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Philipp Felsch (Berlin)

»Wie er sich räuspert und wie er spuckt, Das habt Ihr ihm glücklich abgeguckt!«

Carl Vogt, Schiller zitierend, 1870 Im Humboldt-Jahr 1869, als Deutschland den hundertsten Geburtstag und den zehnten Todestag Alexander von Humboldts beging, trug der Naturforscher und Asienreisende Robert von Schlagintweit seinen Teil zu der üppig sprudelnden Lite-ratur über den verstorbenen »Altmeister der Wissenschaft« bei. In der Kölnischen Zeitung veröff entlichte er einen langen Artikel über »Züge aus dem Leben Alexan-der von Humboldt’s«. Er konnte sich dabei auf eigene Anschauung stützen. Zu-sammen mit seinen Brüdern hatte Schlagintweit »das unschätzbare Glück« gehabt, wie er schrieb, die Bekanntschaft des »großen Mannes« zu machen und ihn in des-sen letzten Lebensjahren oft in Berlin zu erleben. Jetzt wucherte er mit diesem Pfund. Er schrieb er über Humboldts Vorliebe für hohe und steife Halsbinden;

über seinen infl ationären Gebrauch des Wörtchens »davon« – »Wir müssen uns in diesen Gegenstand vertiefen davon!« –; oder verriet die Wendung, die Humboldt benutzte, um unliebsame Besucher loszuwerden – »Mein Lieber, jetzt muß ich Sie aber davonjagen.«1

Ob Schlagintweit diesen Satz selber öfter zu hören bekam? Es fällt jedenfalls auf, wie hoch er den Rangunterschied zwischen Humboldt und der eigenen Existenz ansetzt. Nur verstohlen wagte er es, Ereignisse aus dem Leben von sich und seinen Brüdern einzuschmuggeln: die große Indienreise von 1854 bis 1857, die die Schla-gintweits bekannt gemacht hatte; die Enthauptung Adolphs im zentralasiatischen Kashgar durch einen örtlichen Warlord; oder die Ausstellung der riesigen indischen Sammlungen nach der Rückkehr der überlebenden Brüder Hermann und Robert.

Ich komme darauf ausführlicher zurück.

Ein Jahr später, 1870, entgegnete der Demokrat, Materialist und Biologe Carl Vogt auf Schlagintweits Memoiren mit einer beißenden Replik. Vogts Unwillen galt einer Humboldt-Verehrung, die sich längst von den wissenschaftlichen Meri-ten des preußischen Weltreisenden abgekoppelt hatte, um stattdessen in

1 Alle Zitate aus Robert von Schlagintweit, »Züge aus dem Leben Alexander von Humboldt’s«, in:

Kölnische Zeitung, 14. September 1869.

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sen persönlichen Details zu schwelgen. Roberts Artikel stellte für ihn den Gipfel dieser fehlgeleiteten Bewunderung dar. »Kennen wir doch erst jetzt Humboldt recht«, spottete Vogt,

seitdem wir den deutschen Mann in seiner innersten Häuslichkeit gesehen, seitdem wir erfahren haben, wann er den Frack und zu welcher Stunde nach mittlerer Berliner Zeit er die Halsbinde, die weiße, umlegte. Th at er dasselbe auch, wenn er in Paris war, zu derselben Stunde, oder trug er der Längen-Diff erenz zwischen beiden Metropolen der Intelligenz Rechnung? Diese Frage scheint mir außerordentlich wichtig.2

Schlagintweit selbst, der die Halsbinden-Anekdote in die Welt gesetzt hatte, kan-zelte Vogt als »Tiroler Handschuhkrämer« ab, seine intellektuelle Finesse verglich er, auf die Asienreise anspielend, mit »indischen Elephantenfüßen«. Ein Wissen-schaftler von eigenen Verdiensten, so scheint es, war der bayrische Naturforscher in Vogts Augen nicht.

Es ist deutlich, in welchem diskursiven Feld wir uns bewegen: Robert von Schlag-intweit steuerte Materialien zur Phänomenologie eines »großen Mannes« bei. Carl Vogt schalt den Autor dieser epideiktischen Zeilen als dessen Schatten. Schon frü-her hatte ein skeptiscfrü-her Zeitgenosse mit erhobenen Brauen bemerkt, welch

»großen Eindruck« Humboldt off enbar auf die Schlagintweits mache.3 Und Hum-boldt selbst ließ einmal die unschöne Bemerkung fallen, er habe die Brüder

»abgerichtet«.4 Im Sprachgebrauch der Zeit haben wir es unzweifelhaft mit Epi-gonen zu tun. Der Autor Karl Immermann hat den Begriff in die Literaturge-schichte eingeführt, als er seinen 1836 publizierten Roman Die Epigonen nannte.

Seither trägt das griechische Wort, das in der thebanischen Legende nicht mehr als

›Nachkommen‹ meint, seinen pejorativen Beigeschmack.5 Im 19. Jahrhundert bildete es das Gegenstück zu den Großen Männern, es rekurrierte auf die Situation der deutschen Literatur nach Goethe. Immermann, der sich vom Erbe der Klassi-ker erdrückt fühlte, erzählte die Geschichte von zwei Vettern, die das schwierige Erbe ihrer Väter ausbaden müssen. Während der eine an den Verwicklungen zu-grunde geht, kommt Hermann, die Hauptfi gur, mit einer langen Krankheit davon.

»Wir sind Epigonen«, heißt es im Roman, »und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenschaft anzukleben pfl egt«.6 In Bezug auf die Schlagintweits wird Immermanns Stoff eine kuriose Pointe abgeben. Für die Zeitgenossen mag

2 Zitiert nach Hanno Beck (Hg.), Gespräche Alexander von Humboldts, Berlin 1959, S. 261.

3 Anonyme Randnotiz auf einem Brief Alexander von Humboldts an Hermann und Adolph Schla-gintweit, August 1852, Staatsbibliothek Berlin, Nachlass Humboldt, K. 2, M. 4, Nr. 20.

4 Alexander von Humboldt im Gespräch mit Varnhagen von Ense, zitiert nach Beck, Gespräche, S. 389.

5 Vgl. die klassische Untersuchung von Manfred Windfuhr, »Der Epigone. Begriff , Phänomen und Bewusstsein«, in: Archiv für Begriff sgeschichte 5 (1959), S. 182–209.

6 Zitiert nach ebd., S. 186.

Das paradigmatische/epigonale Leben der Brüder Schlagintweit 115 dings Goethes Eckermann näher gelegen haben, eine besonders prominente Epigo-nenfi gur.7 Der Verdacht liegt nahe, dass ein Carl Vogt die Brüder Schlagintweit als Alexander von Humboldts Eckermänner betrachtete. Das Gefühl, in einem epigo-nalen Zeitalter zu leben, beschränkte sich nämlich nicht auf die Literatur. Wenn Karl Marx in seinem berühmten Essay über Louis Bonaparte erklärte, alle Ereignis-se und Personen der Weltgeschichte kämen zweimal vor: das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce, dann verlieh er einem verbreiteten Zeitgefühl Ausdruck.8

Man könnte den Eindruck bekommen, Marx habe sein berühmtes Diktum auf die Kollektivbiographie der Schlagintweits gemünzt. Das Leben der Brüder war von dem merkwürdigen Drang geprägt, Alexander von Humboldt zu wiederholen.

Als Söhne eines renommierten Augenarztes werden Hermann, Adolph und Robert Schlagintweit zwischen 1826 und 1833 in München geboren. Sie lesen Humboldts Bücher, lernen Humboldt selbst kennen und werden unter dem Eindruck dieser Erlebnisse das, was man damals ›Naturforscher‹ nennt. Im Auftrag der englischen East India Company bereisen sie Indien und Zentralasien von 1854 bis 1857, um geomagnetische Messungen durchzuführen. Adolph, der mittlere Schlagintweit, wird in Kashgar ermordet, sein Kopf soll später unter den Habseligkeiten eines per-sischen Händlers aufgetaucht sein. Hermann und Robert werden nach ihrer Rück-kehr vielfach geehrt und ausgezeichnet. Anschließend trennen sich ihre Wege:

Hermann, malariakrank, kauft ein preiswertes Schloss bei Bamberg und zieht sich zurück, um die Auswertung der Aufzeichnungen und der riesigen Sammlung in Angriff zu nehmen. Er beginnt ein englisches Reisewerk und bricht es nach vier Bänden ab. Er beginnt ein deutsches Reisewerk und bringt es mit Müh und Not zu Ende. 23 Jahre nach der Rückkehr aus Indien erscheint der letzte Band. Nichtsdes-totrotz ist Hermann fi nanziell und gesundheitlich ruiniert. Schloss Jägersburg muss verkauft werden, die Sammlung wird über Museen in München, Berlin und Lon-don verstreut, und der hoch dekorierte Naturforscher stirbt 1882 mittellos in einer Münchner Mietwohnung. Als letzten Dienst an der Wissenschaft vermacht er sein Hirn der Anatomischen Anstalt für die Sammlung von Hirnen berühmter Männer.

Während Hermann einer schleichenden Erschöpfung zum Opfer fällt, zeigt Ro-bert, der jüngste Bruder, Symptome von Rastlosigkeit. Eine Geologie-Professur, die er in Gießen besetzen darf, lässt ihn unbefriedigt. Er beginnt, öff entliche Vor-träge über die Indienexpedition zu halten, und reist in dieser Funktion mehrfach in die USA. Seine letzten Lebensjahre sind von einer geradezu manischen Publika-tionstätigkeit geprägt; das Th ema, dem er mehrere nahezu unlesbare Bücher wid-met, ist das amerikanische Eisenbahnwesen. 1885, im Alter von nur 52 Jahren, stirbt auch er ohne Nachkommen zu hinterlassen als letzter der drei Schlagintweits.

7 Vgl. Marcus Hahn, Geschichte und Epigonen. ›19. Jahrhundert‹ / ›Postmoderne‹, Stifter / Bernhard, Freiburg i. Br. 2003, Kap. 1.

8 Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek, Die Ästhetik der Epigonalität. Th eorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert. Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche, Tübingen 2001, S. 90.

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Das stimmt nicht ganz, denn es gibt einen vierten, jüngeren Bruder, Emil, der ebenfalls in den Sog der indischen Sammlung gerät. Während Hermann auf Schloss Jägersburg residiert, beginnt Emil, die tibetanischen Artefakte und Handschriften zu studieren, bildet sich autodidaktisch zum Tibetkenner aus und schreibt ein Buch über tibetanischen Buddhismus, das Helena Blavatsky inspiriert haben soll.

Emil scheitert beim Versuch, eine Professur zu erlangen. Er fristet sein Leben als kleiner bayrischer Verwaltungsbeamter.9

Historisch aufschlussreich wird der Fall Schlagintweit dadurch, dass er keineswegs einzigartig ist, sondern ein Generationsphänomen zuzuspitzen scheint. Gerade unter deutschsprachigen Naturforschern stößt man im 19. Jahrhundert immer wieder auf Varianten einer Humboldt-Mimikry, die die bayrischen Brüder lediglich in besonders konsequenter Form praktizierten: Der typische Forschungsreisende tourte ausgiebig durch die Tropen und verlor seine anfänglichen Spezialinteressen dabei vielfach aus den Augen. Er trug enzyklopädische wissenschaftliche Sammlungen zusammen, de-ren systematische Ordnung sich oft als prekär erwies. Er verfasste monumentale Rei-seberichte, die »Lawinen gedruckter Zahlen« inkorporieren mussten.10 Daher hatte er mit großen, zum Teil unüberwindlichen Kompositionsschwierigkeiten zu tun. Er war visuell experimentierfreudig und hantierte mit allen verfügbaren Bildmedien.

Zur zeitgenössischen Professionalisierung der Wissenschaft in den deutschsprachi-gen Universitäten schließlich ging er nach Möglichkeit auf Distanz.

Was diese Muster so auff ällig und erklärungsbedürftig macht, ist die Tatsache, dass sie keiner klaren theoretischen Intention geschuldet waren. Vielmehr besaßen sie zugleich epistemische, ästhetische und ethische Motive, die zuletzt durch die Person Alexander von Humboldts gedeckt wurden: Auch Humboldt war lange in den Tropen gewesen, auch er hatte sein Augenmerk auf universale Wechselwirkun-gen gerichtet, hatte drei Jahrzehnte mit der Publikation seiner Reiseergebnisse ge-kämpft und war allen disziplinären Festlegungen nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. In den Händen seiner Nachfolger erwies sich dieses Erbe als hoch pro-blematisch. Vielleicht gibt es so etwas wie eine Generation von tragischen Hum-boldtianern. Der epische Reisebericht, eines der erfolgreichsten Wissenschaftsgen-res der Aufklärung, geriet in ihren Händen in die Krise. In den Romanen Karl Mays, der sich mit seinen langatmigen Landschaftsschilderungen als gelehriger Humboldt-Leser erweist, feierte er eine späte Auferstehung im Reich der Fiktion.

Was könnte all das für die ›Humboldtian science‹ bedeuten, die die Wissen-schaftshistorikerin Susan Faye Cannon als eines der einfl ussreichsten

9 Die beste, für die folgenden Ausführungen maßgebliche Untersuchung zu Leben und Werk der Schlagintweits ist Gabriel Finkelstein, »›Conquerors of the Künlün‹? Th e Schlagintweit Mission to High Asia, 1854–57«, in: History of Science 38 (2000), S. 179–218.

10 Zur Proliferation von Messverfahren im 19. Jahrhundert und der damit einhergehenden ›ava-lanche of printed numbers‹ vgl. Ian Hacking, »Biopower and the Ava›ava-lanche of Printed Numbers«, in: Humanities in Society 5 (1982), S. 279–95.

Das paradigmatische/epigonale Leben der Brüder Schlagintweit 117 chen Paradigmata des 19. Jahrhunderts ausgemacht hat?11 Th omas Kuhn zufolge besteht ein Paradigma ja gerade nicht in einer Th eorie oder einem expliziten Regel-katalog, sondern in konkreten, oft personifi zierten wissenschaftlichen Exempeln.

Nicht umsonst sind die Beispiele, die er gibt, mit den Eigennamen ihrer Gründer-väter benannt: Ptolemäische Astronomie, Newton’sche Dynamik – oder eben Humboldt’sche Wissenschaft.12 »Wissenschaftler arbeiten nach Vorbildern«, heißt es bei Kuhn, »oft ohne genau zu wissen oder auch wissen zu müssen, welche Eigen-schaften diesen Vorbildern den Status von Gemeinschafts-Paradigmata gegeben haben.«13 Das gilt sicherlich für die tragischen Humboldtianer – und ist dennoch zu eng gedacht. Denn Kuhn und auch Cannon hatten zwar keine ausformulierten Th eoriegebäude, aber immer noch »Forschungsprobleme und -verfahren« – und nichts anderes – im Sinn, wenn sie darüber Auskunft gaben, woraus ein Paradigma konstituiert sei.14 An Alexander von Humboldts Wirkungsgeschichte, wie sie sich im Fall Schlagintweit dokumentiert, geht diese Perspektive vorbei. Dazu war der Einfl uss des preußischen Weltreisenden viel zu umfassend. »Jeder strebsame Gelehr-te«, schrieb der Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond 1849, »ist Humboldt’s Sohn.«15 Der Vorwurf Carl Vogts und anderer Zeitgenossen kann in gewisser Weise als stichhaltig betrachtet werden: Anstatt mit einem Kuhn’schen Paradigma schei-nen wir es eher mit einem Goethe-Phänomen zu tun zu haben, mit einem ›großen Mann‹ und dessen ›Epigonen‹. Doch macht es Sinn, auf dem Feld der Wissenschaft, das sich spätestens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Kunst und der Literatur getrennt hatte, von ›Epigonen‹ zu sprechen? Wo der wissenschaftliche Normalbetrieb doch, Kuhn zufolge, jetzt gerade darin bestand, paradigmatischen Vorbildern zu folgen? Stellt die Humboldt’sche Wissenschaft demnach einen Son-derfall dar? Diese und ähnliche Fragen stehen im Hintergrund meiner vorerst nur kursorischen Ausführungen über die Brüder Schlagintweit.

Humboldts Söhne

Das Frühjahr 1848 muss man sich speziell in München als eine Art Mai 68 vorstel-len: Lange, drückende Restaurationsjahre entluden sich in einer Studentenrevolte, die mit der Vertreibung der königlichen Mätresse Lola Montez begann, mit der Schließung der Universität ihren Lauf nahm und mit der Abdankung Ludwigs I.

endete. Als Studenten der Münchner Universität befanden sich die Schlagintweits

11 Vgl. Susan Faye Cannon, »Humboldtian Science«, in: dies., Science in Culture. Th e Early Victorian Period, New York 1978, S. 73–110.

12 Vgl. Th omas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 21976, S. 25 f.

13 Ebd., S. 60.

14 Ebd., S. 59.

15 Estelle Du Bois-Reymond (Hg.), Zwei grosse Naturforscher des 19. Jahrhunderts. Ein Briefwechsel zwischen Emil Du Bois-Reymond und Karl Ludwig, Leipzig 1927, S. 61.

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theoretisch im Zentrum dieses Geschehens. Wir fi nden sie jedoch mit etwas ganz anderem beschäftigt. Während im Inland die Revolution tobt, erscheint in der Zeitschrift Das Ausland eine Artikelserie der Brüder über die Alpen. In Tirol, schreiben sie, wären sie erstmals bis zu jener »Gränze« vorgerückt, »welche das Be-kannte vom UnbeBe-kannten trennt«, um die dahinter liegende Bergnatur zu erfor-schen.16 Schon in jungen Jahren, so scheint es, hatten sich die Brüder gegen die Ge-sellschaft und für die Natur entschieden – im bleiernen deutschen Vormärz vielleicht keine ganz ungewöhnliche Option. Ein Brief aus dem Sommer 1842, den der damals sechzehnjährige Hermann von seiner ersten längeren Alpentour an die Eltern schrieb, zeigt ihn bereits als Verächter von »prächtig gekleideten Städtern, Herren mit Federhüten und Fracks, Damen in Samt und Seide, die mit der einfach erhabenen Pracht der Natur, die uns hier umgibt, einen lächerlichen Kontrast bilden«.17 Adolph, der Hermann begleitete, war gerade 13 Jahre alt.

Es ist gut möglich, dass die Brüder bereits zu diesem Zeitpunkt unter dem Ein-fl uss Alexander von Humboldts standen. Humboldts leserfreundlichstes Buch, die Reise in die Äquinoktialgegenden des Neuen Kontinents, war 1832 erschienen, die gro-ßen Atlanten und Studien zur Pfl anzengeographie lagen vor, und 1845 kam der er-ste Band des Kosmos in den Buchhandel. Früher oder später müssen die Schlagint-weits diese Texte verschlungen haben. Die Untersuchungen über die physicalische Geographie der Alpen jedenfalls, die Adolph und Hermann 1850 veröff entlichten, ist das Werk zweier lupenreiner Humboldtianer. In großem Rundumschlag versam-melt das Buch glaziologische, geologische, meteorologische und pfl anzengeographi-sche Untersuchungen. Robert, der jüngste Bruder, der im zweiten Band dazu stieß, nahm sich auf eigenen Faust den Wilden Kaiser vor: ein gut situierter Münchner Teenager, der seinen Sommer damit verbrachte, Flussläufe zu kartieren, Steine zu sammeln und Gletschereis zu beschreiben. Das ist die Faszination, die von Alexan-der von Humboldt ausging. Es scheint nur konsequent, dass die Untersuchungen ih-rem ›spiritus rector‹ gewidmet sind. Schon in der Einleitung wird deutlich, an wel-chem Vorbild sich die Brüder maßen. Ihre Entschuldigung für die »Unvollständigkeit«

ihrer Beobachtungen – Schuld daran seien die »Ausdehnung des Gebirges« und das unüberschaubare »Zusammenwirken[...] verschiedener Ursachen« – zeigt im Um-kehrschluss, dass es um Vollständigkeit und kosmische Allesdurchdringung ging – die großen Leitlinien, aber auch die Fallstricke Humboldt’scher Wissenschaft.18

Das Schreiben scheint den Schlagintweits nicht eben leicht gefallen zu sein. In einem Brief aus der Zeit klagte Hermann über die »nur langsam fortschreitende

16 N.N., »Schilderungen aus den Hochregionen der Alpen«, in: Das Ausland. Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker 164 (1848), S. 655.

17 Zitiert nach Hans Körner, »Die Brüder Schlagintweit«, in: Claudius C. Müller, Walter Raunig (Hg.), Der Weg zum Dach der Welt, Innsbruck 1982, S. 62–75.

18 Adolph und Hermann Schlagintweit, Untersuchungen über die physicalische Geographie der Alpen, Leipzig 1850, S. vi.

Das paradigmatische/epigonale Leben der Brüder Schlagintweit 119 Arbeit«.19 Trotz allem machten sich die Brüder rasch einen guten wissenschaftlichen Namen. Zum Zeitpunkt der Veröff entlichung ihres ersten Folianten waren sie be-reits in der ›scientifi c community‹ von Berlin etabliert. Kein Geringerer als Hum-boldt selbst spielte die Rolle ihres Mentors. Nach ihrem Umzug in die preußische Metropole hatte er sie 1849 als »gründlich gelehrte« Naturforscher kennen gelernt.20 Er empfahl sie den Königen von Preußen und Bayern. Er verglich ihre Forschungen mit denen des berühmten Alpenpioniers Horace Bénédicte de Saussure.21 1854 schließlich ermöglichte er ihnen das, was ihm selbst nicht vergönnt gewesen war:

eine Forschungsreise nach Indien und Zentralasien.22 Durch Humboldts tätige Pro-tektion bekamen die Schlagintweits von der englischen East India Company den Auftrag, magnetische Messungen auf dem Subkontinent durchzuführen.