schönen Schar« (G 254) wird Aumama hervorgehoben. Mit »großen, lichtklaren und diamantgleichen schwarzen Augen« sticht sie als »eine der schönsten Frauen der Insel« (G 255) heraus, bei der sogar die dunkle Haut vorteilhaft wirke. Ihr seidenweiches Haar ist mit wohlrie-chendem Kokosöl getränkt, ihr Haupt mit einem Kranz aus Orangenblüten und Cape Jasmin umwoben.17 Ihre Schilderung vereinigt demnach alle Topoi der sexuell begehrenswerten Exotin und ruft damit einen für die Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts typischen Voyeurismus wach.18 Im Gespräch mit Sadie verwirft Aumama den europäischen Standardtanz als »kalt«, die Musik als »lär mend« und wünscht sich stattdessen eine »off ene Stelle unter blühenden Zweigen und [...] blin-kenden Sternen« und eine Trommel herbei, um tanzen zu können. Obgleich sie nach einer Person gestaltet ist, die Gerstäcker selbst auf Tahiti getroff en hat,19 schließt diese Darstellung unver kennbar an den seit dem späten 18. Jahrhundert geführten (vulgär-)rousseaustischen Diskurs an, wonach sie als ›edle Wilde‹, natür-lich eingebunden in ihre Umwelt, zur Trägerin einer latenten Zivilisationskritik sti-lisiert und mit ihren diamantgleichen schwarzen Augen zugleich sexuasti-lisiert wird.20 Diese Darstellung bildet den Auftakt für die folgende Tanzszene. Es heißt: »Den Takt mit den fl achen Händen auf die Hüften schla gend, singend und lachend be-gann die muntere Schar den wilden Upepehe, den Lieb lings tanz ihres Stammes«

(G 270). Statt nun aber eine Beschreibung dieses Tanzes zu liefern, wird ledig lich von dessen Wirkung erzählt. Die Marineoffi ziere, bereits mit den Tahitierinnen be-kannt, fühlen sich angezogen, die Gastgeberin hingegen versucht den Tanz, den sie als Ausschweifung ansieht, zu unter binden. Dies gelingt ihr erst, als ihr die Trom-peten zu Hilfe kommen, welche die Tänzerinnen aus dem Takt bringen. Diese

17 Diese Figur wurde schon früh in die Handlung als kulturell unange passtes Pendant zu Sadie ein-geführt. Aumama – mit einem französischen Offi zier verheiratet, der sie mit ihrer Schwester be-trügt – verweigert sich der Missionierung und hält an traditionellen tahitischen Sitten fest.

18 Vgl. Karl-Heinz Kohl, »Abwehr und Verlangen. Das Problem des Eurozentrismus und die Ge-schichte der Ethnologie», in: ders., Abwehr und Verlangen. Zur GeGe-schichte der Ethnologie, Frankfurt a. M. 1987, S. 123–142 und S. 158–159.

19 Im zweiten Band Die Südsee-Inseln seiner Reisen (Jena 21873, S. 10 f.) berichtet Gerstäcker von Au-mama, der er auf einem Ausfl ug mit einem Straßburger Soldaten in der Nähe Papeetes begegnet und die er über ihren Mann Lefevre ausfragt. Insofern beruht der Roman auf einer historischen Folie, welche aber nicht dazu verwendet wird, die gängigen Klischees zu durchbrechen oder zu re-lativieren.

20 Urs Bitterli, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976, S. 385–388; Th omas Koebner, »Geheimnisse der Wildnis. Zivilisationskritik und Naturexotik im Abenteuerroman«, in: ders., Gerhart Pi-ckerodt, (Hg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt a. M. 1987, S. 240–266.

Ethnographie und Realismus in der deutschen Südseeliteratur 99 sode kann den Umgang mit ethno graphischen Details in diesem Roman exempla-risch verdeutlichen. Der Tanz wird nicht in seinem Bedeutungszusammenhang be schrieben, sondern erscheint lediglich als spontane Tanzwut, welche die von den Europäern gesetzten Regeln durchbricht, aber in Kürze wieder in die zivilisierten Bahnen des Balls gelenkt wird. Neben der Betonung des Exotischen des Tanzes – überraschend, lachend, unbändig, wild, aufreizend – sticht die Kontrastierung als Darstellungsstrategie ins Auge. Dem europäischen Standardtanz steht der ›wilde Upepehe‹ gegenüber. Der kulturelle Kontrast wird durch den Wechsel zur lyrischen Sprache unterstrichen: »Fort? Laß sie schwatzen da / Herzchen, wir kommen ja, Fort! / Rasch nur die Trommel her, / steh’n wir nicht müßig mehr. Fort!« (G 270)21 Mit Wortwiederholung, Ausrufen, Diminutiv (»Herzchen«) und einer Häufung von O-Lauten wird sowohl die musikalische Qualität imitiert, als auch das Spiele-risch-Lockende der Situation betont. Eine detaillierte Beschreibung des indigenen Tanzes sucht man vergeblich. An ihre Stelle treten exotistische Topoi, welche das Abenteuerliche betonen und den gesamten Roman grundieren. Wenn man Tahiti mit Steinbrink als Abenteuerroman liest, ist zu fragen, ob es auf diesen Roman zu-triff t, dass er dem »Prinzip der Erfahrung und […] einem topographischen und ethnographischen Interesse verpfl ichtet« ist,22 wie es für Abenteuerliteratur um 1850 noch typisch sein soll. Die von der Forschung für andere Romane Gerstä-ckers festgestellte Fülle ethnographischer Details23 lässt sich für die Beschreibung des einheimischen Tanzes jedenfalls nicht beobachten. Tonangebend erscheinen hier vielmehr Exotik, Voyeurismus und Eskapismus, wenn der Tanz der Tahitierin-nen mit dem Merkmal ›wild‹ ausgezeichnet und damit eine Diff erenz zu den ›Zivi-lisierten‹ behauptet wird. In der Kontrastierung des ›wilden‹ Tanzes mit der zivili-sierten Welt setzt Gerstäckers Roman eine exotistische Tradition fort, welche die europäische Imagination in Südseetexten von Bougainville über Forster bis zu Cha-misso und Mel ville prägt.24

21 Auch ein zweites Tanzintermezzo der tahitischen Frauen wird durch lyrisches Reden angezeigt (G 273).

22 Bernd Steinbrink, Art. »Abenteuerroman«, in: Walther Killy (Hg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 13, Gütersloh, München 1988–1993, S. 13 f., hier S. 14.

23 Th omas Ostwald, »Friedrich Gerstäckers ethnographische Realien«, in: Anselm Maler (Hg.), Ga-lerie der Welt. Ethnographisches Erzählen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1988, S. 12–23. Demgegen-über ordnet Anselm Maler Gerstäckers Tahiti der »exotischen Schreibtradition« zu. Siehe Anselm Maler, »Deutsche Südseebilder. Von der arkadischen Utopie zum ethnographischen Realismus«, in: ders. (Hg.), Galerie der Welt. Ethnographisches Erzählen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1988, S. 83–102, hier S. 89.

24 Gabriele Dürbeck, Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseelite ratur 1815–1914, Tübingen 2007. Zu Melville ist die Forschung weitaus umfangreicher als zu Gerstäcker. Vgl. Dou-glas Ivison, »›I saw everything but could comprehend nothing‹: Melville’s Typee, Travel Narrative and Colonial Discourse«, in: American Transcendental Quarterly 16/2 (2002), S. 115–130 sowie die Beiträge in: Jill Barnum, Wyn Kelley, Christopher Sten (Hg.), »Whole Oceans Away«. Melville and the Pacifi c, Kent (OH) 2007.

100 Gabriele Dürbeck

Einzuräumen ist allerdings, dass der Roman Einiges aufbietet, um ethnographi-sche Authenti zität zu fi ngieren. Es werden tahitiethnographi-sche Namen für Figurenbezeich-nungen und einzelne tahitische Aus drücke verwendet, deren Übersetzung in An-merkungen zu fi nden ist.25 Es treten historische Personen auf wie etwa die tahitische Königin Pomare IV. oder der französische Marineoffi zier Abel du Petit-Th ouars (1793–1864), der 1842 Tahiti zum französischen Protektorat erklärte. Zu-dem wird wenigstens ein Eindruck von der mo nar chischen Regierungsform ver-mittelt, wenn eine Versammlung Pomares mit den Häuptlingen geschildert wird.

Dennoch, für eine Deutung indigener kultureller Praktiken fehlt diesen Informati-onen jegliche Kontextbildung, die ihre Bedeutung verständ lich machen könnte.

Dasselbe gilt für die Erwähnung weiterer ethnogra phischer Details wie etwa die Herstellung von Tapa, die Praxis des Nasenreibens als Freundschaftsbekundung, der Rückzug in die unzu gänglichen Berge als Kriegstaktik oder eine Bestattung, von der es lediglich heißt, dass sie nach den ›alten Sitten‹ vorge nommen werde.26 Solche vereinzelten ethnographischen Details wirken wie zusammenhanglose Ver-satzstücke. Sie verleihen der Handlung zwar Lokalkolorit, können aber keine ein-gehendere Beschäftigung mit der indigenen Kultur belegen.

Bemerkenswert ist, dass der Roman von der zeitgenössischen Literaturkritik als

›realisti sch‹ und ethnographisch informativ wahrgenommen wurde. So würdigte ein Rezensent der völkerkund lichen Zeitschrift Das Ausland Gerstäckers Tahiti mit Hinweis auf die Wirkung der historischen Romane Walter Scotts als »[e]thnogra-phische Monographie in Roman form«,27 welche »wahrhaft lehrreich«28 sei. Der Rezensent in der Zeitschrift Europa sprach von einer »Fülle von Material«,29 die Grenzboten hoben die »Naturtreue«30 hervor. Exotik und Unschärfe im Detail war off enbar kein Grund, die Authentizität des Geschilderten anzuzweifeln. Bei den Kritikern ruft die (vulgär-)rousseauistische Tendenz des Romans off enbar eine po-sitive Resonanz hervor. Dafür sprechen die in weiteren Kritiken gehäuft vor kom-menden Redeweisen von den »liebenswürdigen Naturkindern«,31 der »natürlichen Lebhaftigkeit und Wildheit«32 oder auch vom »Confl ict der Cultur mit der wilden

25 Allerdings gibt es auch etliche Ausdrücke, zumeist Ausrufe, die unübersetzt eingestreut sind und deren Bedeutung allenfalls aus dem Kontext erschließbar ist (z. B. G 159).

26 Über andere kulturelle Praktiken jedoch, die zu einer umfassenden ethnographischen Erfassung ebenfalls gehören würden – etwa die Sozialstruktur, Fischfang, Ackerbau, Bauweise der Häuser, Herstellung von Booten und Artefakten oder Geburts-, Heirats- und Bestattungsriten –, erfährt die Leserschaft nichts.

27 Vgl. Das Ausland (1854), S. 769–771, zitiert nach Schott-Tannich, Der ethnographische Abenteuer- und Reiseroman, S. 232.

28 Vgl. Das Ausland, zitiert nach ebd., S. 234.

29 Vgl. Europa, zitiert nach ebd., S. 237.

30 Vgl. Die Grenzboten, zitiert nach ebd., S. 216.

31 Vgl. Literaturblatt, zitiert nach ebd., S. 189.

32 Schott-Tannich, Der ethnographische Abenteuer- und Reiseroman, S. 235.

Ethnographie und Realismus in der deutschen Südseeliteratur 101 Natur«.33 Der Literaturhistoriker Rudolph von Gottschall, der für die Reiseromane Sealsfi elds und Gerstäckers die Genrezuordnung »exotischer Roman« prägte, sieht Gerstäckers Romane als »Frucht eines gesunden Realismus«.34 Exotik und Realis-mus scheinen sich also nicht nur in v. Gottschalls Bestimmung gut zu vertragen.

Dabei wird meist noch betont, dass Gerstäcker selbst den beengten deutschen Ver-hältnissen entfl ohen sei und als Abenteurer die Amerika, Australien und den Süd-pazifi k bereist habe, d. h. seine Romane könnten – etwa im Unterschied zu denen Karl Mays – wegen der tatsächlichen Reiseerfahrung des Autors nicht anders als er-fahrungsgesättigt, authentisch und darum ethnographisch informativ sein.

Aus heutiger Sicht der Kulturanthropologie, welche nicht nur die koloniale Ver-strickung der Ethnographen im 19. Jahrhundert, sondern auch die unrefl ektierte Beobachterposition der Texte nachgewiesen hat, die in der Regel von der Über-legenheit des Europäers über die als Objekt beschriebenen fremden Kulturen ausgehen,35 muss jedoch gefragt werden, ob und inwieweit Gerstäckers Zeitgenos-sen überhaupt bereit waren, desZeitgenos-sen Aneig nung der exotistischen Tradition kritisch zu überprüfen. Mit anderen Worten, in Gerstäckers Roman ist die Darstellung ethno gra phi scher Th emen nicht nur durch exotistische Topoi überformt,36 son-dern weist auch einen Mangel an Detailliertheit und Sinnkontext auf. Die Un-schärfe im Detail ermöglicht daher einen Exotismus, der wiederum die Vorausset-zung dafür ist, dass der (vulgär-)rousseauistische Diskurs funktioniert, der die positive Aufnahme bei der Kritik sichert. Die im Rousseauismus vorbereitete Ent-fremdungserfahrung und Modernisierungskritik situiert den Roman zwar im Rea-lismus. Der Mangel an Detailliertheit und Sinnkontext lässt diese Zuordnung je-doch proble matisch erscheinen und erfordert zumindest deren Qualifi zierung – oder zwingt uns einen sehr kritischen Blick auf den populären ›Überseeroman‹ des Rea-lismus zu werfen, bei dem sich off enbar realistische Elemente (insbesondere aktu-elle historische Bezüge) mit der tradierten Südseetopik bestens vertragen.

33 Vgl. Europa, zitiert nach Schott-Tannich, Der ethnographische Abenteuer- und Reiseroman, S. 206.

34 Sie zeichneten sich außerdem durch eine »klare Auff assung und objektive Darstellung« mit nicht allzu hohen künstlerischen Ambitionen aus. Rudolph von Gottschall, Die deutsche Nationallitera-tur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, Breslau 21860, zitiert nach Mitteilungen der Friedrich Gerstäcker-Gesellschaft 1 (1979), S. 19 f.

35 Vgl. etwa Werner Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004; Hans Fischer, Die Hamburger Südsee-Expedition. Über Ethnographie und Kolonialismus, Frankfurt a. M. 1981.

36 Interessant wäre eine Überprüfung, ob dieselbe Perspektive in Gerstäckers Reisen (1853–54) vor-herrscht.

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3. Karl Sempers Palau-Bericht – zwischen ethnographischer