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Wilhelm Raabes Abu Telfan (1867) und der zeitgenössische Afrikadiskurs

Daniela Gretz (Hagen)

Die folgende Auseinandersetzung mit Wilhelm Raabes Abu Telfan und dessen In-terferenzen mit dem zeitgenössischen Afrikadiskurs hat ihren Ausgangspunkt in drei zentralen Beobachtungen der jüngeren Forschungsdebatte zum Realismus:

Basale Grundlage ist zunächst die zu beobachtende Diskrepanz zwischen der the-oretischen Programmdiskussion des »Grenzboten«-Realismus und der literarischen Praxis von Autoren wie Stifter, Storm, Keller, Raabe und Fontane und deren imma-nenter Poetologie. So setzt der programmatische Realismus tendenziell auf den Aus-schluss des Anderen, indem er emphatisch den ›deutschen Bürger bei der Arbeit‹

und damit die nationale Gegenwart und Alltagsrealität zum Gegenstand realisti-scher Literatur erklärt1 und diese selbst somit als Selbstverständigungsmedium des deutschen Bürgertums deklariert, während ein vergleichender Blick auf einige Texte der genannten Autoren zeigt, dass man dort allenfalls von einem einschließenden Ausschluss des Anderen sprechen kann.2 Diese Ausgangsbeobachtung soll systema-tisch mit der Erkenntnis der neueren Realismusforschung in Verbindung gebracht werden, dass der deutsche literarische Realismus primär aus seinen medienge-schichtlichen Publikationsbedingungen im Kontext der Familienzeitschriften der Zeit zu verstehen ist.3 Für diese Zeitschriften ist aber gerade das produktive

1 Man denke hier nur an die Invektiven Julian Schmidts gegen die ›fremden‹ Vorbilder der Literatur in Klassik und Romantik und die Darstellung des Wahnsinns und des Hässlichen bei Büchner u. a.

Vgl. dazu exemplarisch Julian Schmidt, »Rez. zu Leo Choleuvs«; »Rez. zu Georg Büchner«, in:

Max Bucher, Werner Hahl, Gerhard Jäger (Hg.), Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Doku-mente zur deutschen Literatur 1848–1880, Bd. 1: Einführung in den Problemkreis, Abbildungen, Kurzbiographien, annotierte Quellenbiographie und Register, Stuttgart 1976, S. 69–71 und S. 87 f.

2 Vgl. hierzu Ulrich Kittstein, Stefani Kugler (Hg.), Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deut-schen Realismus, Würzburg 2007; Dirk Göttsche, Florian Krobb (Hg.), Wilhelm Raabe. Global Th e-mes – International Perspectives, London 2009; Florian Krobb, Erkundungen im Überseeischen. Wil-helm Raabe und die Füllung der Welt, Würzburg 2009.

3 Vgl. dazu u. a. Rudolf Helmstetter, Die Geburt der Realismus aus dem Dunst des Familienblattes.

Fontane und die öff entlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, Mün-chen 1997; Günter Butzer, »Programmatischer oder poetischer Realismus? Zur Bedeutung der Massenkommunikation für das Verständnis der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert«, in: In-ternationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25/2 (2000), S. 206–217; Günter Butzer, Manuela Günter, Renate von Heydebrand, »Strategien zur Kanonisierung des ›Realismus‹

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selverhältnis von Nähe und Ferne, Eigenem und Fremden, Zentrum und Peripherie strukturbildend.4 Wenn aber, und dies ist der dritte konstitutive Aspekt der For-schungsdiskussion für die folgenden Überlegungen, der literarische Realismus in der Praxis weniger die Mimesis der zeitgenössischen Realität (verstanden als interes-sengeleitete Darstellung im Sinne eine Real-Idealismus oder Ideal-Realismus) als de-ren Konstruktion im modernen, massenmedialen Kontext, d. h. die medialen Vor-aussetzungen, die sozialen Implikationen und ethischen Imperative des Realismus und damit auch des eigenen Schreibens, im Blick hat,5 dann verspricht ein kollatio-nierender Blick auf die Repräsentationsformen des Anderen in Zeitschriften und li-terarischen Texten neuen Aufschluss über den Realismus selbst.

Im Rahmen dieser grundlegenden Überlegungen werde ich nun exemplarisch die Rekursnahmen auf den zeitgenössischen Afrikadiskurs der Familienzeitschrif-ten in Wilhelm Raabes Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge aus dem Jahr 18676 fokussieren.

I. Afrika im Zeitschriftendiskurs der Zeit von 1850–1870

Gerhart von Graevenitz hat zurecht darauf verwiesen, dass die Zeitschriften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Verräumlichungsmodell der memoria beer-ben und als Strukturmodell nutzen, um Arbeit am kulturellen Gedächtnis zu leisten und dabei auf das für die Familienzeitschriften strukturbildende Verhältnis von Zentrum und Peripherie, Nähe und Ferne, Eigenem und Fremden, Vertrautem und Exotischem hingewiesen.7 Dieses zeigt sich zum Teil bereits plakativ in der

Titelge-am Beispiel der ›Deutschen Rundschau‹. Zum Problem der Integration österreichischer und schweizerischer Autoren in die deutsche Nationalliteratur«, in: IASL 24/1 (1999), S. 55–81; dies.,

»Von der ›trilateralen‹ Literatur zum ›unilateralen‹ Kanon: der Beitrag der Zeitschriften zur Homo-genisierung des ›deutschen Realismus‹«, in: Michael Böhler (Hg.), Kulturtopographie deutschspra-chiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Diff erenz, Tübingen 2002, S. 71–86; Günter Butzer, »Von der Popularisierung zum Pop. Literarische Massenkommu-nikation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe, Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 115–135; Manuela Günter, Im Vor-hof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2008.

4 Vgl. dazu Gerhart von Graevenitz, »Memoria und Realismus. Erzählende Literatur in der deut-schen ›Bildungspresse‹ des 19. Jahrhunderts«, in: Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hg. un-ter Mitwirkung von Reinhart Herzog), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, S. 283–

304.

5 Vgl. dazu Daniela Gretz (Hg.), Medialer Realismus, Freiburg i. Br. 2011.

6 Wilhelm Raabe, Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge [1867], in: ders., Sämtliche Werke, Braunschweiger Ausgabe, hg. von Karl Hoppe, Bd. 7, hg. von Werner Röpke, Göttingen 1969. In der Folge zitiere ich aus dieser Ausgabe direkt mittels der Sigle ›BA‹ und der Angabe der Seitenzahl in Klammern. Erstdruck in: Über Land und Meer 18 (1867), Nr. 33–52.

7 Vgl. Anm. 2.

Wilhelm Raabes Abu Telfan (1867) 199 bung der Zeitschriften, explizit wie bei Über Land und Meer und Vom Fels zum Meer oder implizit wie bei Universum und Die illustrierte Welt. Selbst in Blättern, die im Titel emphatisch eine spezifi sch deutsche Öff entlichkeit adressieren, wie die Garten-laube oder der Deutsche Hausschatz, zeichnen sich Prospect und Programm durch den enzyklopädischen Anspruch aus, gleichermaßen belehrend wie unterhaltend das gesamte Weltwissen der Gegenwart zusammenzufassen. Bei der Repräsentation dieses Wissens kommt dem Medium Literatur übrigens insofern eine Sonderstel-lung zu, als es geeignet scheint, den programmatischen Wahlspruch der Zeitschrif-ten, die »Wissenschaft‚ lebendig zu machen, sie in’s Leben zu tragen!«8 gleich dop-pelt umzusetzen. Zunächst einmal, indem Wissen aller Art in den Zeitschriften generell in allgemeinverständlicher, »novellistischer« oder »feuilletonistischer« Form präsentiert und somit gewissermaßen ›literarisiert‹ wird. Darüber hinaus nehmen die im engeren Sinne literarischen Texte häufi g unterschiedliche Wissensbereiche und Diskursformen der Zeitschriften in sich auf und führen deren mannigfaltige Anwendungs- und Deutungsmöglichkeiten im ›realen‹ Leben verdichtet anhand

›realistischer‹ Lebensläufe vor, wobei der so erzielte Realitätseff ekt paradoxerweise nur konstruktiv mit literarischen Mitteln im Medium der Fiktion erzeugt werden kann. Die so angedeutete Sonderstellung der Literatur dokumentiert sich vielleicht auch darin, dass am Anfang der Zeitschriften meist Romane oder Novellen im Fort-setzungsdruck stehen, während sich das in der Regel in kürzerer Form feuilletonis-tisch aufbereitete polifeuilletonis-tische, technische, wirtschaftliche, medizinische, anthropolo-gische, geographische und ethnographische Wissen der Zeit weiter hinten in den Blättern fi ndet.9 Aufschlussreich für den prinzipiellen strukturbildenden Zusam-menhang von Eigenem und Fremden in den Zeitschriften sind jedoch vor allem die Titelvignette von Über Land und Meer (Abb. 1) und die Titelillustration von Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte (Abb. 2). Beide illus-trieren gleichermaßen die Programme der Zeitschriften, indem sie eine Weltkugel als Symbol des durch die Zeitschrift repräsentierten Kosmos des Wissens und des modernen globalisierten Wissenstransfers ins Zentrum rücken, wobei dies jeweils rechts und links mittels der kontrastiven Gegenüberstellung von Burgruine und Py-ramiden bzw. exotischen Palmen und heimatlichem Wald kommentiert wird, wo-durch zugleich die Bandbreite des zusammengestellten Wissens angedeutet wird.

8 Westermann’s Jahrbuch der Illustrierten Deutschen Monatshefte 1 (1857), Vorwort, S. V.

9 Marktökonomische Argumente, dass der Fortsetzungsdruck der literarischen Texte über den die-sen inhärenten Spannungsaufbau geeignet sei, eine stetige Leserbindung zu etablieren und die in eine ähnliche Richtung zielende Feststellung Butzers (im Rekurs auf Eva Becker), die Frontautoren seien als Marken entscheidende Werbeträger für die einzelnen Blätter gewesen (Günter Butzer,

»Mit Kanones auf Raabe schießen. Zur Vorgeschichte der Kanonisierung Wilhelm Raabes«, in:

Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2007, S. 23–47, hier S. 31), können meiner Meinung nach sehr wohl ergänzend zur Plausibilisierung der Frontstellung der Literatur in den Blättern herangezogen werden, sind aber allein noch keine hinreichenden Begründungen für die angesprochene Sonder-stellung der Literatur in den Zeitschriften.

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Damit wird hier ikonographisch bereits der Afrikadiskurs der Zeit in seiner kontra-punktischen Funktion angesprochen.

Diese werde ich nun kurz und primär anhand von Material aus Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte näher beleuchten. Für diese Aus-wahl gibt es neben pragmatischen Überlegungen auch eine Reihe von systemati-schen Beweggründen: Zunächst die Tatsache, dass es sich bei Westermann’s Monats-heften um ein Blatt handelt, das ursprünglich eine programmatisch wissenschaftliche Ausrichtung und insbesondere einen geographischen Schwerpunkt hatte und zu-gleich ein exklusives, spezifi sch bildungsbürgerliches Publikum ansprechen wollte, was dazu führte, dass eine Reihe renommierter Autoren, zu denen auch Wilhelm Raabe gehörte, ihre Texte regelmäßig hier publizierten. Da es sich bei dieser Mo-natsschrift lange Zeit um Raabes primäres Publikationsorgan und damit auch seine vorrangige Erwerbsquelle gehandelt hat, ist zudem davon auszugehen, dass ihm die hier veröff entlichten Artikel bekannt waren.10 Auch wenn es mir in der Folge eher um das prinzipielle Argument geht, dass der Publikationskontext Zeitschrift als Motor der gesellschaftlichen Realitätskonstruktion sich inhaltlich wie strukturell auf die literarischen Texte des Realismus auswirkt, als darum, Raabes konkrete Quellen zum Afrikadiskurs der Zeit zu benennen und off enzulegen.

10 Vgl. dazu auch Ulrike Koller, Wilhelm Raabes Verlegerbeziehungen, Göttingen 1994. Jüngst auch Brian Tucker, »Raabe, Westermann, and the International Imagination«, in: Göttsche/Krobb (Hg.), Wilhelm Raabe, S. 25–37.

Abb. 1: Titelvignette der Zeitschrift Über Land und Meer