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Zur multiplen Verwendung von Reiseliteratur in Gustav Freytags Soll und Haben

3. Textsorten und Lesertypen

Verständlich, dass alle kaufmännischen Angestellten entsprechende Textgattungen rezipieren:

1. Antons Lektüre wurde genannt. Sie ist nicht nur im Roman modellhaft, son-dern formuliert exemplarisch eine Hermeneutik, die, so hoff e ich zu zeigen, auch die Hermeneutik seiner Lektüre formuliert.

2. Auch Antons Spiegelfi gur Veitel liest – aber er bevorzugt Abenteuerromane, die seinen Ehrgeiz unterstützen. Information dagegen erhält er von seinem Lehrer, dem versoff enen Advokaten Hippus.42 Hier dient das Medium der Schrift nicht der Informationsvermittlung, sondern primär als Surrogat aff ektiver Befriedigung.

3. Von ähnlich ›exotischem‹ Interesse ist die Rezeption von Reiseliteratur in ad-ligen Kreisen: In den Journalen, die von der Familie Rothsattel gelesen werden, fi n-det sich z. B. eine Geschichte über »Tigerjagden in Ostindien«.43

40 SuH 1, S. 70.

41 Es gibt im Text allerdings bei Anton noch eine kompensatorische Funktion der Lektüre von Rei-seberichten, der allerdings in der gegenwärtigen Perspektive keine systematische Bedeutung zu-kommt. Vgl. SuH 1, S. 71; Schneider, »›Das Gurgeln des Brüllfroschs‹«, S. 132 f.

42 »[E]r [Veitel] las mit Vergnügen Abenteuer zu Wasser und zu Lande, die Eroberung Amerikas und andere aufregende Unternehmungen, an welche seine Phantasie allerlei Geschäfte knüpfen konnte.

Durch seinen Lehrer erhielt er vielerlei Aufschlüsse über das Leben der Menschen und Völker, ...«, SuH 1, S. 134.

43 SuH 1, S. 35. Dabei ist zu beachten, dass Lenore schließlich bei Fink auf einem Sofa mit Panter-fellen Heimstatt fi nden wird und der gute Geist Antons eine Keramikkatze ist, die durch das Schröter’sche Haus zu spuken pfl egt. Vgl. Lothar L. Schneider, »Die Diätetik der Dinge.

Dimen-166 Lothar L. Schneider

3. Fink verfügt über einen großen Bücherschrank. Über dessen Inhalt wird nur mitgeteilt, die ledergebundenen Bücher seien »Erinnerungen an eine Welt, in der [er] nicht mehr lebe.«44 Zu vermuten steht, dass es Bücher über Amerika sind.

4. Ausgewiesener Leser unter dem Personal des Comptoirs ist Baumann. Er träumt davon, als Missionar nach Afrika zu gehen. Seine bevorzugte Lektüre sind Missionsberichte – die er Anton leiht, der sie dann ebenfalls verschlingt.45 Einer-seits kann sich Baumann über »Greuel des Heidentums« auf dem schwarzen Kon-tinent erregen,46 andererseits vergisst er darüber nicht, die Preise der jeweils örtli-chen Güter umzurechnen.47

5. Komplexeste Leserfi gur neben Anton ist Bernhard Ehrenthal – und in dieser Hinsicht viel mehr Antons Spiegelfi gur als Veitel Itzig. Bernhard Ehrenthal ist stu-dierter Philologe. Da ihm als Juden die akademische Karriere versperrt blieb, lebt er als Privatgelehrter – und als solcher ist er, wie es sich gehört, für die reale Welt denk-bar ungeeignet. Bernhard beschäftigt sich mit der Übersetzung orientalischer Poe-sie, seine Interessen reichen jedoch weiter. Er bezieht sein Wissen aus drei Textgat-tungen: aus poetischen Texten und Handschriften, aus sprachwissenschaftlichen Werken und aus Reisebeschreibungen. Die Poesie selbst dabei steht für das Schöne, das er in allen Kulturkreisen und unter allen Völkern identisch glaubt;48 die Sprache hingegen ist die Ebene ethnischer Diff erenzierung wie Identitätsbildung. Bernhard geht davon aus, »dass die Kenntnis der Sprachen für die Wissenschaft die beste Hil-fe [ist], um das Höchste zu verstehen, was der Mensch überhaupt begreiHil-fen [kann],

sionen des Gegenständlichen in Gustav Freytags ›Soll und Haben‹«, in: Krobb (Hg.): 150 Jahre Soll und Haben, S. 103–120, hier S. 114 f.

44 SuH 1, S. 110.

45 Vgl. SuH 1, S. 96.

46 SuH 1, S. 309.

47 »Der Missionär war nicht nur ein Heiliger, sondern auch ein sehr guter Rechner. Er war untrüglich in allen Reductionen von Maß und Gewicht, warf die Preise der Waaren aus und besorgte die Cal-culatur des Geschäftes. Er wusste mit Bestimmtheit anzugeben, nach welchem Münzfuß die Moh-renfürsten an der Goldküste rechneten, und wie hoch der Curs eines preußischen Th alers auf den Sandwichinseln war.« SuH 1, S. 86 f. Ausführliche Beschreibungen des Handels auf den Sand-wich-Inseln, zum Teil mit Währungsangaben, fi nden sich in: Friedrich Krohn, Das Missionswesen in der Südsee. Ein Beitrag zur Geschichte von Polynesien, Hamburg 1833, S. 106 f. Krohn kritisiert dabei vielfach Otto von Kotzebue, der seinerseits im Bericht über seine Weltreise, die er im Gefol-ge des russischen Admirals Krusenstern unternommen hatte, dem Handel erhebliche Aufmerk-samkeit widmet und z. B. Preise für hawaiianisches Sandelholz nennt. Vgl. Otto von Kotzebue, Neue Reise um die Welt in den Jahren 1823, 24, 25 und 26, 2 Bde., hier Bd. 2, Weimar, St. Peters-burg, S. 105 f. Kotzebue berichtet auch über Wucher von Missionaren in der Südsee. Vgl. Kotze-bue, Neue Reise, Bd. 1, S. 108. Doch könnten auch die nördlichen Sandwich-Inseln gemeint sein, zu denen das damals noch selbständige Hawaii gehört. Auch Friedrich Gerstäcker äußert sich 1854 sehr ambivalent über den Segen der Mission.Vgl. Friedrich Gerstäcker, Tahiti. Roman aus der Süd-see, 4 Bde., Leipzig 1854; vgl. auch ders., Die Missionäre. Roman aus der SüdSüd-see, 3 Bde., Jena 1868–

75.

48 Vgl. SuH 1, S. 272.

Reiseliteratur in Gustav Freytags Soll und Haben 167 die Seelen der Völker.«49 Er stellt sich damit in die Tradition romantischer Sprach-wissenschaft, die zeitgenössisch durch Moritz Lazarus und Heymann/Chaim Steinthal für das Konzept einer Völkerpsychologie fruchtbar gemacht wurde.50 Die dritte Ebene bilden Reisebeschreibungen. Bernhard liest sie als Produkte heroischer Sehnsucht und Versuche, der Prosa des normalen Lebens zu entfl iehen. Anton fi n-det nur falschen Exotismus: »Was den Reisenden reizt, ist das Neue; wenn das Frem-de alltäglich geworFrem-den ist, sieht es gewiß anFrem-ders aus.«51 Nachdem Anton noch ein zweites Mal Bernhards Einwand, das zivilisierte Leben lasse die großen Eindrücke vermissen, kritisiert und die Poesie der Ware sowie die Tragik des Bankrotts dagegen ins Feld geführt hatte, zieht sich Bernhard auf eine ethnographisch gewendete Vari-ante des romantischen Th eorems eines heroischen und deshalb poetischen Naturzu-stands zurück: »Aber was der höchste Stoff für die Poesie ist, ist ein Leben reich an mächtigen Gefühlen und Th aten, das ist bei uns doch sehr selten zu fi nden«.52 Dies ist für Freytags Held und wie für den Erzähler eine falsche Interpretation: Nicht die heroische Qualität der Welt hat sich geändert, sondern ihre Organisation. Bernhard ist nur unfähig, die Strukturen seiner zeitgenössischen Wirklichkeit zu lesen; was er als Poesiefähigkeit exotischer Verhältnisse versteht, ist nur eine schlechte Projektion eigener Wünsche, deren Erfüllung ihm die Wirklichkeit versagt hat. Selbst die Fas-zination für die Ästhetik der Sprache, die er im Gespräch mit Anton reklamiert, ist keine Emanation eines metaphysisch Schönen, wie er glaubt, sondern lediglich ein Durchgangsstadium, das Resultat einer mythischen Faszination, die Anton selbst erfahren hatte, als Jordan ihm die Waren erklärte. Was Bernhard propagiert, ist eine Poesie der Wirklichkeitsverweigerung; was Anton formuliert eine Poetik der Wirk-lichkeitsbewältigung – also das Programm eines Realismus, für das Freytag als Autor und Soll und Haben als exemplarischer Roman stehen.

Die Ablehnung von Exotismus impliziert aber keine Zurückweisung der Reise-literatur als ästhetische Form. Zwar spricht sich Freytag gelegentlich gegen Formen aus, deren konsekutive Ordnung eine konzeptionelle und dramaturgische Durch-arbeitung vermissen lassen, wie er sie an den Romanen von Dickens und Walter

49 SuH 1, S. 282.

50 Der Begriff einer ›Völkerseele‹ im ethnologischen Sinn existiert nicht, allerdings fi ndet sich im Grimm’schen Wörterbuch der Begriff »Volkseele« – mit etlichen Belegen bei Freytag, der, so der Verfasser, »überhaupt den ausdruck mit groszer vorliebe anwendet«. Vgl. den Artikel »Volk«, in:

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 26 (12. Bd., 2. Abt.): Vesche–Vulkanisch, bearbeitet von Rudolf Meizner, Leipzig 1951, Nachdruck München 1984, Sp. 453–511, hier Sp.

497.

51 SuH 1, S. 273.

52 SuH 1, S. 274. Die Passage fährt fort: »Da muß man wie ein englischer Dichter aus den civilisier-ten Ländern hinaus unter die Seeräuber gehen.« Ebd. Vermutlich spielt er dabei auf Defoes Robin-son Crusoe an, der später im Gespräch mit Lenore noch einmal erwähnt werden wird. Vgl. SuH 1, S. 349.

168 Lothar L. Schneider

Scott bewundert,53 aber dies schließt ja ästhetisch durchgearbeitete Reiseromane und -berichte nicht aus. Man kann mit gleicher Berechtigung zu dem Schluss kom-men, dass die ethnographische Perspektive – also ein Blick, der sich nicht auf das Exotische, sondern auf die ›Normalität‹ des Fremden, auf die interne Logik seiner Organisation richtet, Muster zur Beschreibung des Bekannten anbieten könnte, die den gewohnten Blick verfremden und so die heimische Wirklichkeit in neuer Perspektive zeigten – schließlich erschien sogar der Schröter’sche Haushalt Anton bei seiner Ankunft »fremdartig und mächtig«.54

Dieser Technik der Verfremdung durch Attributierung bedient sich Freytag mit Vorliebe: Dass Fink Anton als ›Indianer‹ und ›Master‹ bezeichnet, ist angeführt.

Fink selbst wird nicht nur als »verwilderter«, sondern sogar als »wilder Mann« und als »Amerikaner« tituliert.55 Veitel nächtigt in einer »Caravanserei«;56 auch er wird

»junge[r] Wilder[r]«57 genannt, der allerdings »mit der Gleichgültigkeit eines Her-umtreibers und der Sicherheit eines Eingeborenen«58 durch die Straßen geht.

Dabei verschiebt Freytag bisweilen die Metaphorik einer Figurenrede auf die Er-zählerebene.59 Das paradigmatische Modell einer solchen Poetik eines kalten eth-nographischen Blicks ist Finks Umgang mit dem galizischen Juden Schmeie Tinke-les: Er behandelt ihn »kalt«, »sieht der aufgeregten Mimik des Händlers ungefähr mit dem selben Interesse zu, mit dem ein Physiker die galvanischen Zuckungen ei-nes Frosches betrachtet.«60 Diese Passage erscheint menschenverachtend, weil sie Tinkeles ›naturalisiert‹, ihm menschliche Solidarität verweigert und ihn zum Ob-jekt wissenschaftlicher Untersuchungen erniedrigt. Anton aber erkennt in ihr »be-hagliches Wohlwollen« und betont, dass Tinkeles »geradezu in ihn verliebt [sei].«61 In erster Linie, so kann man vermuten, ist damit gemeint, dass Fink Tinkeles’ Ver-halten unvoreingenommen, sine ira et studio, also quasi ethnologisch beobachtet, bevor er ihm in der Logik seines eigenen Verhaltens begegnet – und deshalb von diesem geschätzt wird.

Soll und Haben, so kann man generalisieren, ist zwar kein ethnographischer Ro-man, aber in spezifi scher Weise ein ethnographietheoretischer, der allerdings nicht

53 Vgl. Gustav Freytag, [Rez.] »Namenlose Geschichten von F. W. Hackländer«, in: ders., Vermischte Aufsätze, Bd. 1, S. 106–127.

54 SuH 1, S. 63.

55 In Reihenfolge: SuH 1, S. 314 und S. 362 (dabei bestätigt er die Universalität anthropologischer Gefühlsausstattung), S. 310 und S. 312.

56 SuH 1, S. 116.

57 SuH 1, S. 133.

58 SuH 1, S. 46.

59 Vgl. SuH 1, S. 310 und S. 312. Hier ist die Konstruktion noch komplexer: Zunächst bezeichnet Anton Fink als Amerikaner, dann wird der Ausdruck vom Erzähler übernommen, um den Blick Sabines auf Fink zu charakterisieren und damit zu bedeuten, dass sie die Perspektive Antons über-nommen hat.

60 SuH 1, S. 60 und S. 62.

61 SuH 1, S. 311 und S. 310.

Reiseliteratur in Gustav Freytags Soll und Haben 169 die Produktions-, sondern die Rezeptionslogik ethnographischer Texte diskutiert.

Sein Motto, Julian Schmidts berühmte Auff orderung, »das deutsche Volk da [zu]

suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu fi nden ist, nämlich bei seiner Arbeit,« kann auch als Auff orderung zur Ethnographie des Inlands verstanden werden. Allerdings nur cum grano salis, denn es gibt zwei gewichtige Einwände gegen eine solche Ru-brizierung: 1. bewegt sich der Roman auch hier auf einer Meta-Ebene: Er be-schreibt weniger konkrete Wirklichkeit, als dass er Modelle zitiert, ihr appliziert und ihre Hermeneutik diskutiert. Nicht zuletzt dies wird ihm ästhetisch zum Man-gel. 2. Da Freytag eine additive oder gegenstandsmotivierte Ordnung ablehnt und die Poetik seiner Beschreibungen der Dramaturgie einer idealistisch-teleologischen Komposition unterordnet, deformiert er die Perspektive(n); seine ›Ethnien‹ sind nicht direkt zu Gott, sondern funktionale Bausteine im Masterplan des ästheti-schen Gefüges.

Neben allen literarischen und philologischen Argumenten gibt es jedoch für die Th ese, dass Reiseliteratur in Soll und Haben eine wichtige Rolle spielt, auch eine Reihe lebensweltlicher Indizien.